PRAXIS
(Neo-)Koloniale Körperkonstruktionen, Rassismus und feministische Theologie
„Unsere Körper als indigene Frauen stehen an vorderster Front der alltäglichen Angriffe. Und es ist kein Zufall, dass wir in Mexico und Guatemala gemeinsam mit Honduras weltweit an erster Stelle stehen, was Frauenmorde anbelangt“ (López), so Lorena Cabnal, die dem indigenen Volk der Maya Xinca angehört und eine der bekanntesten lateinamerikanischen Vertreter*innen indigenen Feminismus ist. Indigene Frauen erfahren eine vielfache Unterdrückung aufgrund ihres Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit und sozialen Klasse. Sandra Lassak
Diese Verstrickung von Unterdrückungskategorien beschränkt sich nicht auf nationale Kontexte, sondern ist Teil des kapitalistischen Weltsystems, welches in der Kolonialzeit grundgelegt wurde. Bis heute prägt die Verschränkung von Sexismus und Rassismus durch das patriarchal kolonial-kapitalistische System ganze Gesellschaften und Nationen ebenso wie internationale (Wirtschafts-)Beziehungen und die internationale Arbeitsteilung. In den kolonialen (Körper-) Konstruktionen spielten Theologie und Kirche eine wesentliche Rolle, standen sie doch im Dienst des kolonialen Projektes. Vor diesem Hintergrund erweist es sich seit einigen Jahrzehnten besonders für feministische Theologie als eine wesentliche Aufgabe, die Verwobenheit und Verantwortung von Theologie in der Rechtfertigung sexistischer und rassistischer Strukturen kritisch zu analysieren, zu dekonstruieren und Ansätze antisexistischer, antirassistischer und antikolonialer Theologien aufzuzeigen.
RASSISTISCHE (KÖRPER-) KONSTRUKTIONEN IM KOLONIALISMUS
Der peruanische Soziologe Aníbal Quijano analysiert, wie im Zuge des Kolonialismus die soziale Segregation nach vermeintlichen ‚Rassen‘ entstand als „eine mentale Konstruktion die Grunderfahrung kolonialer Herrschaft zum Ausdruck bringt und die seitdem die wichtigsten Dimensionen weltweiter Herrschaft durchdringt, einschließlich ihrer spezifischen Rationalität, dem Eurozentrismus“ (Quijano, 201). Im Zuge der weltweiten kolonialistischen Expansion wurde eine soziale Klassifizierung aufoktroyiert, die nach Quijano zur Folge hatte, dass neue soziale und historische Identitäten konstruiert wurden: Gelbe und Olivfarbene neben Weißen, Indios, Schwarzen und Mestizen (vgl. Quijano, 205). Deshalb ist es unerlässlich in der Analyse von Unterdrückungsverhältnissen auch die Kategorie race zu berücksichtigen, um so die Komplexität von kapitalistisch patriarchalen Produktionsverhältnissen, Rassismus, Kolonialismus und Heteronormativität theoretisch zu erfassen. Besonders an weiblichen sowie ‚feminisierten‘ Körpern, wie z. B. denjenigen indigener Menschen, manifestieren sich bis heute Gewalt, Missbrauch, Ausbeutung, Manipulation, Kontrolle ebenso wie ideologisch überfrachtete Idealisierungen – Folgen der mehr als fünfhundertjährigen Kolonialgeschichte.
Sandra Lassak
Dr. theol., war 7 Jahre in Peru in der theologischen Erwachsenenbildung, insbesondere im Bereich feministischer Theologie und Gewaltprävention bei Frauen und Mädchen tätig; seit Anfang 2020 Referentin für theologische Grundfragen bei Misereor.
