Zauderer mit Charme
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Zauderer mit Charme

Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie

  1. 240 Seiten
  2. German
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Zauderer mit Charme

Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie

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Über dieses Buch

Hans Schindler entsprach dem männlichen, gutbürgerlichen Rollenbild des 20. Jahrhunderts: Er war ein gewissenhafter Unternehmer und Politiker sowie mehrfacher Familienvater. 1896 geboren, folgte er den Wünschen seiner Familie. Er studierte Chemie an der ETH, doktorierte in Cambridge, wurde Offizier, übernahm die Nachfolge des Vaters als Generaldirektor der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) und heiratete standesgemäss. Doch hinter der Fassade des perfekten Lebens sah es anders aus. Schindler war ein Zauderer, ein Suchender und wenig geeigneter Manager. 1957 schied er aus der operativen Führung der MFO aus und begann im Alter von über sechzig Jahren ein neues Leben. Erbeendete seine unglückliche Ehe und engagierte sich als Präsident von Swisscontact in der Entwicklungshilfe. Die ausführlichen Tagebücher, die Hans Schindler von 1945 bis 1957 führte, sind eine einmalige Quelle. Die Biografie stütztsich darauf und skizziert zugleich die bisher wenig bekannte Geschichte der MFO.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783039199419

Verlorene Wahl und USA-Abenteuer

Nach sechs Jahren im Kantonsrat geriet Hans Schindler plötzlich ins Scheinwerferlicht der nationalen Politik. Im Mai 1949 fragte ihn der Vorstand der freisinnigen Partei an, ob er sich als Ständeratskandidat zur Verfügung stellen würde. Ständerat Friedrich Traugott Wahlen von der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) hatte zuvor seinen Rücktritt angekündigt, um seine neue Stelle als Direktor der Abteilung für Landwirtschaft bei der Welternährungsorganisation in Washington anzutreten. Die Freisinnigen plädierten für einen bürgerlichen Einheitskandidaten aus ihren Reihen, doch die BGB beharrte darauf, für die Ersatzwahl einen eigenen Kandidaten aufzustellen. In der Folge sagten einige prominentere Freisinnige ab, weil sie aus Angst vor einer Niederlage nicht gegen den portierten BGB-Regierungsrat Rudolf Meier antreten wollten.
Schindler verlangte Bedenkzeit und fuhr nach Thun zu Verwaltungsratspräsident Eduard von Goumoëns. Dieser war klar der Meinung, dass es gegenüber der MFO unverantwortlich wäre, wenn er auch noch Ständerat würde. In einer Sondersitzung des Verwaltungsrats einige Tage später plädierten trotz milder Opposition von von Goumoëns aber alle übrigen Mitglieder für eine Kandidatur. Schindler sagte definitiv zu und wurde von den Delegierten der Freisinnigen schliesslich auf den Schild gehoben. Kurze Zeit später erfuhr er, dass der Landesring der Unabhängigen ebenfalls einen Kandidaten ins Rennen schicken würde: Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler. Schindler notierte dazu am 23. Juni: «Das gibt einen Kampf der Götter.»
