Verwundbar
eBook - ePub

Verwundbar

Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität

  1. 271 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Verwundbar

Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Die menschliche Verwundbarkeit ist von großem humanem Interesse. Aus diesem Grund entwickelt sie sich in den letzten Jahren interdisziplinär zu einem innovativen Forschungsthema. Welche Machtwirkungen entfaltet die Vulnerabilität in aktuellen Debatten um Migration und Terror, sexuellen Missbrauch und interkulturellem Diskurs? Inwiefern sind Wunden ein Ort der Kommunikation, insbesondere in Liebe und Zuneigung, Fürsorge und Zärtlichkeit?In einer fruchtbaren Kooperation führten die Würzburger Forschungsgruppe "Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz" und das DFG-Projekt "Verwundbarkeiten" mit weiteren Partnerinnen zwei Ringvorlesungen an der Universität Würzburg durch. Die vorliegenden Beiträge beleuchten aktuelle Themen der Verwundbarkeit jeweils im Duett aus einer theologischen und humanwissenschaftlichen Perspektive. So kommen Wissenschaften in einen gesellschaftlich relevanten Dialog.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Verwundbar von Hildegund Keul, Thomas Müller im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Theology & Religion & Religion. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Verlag
Echter
Jahr
2020
ISBN
9783429065195
II Liebe und Verletzlichkeit – die Wunde als Ort der Kommunikation
Familienbande – Wunden verbinden
Bereits in ihrer Herkunftsfamilie machen Menschen die Erfahrung, dass sie in sozialen Beziehungen verletzt werden und folglich verwundbar sind. Familienbande entfalten multiple, oft widersprüchliche Machtwirkungen. Sie können Sicherheit und Schutz, Liebe und Kreativität eröffnen, aber auch festbinden an schmerzliche Verletzungsgeschichten. In vielen Fällen werden Wunden dabei zu Orten der Kommunikation. Wunden verbinden? Der doppelten Bedeutung des Wortes gehen der Sonderpädagoge Thomas Müller und die Fundamentaltheologin Hildegund Keul nach.
Thomas Müller
Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat
Wir Menschen seien „in Geschichten verstrickt“ (Schrapp 2012), schreibt der Philosoph Wilhelm Schrapp und gibt damit einen ersten Hinweis darauf, dass Familienbande oft über Generationen hinweg unheilvoll miteinander verbunden sein können und entstandene Wunden aus lange zurückliegender Zeit ihre schmerzhafte Wirkkraft auch im Heute entfalten können. Zugleich deutet sich mit dem Titel dieses Beitrags aber auch an, dass es möglich sein kann, entstandene Wunden zu verbinden und so in einen Umgang mit diesen zu finden, wenn auch vielleicht nicht, diese zu heilen. Ob gerade Familienbande dabei hilfreich sind oder eher nicht, bleibt der Bewertung der Leserschaft überlassen.
1. Eine kurze Phänomenologie der Bindung
Folgt man den Bildern von Bindung und Verstrickung sprachlich weiter und materialisiert diese über Begriffe wie Faden, Schnur, Seil, Knäul oder Kette, so tut sich ein wahrer Kosmos an Redewendungen und Terminologien auf, die zeigen, welche existentielle Verwundbarkeit sich hinter den Fragen der vielfältigen Bindungen von Menschen verbergen. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Die Entbindung ist nach Zeugung und Heranwachsen im Mutterleib ein ganz entscheidender Moment im noch jungen, hoch vulnerablen Leben von Menschen.
Die Nabelschnur verbindet die Mutter mit ihrem Embryo. Es kann einem aber auch etwas die Luft abschnüren.
Man kann sich an jemanden binden ebenso, wie das Band zwischen zwei Menschen zerschnitten sein kann.
Die Bande bezeichnet Begrenzungen einerseits und eine Gruppenform andererseits.
Man kann sich nicht nur in Geschichten, sondern auch in Emotionen, Zwänge oder sich selbst verstricken.
Manche Menschen sind ähnlich gestrickt.
Es können alle Stricke reißen.
Man kann sich vom Leben im wahrsten Wortsinn entbinden, indem man sich den Strick nimmt.
Der Faden lässt sich verlieren, ebenso wie sich ein roter Faden durch das eigene Leben ziehen kann.
Bisweilen hängt etwas am seidenen Faden.
Manche Menschen sind geschickt darin, etwas einzufädeln oder gar die Fäden im Hintergrund zu ziehen.
Das Bild von Bindung und Entbindung, von Halten und Loslassen, von Sicherheit und Exploration ist so stark, dass es sogar einen Niederschlag im Gnadenbild „Maria Knotenlöserin“ in der Wallfahrtskirche St. Peter am Perlach in Augsburg gefunden hat.