In der Kolonialzeit ging sozusagen die koloniale Praxis der Vertreibung der indigenen Bevölkerung von ihren Territorien einher mit einer politischen Strategie der Ent-Maskulinisierung der indigenen Bevölkerung in dem Sinne, dass diese als untergeordnete Völker betrachtet wurden ohne Autonomie und eigene Rechte. Indigene Völker und Frauen wurden behandelt wie Minderjährige, Wesen, die kontrolliert und überwacht werden mussten und ständig der Gefahr ausgesetzt waren, vergewaltigt zu werden sowohl im metaphorischen als auch im ganz realen Sinne. Diese koloniale Denkweise feminisierte ganze Bevölkerungsgruppen und war konstitutiv für die Moderne, woraus sich ihre misogyne und ethnozide Gewalt erklärt. Dieses kolonialisierte Konzept des indigenen und des feminisierten Amerikas ‚legitimierte‘ die Enteignungen der Körper und der Territorien. In diesem Sinne impliziert die Reflexion über indigene Frauen ausgehend von der Kategorie Körper-Territorium von einem Körper her zu denken, der zweifach feminisiert wurde: zum einen, weil es ein weiblicher Körper (mit weiblichen Geschlechtsteilen) ist und zum anderen ein indigener.
Körper als hermeneutische Schlüsselkategorie bezieht sich aber auch auf den planetarischen ‚Körper‘, die Erde, die Natur und die Rehabilitierung eines Bewusstseins, welches diesen nicht nur als Ressource versteht. Die koloniale Konstruktion von Natur als wilden unzivilisierten Raum diente als ideologische Legitimation der maßlosen durch die europäische Habgier angetriebenen Ausbeutung der dortigen Bodenschätze. Die Ausplünderung der Erde und derjenigen, die auf ihr wohnen, ist innerster Kern der Kapitalakkumulation, der in der Kolonialzeit seinen Ausgangspunkt nahm und sich bis in das heutige Gewaltsystem des globalisierten Kapitalismus fortsetzt.
DAS KOLONIALE ERBE DER THEOLOGIE
Durch ihre theologischen Traditionen hat die Kirche dazu beigetragen, die Ideologie der herrschenden Klassen – insbesondere in Bezug auf Frauen und andere ‚feminisierte Körper‘ – zu stärken. Die Idealisierung eines an Maria orientierten jungfräulichen und mütterlichen Frauenbildes bedeutete für Frauen Verzicht, Unterwürfigkeit und ein auf häusliche und familiäre Pflichten reduziertes Leben, reglementiert durch männliche Kontrolle. Damit einher ging eine Abwertung alles mit Sünde assoziierten Körperlichen. So stand dem Ideal der reinen, tugendhaften Frau das zur Sünde verführende weibliche Geschlecht personifiziert in der Figur der Eva und ihrer Verteufelung als Hure, Verführerin und Sünderin gegenüber. Frauen, die den ihnen zugeschriebenen häuslichen Rahmen verließen, wurden letzterer Kategorie von Frauen zugeordnet (vgl. Rausch, 182). Von Kultur und Spiritualität wurden Frauen weitestgehend ausgeschlossen oder nur in bestimmten Rollen und Funktionen zugelassen (vgl. Cardoso, 208f.). Der weibliche Körper wurde in der fünfhundertjährigen Eroberungsgeschichte gewaltsam enteignet, domestiziert und als „Gefäß der Erbsünde“ (Cardoso, 208) interpretiert. Mariologie war somit Bestandteil des kriegerischen und kämpferischen Charakters des iberischen und portugiesischen Katholizismus. Die Intention der Missionare bestand darin, soweit wie möglich die indigenen Religionen auszumerzen und eine homogene religiöse und politische Integration mit der Hegemonie des Christentums und der herrschenden politischen Macht zu erreichen (vgl. Gebara/Bingemer, 143). Die Abwertung und Beherrschung jeglicher Körperlichkeit bedeutete auch eine Degradierung der Natur und allem, was dieser zugeordnet wurde, wie z. B. weibliche und indigene Körper. Diese bereits in der antiken hellenistischen Philosophie existierende Idee der Dichotomie von Kultur und Natur wurde Grundlage für die nachfolgende westliche Philospohie- und Theologiegeschichte, die sich zur hegemonialen Sicht auf die Welt erhob und alle anderen Wirklichkeitsdeutungen, vor allem auch indigene Kosmologien, marginalisierte. Bis in die Zeit der europäischen Moderne und Aufklärung lässt sich diese Unterordnung alles Natürlichen unter das Geistige, des Körpers unter die Vernunft und die Übertragung dieser Wertehierarchie auf die Geschlechterordnung feststellen. So hatte der Katholizismus eine zentrale ideologische Funktion sowohl in Bezug auf ökonomische und politische Machtstabilisierung als auch auf die Konstituierung sozialer und familiärer Herrschaftsverhältnisse durch Disziplinierungs- und Normierungsprozesse des menschlichen Körpers und der Sexualität. Die christliche Religion spielte demnach eine wichtige Rolle bei der Etablierung eines Modells ökonomischer und politischer Ausbeutung sowie kultureller Unterdrückung. Sie konstruierte die entsprechenden ideologischen Grundlagen, um weiße männliche Vorherrschaft und weibliche Unterordnung als vermeintlich naturgegeben zu legitimieren.