Gottlieb Duttweiler und Hans Schindler kannten sich gut, da sie zusammen im Kantonsrat sassen. Schindler bezeichnete ihn einmal mit ironischem Unterton als «heilige[n] Gottlieb, der einsame Kämpfer für das Volk, für die Schwachen und Unterdrückten». Denn er spiele sich stets als besorgter Landesvater auf und beklage sich über die Dummheiten seiner Landeskinder. Handfest wurde ihre Rivalität 1947, als Duttweiler abermals den freien Dollarkurs forderte, um die Importverteuerung aufzuheben. Schindler hielt dagegen, dass insbesondere die Exportbranche auf stabile Währungsverhältnisse angewiesen sei. Die bei einer Freigabe absehbare Aufwertung des Frankens würde die Exportmöglichkeiten fast vollständig zerstören. Daraufhin erwiderte Duttweiler gemäss Ratsprotokoll: «Selbst der führende Industrielle Dr. Boveri erklärte, der freie Dollarkurs könne ohne Nachteile eingeführt werden. Leider nimmt Dr. Schindler noch einen gegenteiligen Standpunkt ein.» Schindler kommentierte diesen Seitenhieb in der «einstündigen wirren Rede» von Duttweiler im Tagebuch so: «Zwischenhinein vergleicht er mich mit Boveri, sehr zu meinen Ungunsten. Der Rat findet das sehr vergnüglich.» Es dürfte ihn geschmerzt haben, dass sein Rivale Walter Boveri von der BBC als «führender Industrieller» bezeichnet wurde und insbesondere seine Ratskollegen den Tiefschlag auf seine Kosten erheiternd fanden.
Da zwischen der Lancierung der Kandidatur und der Wahl nur knapp zwei Wochen lagen, hatte der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Hans Schindler kaum Zeit, sich zu präsentieren. Er absolvierte vorerst die übliche Ochsentour und hielt vor der Parteiversammlung mit über hundert Teilnehmenden im «Rössli» in Winterthur eine Rede. Er stellte danach ernüchtert fest, dass er das Publikum nicht begeistern konnte. Mit etwas Galgenhumor fügte er an, dass sein Referat aber wenigstens sehr kurz gewesen sei. Danach absolvierte er weitere Auftritte vor lokalen Sektionen der Freisinnigen im Kanton. Seine Ehefrau war nicht besonders angetan von der prominenten Rolle, die ihr Mann plötzlich zu spielen hatte. Insbesondere von einem Flugblatt der Freisinnigen, das in jede Haushaltung des Kantons verteilt wurde, fühlte sie sich unangenehm berührt. Auf der Frontseite war ein relativ grosses Bild von Hans Schindler unter dem Titel «Blutauffrischung im Ständerat» abgedruckt. Sein leerer, vom Betrachter abgewandter Blick auf dem Porträtbild und seine lapidaren Bemerkungen im Tagebuch lassen darauf schliessen, dass Hans Schindler seine Kandidatur eher als lästige Pflichtübung denn als Herzensangelegenheit ansah. Wie ihm NZZ-Redaktor und Fraktionskollege Edmund Richner berichtete, schwanden seine Wahlchancen sowieso von Tag zu Tag. Er stehe wegen der nun bekannt gewordenen Unterstützung der Sozialdemokraten für den Kandidaten Meier im Schatten und laufe Gefahr, als hoffnungsloser Kandidat Stimmen zu verlieren.
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Sonderausgabe der Parteizeitung Zürcher Freisinn, Juli 1949.
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Wahlplakat von Hans Schindler, 1949.
Ein längerer Artikel in der NZZ zwei Tage vor der Wahl sollte der Kandidatur von Hans Schindler nochmals Aufwind verleihen. Besonders hervorgehoben wurden darin seine Unabhängigkeit und sein kritischer Blick, wie sie im Kantonsrat oft ersichtlich würden: «Das träfe Wort, das er in verwickelten Lagen findet, zeigt Standfestigkeit und Klarheit seiner politischen Überzeugung, die von engem Parteigeist ebenso weit entfernt ist wie von unüberlegter Dynamik.» Nach einer ausschweifenden Analyse der Wirtschaftslage und der Rolle der Exportindustrie, die Hans Schindler dem Redaktor ins Notizbüchlein diktiert hatte, endete der Artikel schliesslich mit weiteren Lobgesängen: «In Dr. Hans Schindler haben wir einen Unternehmer, der, allen Schlagworten abhold, aus praktischer Erfahrung heraus handelt und denkt. Die Partnerschaft, die er nach aussen als Fundament einer werteschaffenden Produktion postuliert, hat im Rahmen des Betriebs, dem er angehört, bereits Eingang gefunden. Der Verzicht auf Augenblickserfolge und Sensationen entspringt dem zurückhaltenden Naturell des ruhigen Zürchers, der aus seiner Leistung kein Aufheben machen will. […] Hans Schindler verbürgt durch seine klare und überlegte Art, dass die Probleme unseres öffentlichen Lebens vom Wust der Schlagworte und der politischen Mystik aller Schattierungen befreit und mehr nach den Regeln der Sachgesetzlichkeiten entschieden werden, wie es für das ganze Volk auf die Dauer erspriesslicher ist.» Mit der Kritik an der politischen Mystik zielte das freisinnige Hausblatt gegen den umtriebigen Gottlieb Duttweiler, der mit seinem Landesring sensationelle Erfolge erzielte, aber von den arrivierten Parteien aufgrund seiner unkonventionellen Ideen mit grossem Argwohn betrachtet wurde. Die Attacke gegen Regierungsrat Rudolf Meier erfolgte erst ein paar Seiten später in einem Inserat: Man solle keinen weiteren Mann aus der Verwaltung wählen, hiess es darin. Die 15 Regierungsräte, die im Ständerat sassen, seien mehr als genug. Das «Volk zu Stadt und Land» solle stattdessen die freiheitliche Strömung verstärken und mit Hans Schindler einen Mitbürger aus der freien Wirtschaft wählen.
Der Wahltag am 3. Juli 1949 brachte schliesslich folgende Resultate: Gottlieb Duttweiler vereinte 69 000 Stimmen auf sich, Rudolf Meier 48 000 Stimmen. Mit einem grösseren Rückstand folgte Hans Schindler mit 26 000 Stimmen. Ein zweiter Wahlgang musste entscheiden. Nur die Freisinnigen und Evangelischen hatten für Hans Schindler gestimmt, die Sozialisten unterstützten hauptsächlich Duttweiler, trotz anderslautender SP-Parteiparole. Der Trübsinn wegen seiner Nichtwahl hielt sich bei Schindler in Grenzen. Er gewann dem Wahlausgang auch positive Seiten ab, da die «rot-grüne Allianz» aus Sozialisten und Bauern eine deftige Ohrfeige empfangen hatte: «Mit Trommeln und Trompeten zogen die Sozialisten zur Hülfe der Bauern, aber die Mehrzahl der sozialistischen Truppen lief direkt zum Feind über, den sie bekämpfen sollten.» Seine Parteikollegen im Kantonsrat wussten am Montag nach der Wahl nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Das Resultat war nicht besonders gut. Ob man einen anderen bürgerlichen Kandidaten präsentieren wollte, war diesbezüglich äusserst fraglich. Schindler jedenfalls war erleichtert: Für einen zweiten Wahlgang kam er nicht infrage.
Im September 1949 siegte schliesslich Gottlieb Duttweiler mit 91 000 Stimmen triumphal gegen Rudolf Meier, der lediglich 68 000 Stimmen erreichte. Doch schon zwei Jahre später gelang es den Freisinnigen bei den Gesamterneuerungswahlen eher überraschend, Duttweiler den Sitz im Stöckli wieder abzujagen. Nachdem auch NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher, der Zürcher Stadtpräsident Emil Landolt und erneut Hans Schindler im Gespräch waren, gewann schliesslich Regierungsrat Ernst Vaterlaus den Sitz für die Freisinnigen zurück. Alt-Stadtpräsident Emil Klöti von der Sozialdemokratischen Partei blieb als zweiter Ständerat unangefochten. Duttweilers ergänzende Sicherheitskandidatur auf der Berner Nationalratsliste wurde in Zürich als Affront empfunden und dürfte zu seiner Niederlage geführt haben. Zudem hatte er es sich mit der linken Arbeiterschaft verscherzt, die ihn 1949 noch gewählt hatte. Duttweiler wollte auf dem ihr heiligen Helvetiaplatz eine Rede vor seinen Anhängern halten, was als ungeheure Provokation aufgefasst worden war und starke Gegenreaktionen der Arbeiter hervorgerufen hatte.