Das Gebet zu Maria möge dazu führen, dass sie hilfreich dabei ist, die Knoten, die sich als scheinbar unlösbar in der Lebensschnur gebildet haben, zu lösen, und dazu beizutragen, dass das Leben wieder leicht und frei werden kann. Nicht zuletzt finden sich in allen großen Religionen Gebetsketten, Perlenschnüre o.ä., z.B. in Form des Rosenkranzes, welche auf Aspekte von Bindung und Entbindung verweisen.
2. Bindungstheorie ‚light‘ – Annahmen zur seelischen Bindung von Menschen
Schaut man genauer auf die Familienbande, so erscheint insbesondere der Blick auf die Bindungstheorie hilfreich, um sich der Frage anzunähern, inwieweit Wunden Familien verbinden bzw. inwieweit Wunden von Familien verbunden werden können. Die Bindungstheorie (Bowlby 2016) erklärt verschiedene Formen menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse über frühkindliche Erfahrungen und widmet sich damit stärker dem inneren Erleben von Kindern und weniger dem beobachtbaren Verhalten. Dabei spielt vor allem die Art und Weise, wie „feinfühlig“ (Ainsworth & Salter 1978) Eltern mit ihrem Kind umgehen, eine besondere Rolle, und infolge davon das Verhältnis von Sicherheitsempfinden und Explorationsbereitschaft. Die seelische Bindung wird als grundlegender emotionaler Bezug zwischen Menschen und zwischen Menschen und Umwelt angesehen. Sie geschieht meist unbewusst und basiert auf Erfahrungen mit Körperkontakt und Gefühlen. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass sich die seelische Bindung ab dem Zeitpunkt der Zeugung entwickelt und sich besonders bei und nach der Geburt ausprägt. Das ist auch der Grund, weshalb es üblich ist, dass Mütter ihr Baby sofort nach der Entbindung zum Aufbau einer sicheren Bindung auf die Brust gelegt bekommen.
Entscheidend ist, dass Eltern feinfühlig mit ihrem Kind umgehen und dabei seine Signale richtig lesen und angemessen beantworten. Dies bedeutet, das Kind weder unter- noch überzuversorgen, also weder zu vernachlässigen noch überzubehüten sind. Ein strenges oder genaues Maß gibt es dafür nicht. Entscheidend ist aus Sicht der Bindungstheorie, dass die Reaktionen der Eltern auf die Signale des Babys in einer angemessenen Frustrationszeit erfolgen. Die Gefahr, die stets besteht, ist, dass Signale falsch interpretiert, verzerrt oder umgedeutet werden und darüber beispielsweise eigene, elterliche Bedürfnisse auf das Kind übertragen werden – z.B. nach dem Motto: „Du sollst es mal besser haben als ich…“. Es wird angenommen, dass die Qualität der Bindung besonders in den ersten drei Lebensjahren von Bedeutung ist und sich nach und nach als Bindungsmuster verfestigt. Damit sind sehr frühe Bindungserfahrungen wesentlich dafür verantwortlich, wie im späteren Leben mit Gefühlen wie Liebe, Angst, Wut, Scham, Stolz usw. umgegangen werden kann.
Nachweisen kann man die Bindungsmuster von Kleinkindern durch den so genannten Fremde-Situations-Test, in dem in einer Experimentalsituation die Reaktion des spielenden Kindes auf die Trennung von der Mutter und die Reaktionen auf ihre Wiederkehr beobachtet wird. Dabei lassen sich Kinder im Normalfall einem von drei grundsätzlichen Bindungsmustern zuordnen.
„Sicher gebundene Kinder“ zeigen ein deutliches Bindungsverhalten, rufen nach der Mutter und sind stark gestresst. Auf ihre Wiederkehr reagieren sie mit Freude und wollen getröstet werden. Sie beruhigen sich schnell und können sich wieder ins Spiel vertiefen. „Unsicher-vermeidend gebundene“ Kinder reagieren auf die Trennung mit wenig Protest und spielen weiter. Sie wollen bei der Wiederkehr eher nicht getröstet werden und suchen keinen intensiven Körperkontakt. „Unsicher ambivalent gebundene Kinder“ zeigen großen Stress und weinen heftig. Sie lassen sich kaum beruhigen und tun sich schwer, ins Spiel zurückzufinden. Im Körperkontakt suchen sie Nähe, um getröstet zu werden, wehren sich zugleich aber auch, um ihre Wut zum Ausdruck zu bringen – nach dem Motto: ‚Wie konntest Du mir so etwas nur antun?‘. Dennoch gelten alle drei Bindungsstile als ‚normal‘ und sind auf unterschiedliche Erfahrungen der Kinder im Umgang mit ihren Eltern oder wichtigsten Bezugspersonen zurückzuführen.
Wachsen Kinder in Dauerstresssituationen auf oder erleben Traumatisches, wie beispielsweise Flucht, den Verlust von Heimat und Elternteilen, Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung oder psychische Misshandlungen, kann es zu einer Bindungsstörung kommen, die sich durch desorganisierte Verhaltensweisen ausdrückt. Ihr Bindungsmuster wird dann entweder als unsicher-vermeidend-desorganisiert oder als unsicher-ambivalent-desorganisiert bezeichnet (Crittenden 1995) und weist darauf hin, dass sie bei Stress keine geeigneten Verhaltensmuster zur Verfügung haben, um mit der Situation umgehen zu können und ihre Emotionen zu regulieren.
Kinder, die unsicher-vermeidend-desorganisiert gebunden sind, haben oft Erfahrungen der Vernachlässigung gemacht und früh gelernt, dass von Erwachsenen keine Sicherheit ausgeht, ganz im Gegenteil. Ihre „Erkenntnis“ lautet: auf Erwachsene kann man sich nicht verlassen, von ihnen geht Gefahr aus und man sollte sie am besten meiden. Sicher kann man sich nur fühlen, wenn man für sich selbst sorgt, alles selbst macht und kontrolliert.
Dagegen haben unsicher-ambivalent-desorganisierte Kinder oft die Erfahrung gemacht, dass nicht klar ist, ob sie sich auf Erwachsene verlassen können. Mal wurden ihre Signale angemessen beantwortet, dann wieder gar nicht. Ihre „Erkenntnis“ lautet: Man kann nicht wissen, ob man sich auf Erwachsene verlassen kann, deshalb ist es besser, die Beziehung zu Erwachsenen ständig zu prüfen und zu testen. Derart gebundene Kinder tun alles dafür, um die Aufmerksamkeit des Erwachsenen nicht zu verlieren und damit die Beziehung aufrechtzuerhalten – selbst, wenn sie dafür Strafe in Kauf nehmen müssen.
Untersuchungen (z.B. Julius 2009) zeigen, dass sich Kinder mit diesen Bindungsmustern vielfach in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen finden lassen, dass ihre Eltern oft selbst erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt sind oder traumatische Erfahrungen, beispielsweise durch Gewalterfahrungen oder Missbrauch, gemacht wurden. Wie aber äußern sich Bindungsstörungen?
Sie lassen sich nur schwer diagnostizieren oder eindeutig festschreiben, aber es lassen sich wichtige Hinweise im Verhalten von Kindern und Jugendlichen finden, die auf eine Bindungsstörung hinweisen können. Kinder, die unsicher-vermeidend-desorganisiert gebunden sind, fallen meist durch folgende Verhaltensweisen auf:
Sie zeigen kaum Verunsicherung oder Angst, was nicht heißt, dass diese nicht existieren.
Sie bestreiten zumeist, dass sie Hilfe durch die Erwachsenen benötigen und äußern dies auch, z.B. „Kann ich schon!“ oder „Brauch ich nicht!“ oder „Hab ich schon gemacht!“.
Die emotionale und körperliche Nähe Erwachsener wird nur schwer ausgehalten und abgelehnt. Ihnen geht es gut, wenn Erwachsenen ihnen nicht zu nahekommen.
Sie reagieren auf Anweisungen durch Erwachsene schnell aggressiv auf diese oder andere Personen, aus Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Ihre Leistungen im sprachlichen Ausdruck und im kreativen Denken sind eher eingeschränkt, weil sie sich wenig explorativ verhalten und (daher) kaum Übung haben.
Kinder, die unsicher-ambivalent-desorganisiert gebunden sind, fallen meist durch folgende Verhaltensweisen auf:
Sie weisen ein hohes Maß an Ängsten und Unsicherheiten auf und äußern dies auch.
Sie haben ein überaus hohes Bedürfnis nach Zuwendung durch Erwachsene und nehmen auch Strafen in Kauf, wenn sie dadurch die Aufmerksamkeit gewinnen oder halten können.
Sie haben bisweilen Probleme in der selbstständigen Aufgabenbewältigung und versichern sich immer wieder bei Erwachsenen.
Sie halten Phasen, in denen sie auf sich selbst verwiesen sind, meist nicht durch, weil sie Angst haben, die Aufmerksamkeit Erwachsener zu verlieren.
Sie sind sprachlich meist recht eloquent, weisen aber eher schlechte schriftliche und rechnerische Leistungen auf.
3. Bindungswunden
Bindungswunden lassen sich auf verschiedene Art und Weise beschreiben. Im Folgenden werden sie mit Blick auf die Familienbande unterschieden nach dem Erleben von Verrat auf der einen Seite und den Verletzungen im System Familie auf der anderen Seite. Eine solche Unterscheidung müht sich um unterschiedliche Perspektiven: einerseits stärker emotional, andererseits stärker strukturell fokussiert. In der Realität existieren sie wohl nicht als unterschiedliche Kategorien, sondern als eine Einheit aus emotionalem Erleben und strukturellen Prozessen und Konsequenzen.
3.1 Verletzungen durch Verrat
Bindungswunden entstehen insbesondere dann, wenn Kinder einen familiären Verrat durch wichtige Bezugspersonen erfahren. Verrat als Terminus bezieht sich dabei auf die Nicht-Erfüllung basaler Aufgaben bzw. die vulneranten Verhaltensweisen einer Bezugsperson in früher Kindheit und die mit ihnen verbundenen Erwartungen. Erfahrungen von sexuellem Missbrauch, massiver körperlicher Gewalt, emotionaler Vernachlässigung und Verwahrlosung, aber auch von Vertreibung und Verlust können im Erleben von Kindern dazu führen, dass sie sich in dem verraten fühlen, was sie sind: schutzbedürftige Wesen, die existentiell auf fürsorgende Bezugspersonen angewiesen sind. Der Mann, der sein eigenes Kind missbraucht, und die Frau, die davon weiß, es aber aus Angst vor dem Mann nicht unterbindet, verraten ihr Kind durch Nicht-Erfüllung ihrer Aufgaben als Vater ebenso wie als Mutter – und dies unabhängig von Motiven, Kausalitäten und Schuld. Im Kind entsteht eine Wunde, die Ängste vor Vernichtung und sozialer Ächtung auslösen, es mit Gefühlen von Ekel und Scham überfluten, wodurch sich Verwirrung, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit breit machen können. Die Wunde wiederum führt dazu, dass die emotionale Vulnerabilität wächst.
Erlebt man betroffene Kinder in emotional aufwühlenden Situationen, weil beispielsweise Mutter oder Vater von anderen Kindern beleidigt werden, so sind es gerade sie, die bis ‚aufs Blut‘ bereit scheinen, den beleidigten Elternteil zu verteidigen, obgleich man rational zu dem Schluss kommen könnte, dass es keinen Grund dafür gibt, – außer jenem eben: es ist die Mutter, es ist der Vater des Kindes, und das eigene Verratserleben soll durch Beleidigungen und Herabsetzungen durch andere Kinder nicht noch verstärkt werden. Zugleich scheint sich in einem solchen Verhalten eine wütende, trauernde Vergewisserung zu verbergen: Du bist doch meine Mutter, Du bist doch mein Vater! Im Erwachsenenalter schlagen sich die gemachten Erfahrungen mehr in Äußerung als in Handlungen der Loyalität nieder, wie sie beispielsweise Huber (2015, 14) eindrucksvoll zusammengestellt hat:
„Da kann man gar nichts gegen machen.
Aber das sind doch meine Eltern!
Das ist doch lange her.
So schlimm war es nicht.
Ich erbe mal das Haus…
Jetzt muss ich meinen Vater doch pflegen.
Sie bezahlen die Therapie.
Blut ist eben dicker als Wasser.
Außenstehende verstehen das eben nicht.“
Für die Familienbande und das Aufziehen der eigenen Kinder bedeutet dies infolge oftmals eine Identifikation mit den einstigen Tätern (Huber 2015, 16) und eine Weitergabe der Wunde an die Kinder wie einen Staffelstab:
Schläge haben mir auch nicht geschadet.
Ich bin eben ein harter Hund.
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.
Schreiende Kinder sind widerlich.
Du hast es nicht besser verdient.
Selbst schuld.
Dies führt unweigerlich zu einer im Folgenden strukturelleren Betrachtung von Bindungswunden.
3.2 Verletzungen im System
Betrachtet man Bindungswunden als Verletzungen im System Familie, so hat man es oft mit Familien zu tun, bei denen sich die Eltern auf der Bindungsebene in einer Art Schockstarre befinden, beispielsweise, weil sie existentielle Verwundungen wie Vertreibung, Verfolgung oder Folter hinnehmen mussten. Dagmar von Hoff und Marianne Leuzinger-Bohleber beschreiben diese Starre mithilfe des Gemäldes ‚famiglia‘ des südamerikanischen Malers Botero, und zeigen darüber anschaulich die Weitergabe der erfahrenen Verwundung innerhalb der Familie: „Die Mutter stillt mit deanimiertem und depressivem Gesicht ihren Säugling. Der adipöse Vater liest beziehungslos seine Zeitung. Der größere Junge streichelt parentifiziert Mutter und Säugling. Die negat...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. I. Vulneranz, eine humane Herausforderung
  7. II. Liebe und Verletzlichkeit – die Wunde als Ort der Kommunikation
  8. III. Widerstand aus Vulnerabilität – Blickwechsel
  9. Literatur
  10. Autorinnen und Autoren