Heute zeigt sich besonders im Bereich der Reproduktion zum einen wie weibliche Körper kontrolliert und reglementiert werden und die freie Entscheidung, wann, wie und ob eine Frau Mutter wird, eine Frage der Klasse und ‚Rasse‘ ist. Vor allem in der Frage nach den in vielen Ländern umstrittenen oder gar verbotenen Schwangerschaftsabbrüchen wird deutlich, wie weibliche Körper durch patriarchale Herrschaft mit deutlich religiös-fundamentalistischen Einflüssen beherrscht werden. Lateinamerika ist weltweit nicht nur die Region mit den meisten Frauenmorden, sondern auch mit den strengsten Abtreibungsgesetzen. Die nationalen frauenfeindlichen sowie homophoben Körperpolitiken werden gestützt von den Kirchen der verschiedenen Konfessionen.
ANTIKOLONIALE UND ANTIRASSISTISCHE FEMINISTISCHE THEOLOGIEN
Schon immer haben Frauen gegen die Aneignung ihrer Körper und die damit einhergehende Gewalt angekämpft ebenso wie gegen identitäre Zuschreibungen eines normativen Frauseins, welches zwangsläufig zur Unterwerfung führt.
Nach 500 Jahren Kolonialismus und der Erfahrung der Nicht-Wertschätzung ihrer Körper bedeutet es für lateinamerikanische, indigene und afro-amerikanische Frauen, die Wertschätzung und Würde ihres Körpers sowie die Souveränität über ihre Territorien wiederzubekommen. Schwarze, indigene und andere durch rassialisierte Zuschreibungen diskriminierte Subjekte kämpfen darum, die Kontrolle über ihren Körper, ihre Sexualität und Reproduktion, aber auch ihre Weltsichten, Kosmologien und Seinsweisen wiederzuerlangen. Das bedeute, so die italienische feministische Aktivistin und Schriftstellerin Silvia Federici, über den Körper hinauszugehen, „obwohl der Körper – wie die Frauen in Lateinamerika nachdrücklich bekräftigen – das primäre Terrain unserer Begegnung mit der Welt und das primäre Objekt unserer Verteidigung darstellen“ (Federici, 59). Feministischen Theologien, die sich als Teil der Frauen- und feministischen Bewegungen verstanden ging es von Anfang um die Veränderung von Lebenssituationen insbesondere von Frauen, die von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt geprägt waren. Im Fokus feministischer Theologien steht die Dekonstruktion männlicher Theologien, die im Dienst des sakralisierten klerikalen Patriarchats innerhalb der Kirche stehen. Bereits in den frühen Anfängen feministischen Theologietreibens wurde auf die Mehrdimensionalität von Machtverhältnissen hingewiesen. Elisabeth Schüssler Fiorenza, eine der Wegbereiterinnen feministischer Theologie weltweit, macht dies bspw. mit ihrer Kyriarchatskritik deutlich. Mit Kyriarchat führt Schüssler Fiorenza ein Konzept in die feministische Theologie ein, mit welchem die Vielschichtigkeit und Verwobenheit verschiedener Kategorien, die Herrschaftsverhältnisse konstituieren, analysiert werden können (vgl. Flatters). Für westliche feministische Theologien bedeutet dies gegenwärtig, sich mit der belasteten Geschichte christlich-westlicher patriarchaler und kolonialer Theologie auseinanderzusetzen, (selbst-)kritisch daraus resultierende Machtpositionen und kolonial-rassistische Strukturen wahrzunehmen und verändern zu wollen. In den letzten Jahrzehnten sind post- und dekoloniale feministische kontextuelle Theologien in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas entstanden, ausgehend von der Kritik, dass in der feministischen Theologie eine weiße privilegierte Position dominiere, die die Fragen nach Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus...