Anhang Forschungsstand und Quellenlage
Das Thema Essen und Trinken könnte in der historischen Forschung und ihren benachbarten Gebieten nicht aktueller sein – diesen Anschein vermittelt zumindest das kürzlich erschienene Handbook of Food Research.813 Der Band beschreibt auf fast 500 Seiten den gegenwärtigen Forschungsstand und gibt auf über einhundert Seiten einen gewaltigen Eindruck von der historischen, anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Ernährungsforschung der vergangenen Jahrzehnte. Kurz davor ist zudem das Oxford Handbook of Food History814 herausgekommen. Dieses verschafft den Lesern insbesondere einen interessanten Überblick über die verschiedenen Forschungsfelder innerhalb der Ernährungsgeschichte und der interdisziplinär angelegten Food Studies. Das Gros der in den beiden Handbüchern verzeichneten Literatur stammt jedoch in erster Line aus dem angloamerikanischen Sprachraum und berücksichtigt hauptsächlich – wenn auch nicht ausschliesslich – den entsprechenden Kulturraum. Die beiden Bände verdeutlichen jedoch auch, dass die Ernährung zu den jüngeren Forschungsgebieten der Geschichtswissenschaft gehört. Die meisten Forschungsarbeiten entstanden in den 1990er- und ganz besonders in den 2000er-Jahren. Allerdings kann bereits in den 1980er-Jahren ein erster Anstieg der Zahl wissenschaftlicher Beiträge zum Thema nachgewiesen werden. Eines der wichtigsten Werke dieser Zeit dürfte die Studie von Sidney Mintz zur Kulturgeschichte des Zuckers sein.815
Angesichts dieser enormen Fülle an Forschungsarbeiten will ich an dieser Stelle jene thematischen Schwerpunkte und Studien hervorheben, die ich als besonders wegweisend, umfassend, einzigartig, illustrativ oder auch einfach besonders anregend empfunden habe. Ich gliedere den Forschungsstand in drei Teile: einen ersten allgemeinen Teil über Ernährungsgeschichte, einen zweiten über die Konsumkultur und einen dritten zum Aspekt der Amerikanisierung.
Noch ausgeprägter, als im Forschungsstand der beiden erwähnten Handbücher abgebildet, wurde das so alltägliche Thema der Ernährung in der Schweiz erst in den 1990er-Jahren zu einem eigentlichen geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstand. Dafür entstanden in diesem Jahrzehnt mit Albert Wirz’816 und Jakob Tanners817 Studien gerade zwei grundlegende Arbeiten, die sich aus je unterschiedlichen Zugängen mit der Herausbildung der modernen Ernährung und der Essgewohnheiten befassen. Beide Studien sind sowohl von der Thematik als auch vom Zeitraum her der vorliegenden Dissertation vorgelagert und legen deshalb den Grundstein. Einen wichtigen Beitrag im Sinn einer Überblicksdarstellung über die Ernährung und die Essgewohnheiten in der Schweiz hat auch Martin Schärer818 geleistet. Einer der ersten und führenden Ernährungshistoriker im deutschsprachigen Raum ist Hans Jürgen Teuteberg. Er hat das Thema bereits in den 1970er-Jahren aufgegriffen und seither kontinuierlich vorangetrieben. Zu seinen Schwerpunkten gehörten sowohl der Einfluss der Industrialisierung auf die Essgewohnheiten als auch alltags geschichtliche Zugänge, bei denen er (zusammen mit anderen Autoren) etwa Tischsitten, Rollenverteilung und den Einfluss neuer Lebensmittel auf die Alltagskost untersuchte.819 In Bezug auf die transatlantischen Entwicklungen in der Ernährungsgeschichte seien hier die Arbeiten von Detlef Briesen820 sowie Harvey Levenstein821 erwähnt. Schliesslich rückte in den vergangenen Jahren in Zusammenhang mit Ernährung und Konsum allgemein immer stärker auch der Aspekt der Globalisierung in den Fokus der Forschung.822 Alexander Nützenadel und Frank Trentmann präsentieren in ihrem Sammelband «Food and Globalization»823 die jüngsten Forschungsarbeiten zum Thema. Der Band ist in der Reihe «Cultures of Consumption» des gleichnamigen Forschungsprogramms (2002–2007) erschienen und verweist auf das anhaltend grosse Forschungsinteresse an konsumgeschichtlichen Fragestellungen. Schliesslich sei an dieser Stelle auch die Arbeit von Maren Möhring zur Geschichte der ausländischen Gastronomie in Deutschland erwähnt, in der die Autorin die Globalisierung der Ernährung insbesondere vor dem Hintergrund von Migration und Tourismus untersucht.824
Wie die Ernährungsgeschichte wurde auch die Konsumgeschichte vor allem ab den 1990er-Jahren populär. Damals erschienen im deutschsprachigen Raum zwei einschlägige Sammelbände, die gemeinhin auch als Auftakt zur historischen Konsumforschung in Europa angesehen werden. Zum einen ist dies der Band «Europäische Konsumgeschichte»,825 zum anderen der Band «Geschichte der Konsumgesellschaft».826 Einen kritischen Ansatz verfolgt darüber hinaus der Sammelband von Christian Pfister. Die Autorinnen und Autoren kritisieren darin insbesondere den für die Massenkonsumgesellschaft verschwenderischen Umgang mit Rohstoffen und Energie und sprechen von Konsum als «Syndrom».827 Zwei vielbeachtete Studien zur Schweiz sollen an dieser Stelle explizit erwähnt werden: Arne Andersen untersuchte den Mentalitätswandel in Zusammenhang mit der Entstehung der Massenkonsumgesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren,828 und Sibylle Brändli stellte den Detailhandel ins Zentrum ihrer Arbeit.829 Der 2005 erschienene Sammelband von Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp zeigt, dass sich die konsumgeschichtlichen Fragestellungen in den vergangenen knapp 20 Jahren verschoben haben. Während in der frühen Forschung die Entstehung der Konsumgesellschaft, ihre Gesetzmässigkeiten sowie die typischen Konsumgüter der Massenkonsumgesellschaft im Fokus standen, interessieren heute vermehrt auch konsumpolitische sowie werbe- und marketinggeschichtliche Fragestellungen mit besonderer Berücksichtigung der Konsumentinnen und Konsumenten.830 Aus dem eben erschienenen «Oxford Handbook of the History of Consumption»831 geht ferner hervor, dass besonders im anglo-amerikanischen Sprachraum vermehrt auch einzelne Konsumenten- und Gesellschaftsgruppen im Fokus der historischen Konsumforschung stehen. Schliesslich sei hier auch auf die kürzlich erschienene «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» verwiesen, die in einem ausführlichen Kapitel zu Konsum und Distribution die wichtigsten Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre abbildet.832
Von Anfang an im Interesse der Konsumgeschichte stand der transatlantische Know-how- und Gütertransfer. Die moderne Konsumgesellschaft wird auch in der Forschung als etwas genuin Amerikanisches wahrgenommen und entsprechend ...