Waghalsiger Expansionsschritt in die USA

Am Ostersamstag des Jahres 1950 begann für Hans Schindler und die MFO ein neues Kapitel, das die nächsten Jahre entscheidend prägen sollte. Um zehn Uhr traf der Kanadier Lloyd Morgan ein – ein Verkäufer, der auf Schindler einen «recht ordentlichen Eindruck» machte. Er schlug vor, dass die MFO in den USA die Fabrikation von grossen Transformatoren aufnehmen solle. Als Standort schlug er die Region Pacific Northwest um Seattle vor, wo er für verschiedene Firmen als Promotor einzelner elektrotechnischer Produkte stationiert war. Hans Schindler war bereit, diese Option ernsthaft zu prüfen. Allerdings war man sich in der Direktion schnell einig, dass die Transformatorentechnik in den USA weiterentwickelt war. Bei der Herstellung von Schaltern war die MFO allerdings besser aufgestellt, da sie hier Produkte im Angebot hatte, die es in den USA noch nicht gab. Solche Hochspannungsschalter wurden gebraucht, um in Elektrokraftanlagen Stromkreise zu unterbrechen. Da beim Abschalten ein gefährlicher Lichtbogen entstand, musste dieser kontrolliert eingedämmt werden. Bei ölarmen und bei älteren Kesselölschaltern wurde der Lichtbogen mit Öl gelöscht. Beim Druckluftschalter wurde er ausgeblasen. Die MFO war in diesem Gebiet führend und bot eine grosse Auswahl an Typen und Spezifikationen an.
Verwaltungsrat Erwin Hürlimann von der Rückversicherung riet, die Lage vor Ort zu prüfen. Hans Schindler könne dabei viel lernen. Wichtig sei auch, einflussreiche Politiker für die Sache zu gewinnen. Er warnte aber auch vor übertriebenen Erwartungen: Er kenne kein einziges Unternehmen, das sich gegen die zwei Giganten General Electric und Westinghouse habe durchsetzen können. Die scharfe US-Kartellgesetzgebung machte immerhin ein wenig Hoffnung. Im Juni 1950 wurde Hans Schindler von seiner Frau und den vier jüngeren Kindern zum Abflug nach Kloten begleitet: «Es ist doch kein gewöhnlicher Abschied, wenn man auf eine so grosse Reise geht.» Der Flughafen Kloten bestand zu dieser Zeit aus wenigen Pisten mit Zufahrtswegen, einer Werfthalle und einigen Baracken, die mitten in der unbebauten Landschaft standen. Zwei Jahre zuvor war das erste Mal eine Maschine ab Kloten gestartet. Fliegen – und dann noch nach Übersee – war 1950 ein Abenteuer. Zuerst reiste Hans Schindler nach Genf, wo er nach einem «gwaggligen Flug» ein Mittagessen einnahm. Dann flog er weiter nach Shannon. Von Irland aus überquerte er den Atlantik. Im neufundländischen Gander wurde ein Zwischenstopp eingelegt, da ein direkter Flug zwischen Europa und den grossen US-Städten an der Ostküste noch nicht möglich war. In der Maschine befanden sich nur fünf Passagiere. Diesen stand reichlich Platz zur Verfügung, und Hans Schindler kam ziemlich entspannt in New York an. Einzig das Frühstück an Bord mit «scherbeligem Brot und hartem Emmentaler» mundete ihm nicht.
In New York und Washington kristallisierte sich bei unzähligen Gesprächen mit Politikern, hochrangigen Vertretern der Verwaltung und des Militärs sowie Wirtschaftsleuten heraus, dass von den lokalen Vertretern aus der Region Pacific Northwest der Aufbau einer Fabrik sehr begrüsst würde und die Mehrheit an der Firma ohne Probleme auch bei den Schweizern liegen könnte. Man müsse aber bereit sein, sich einer «stiff competition» zu stellen. Der Chef der Anti-Trust-Behörde versprach immerhin zu intervenieren, wenn sie das Gefühl hätten, von der Konkurrenz erdrückt zu werden. Hans Schindler flog daraufhin weiter in den Bundesstaat Washington, um mithilfe von Lloyd Morgan einen geeigneten Standort für die Fabrikation zu suchen. Eine erste Idee, in einer bereits bestehenden Fabrik die vorgefertigten Einzelteile nur montieren zu lassen und sich vor allem um den Verkauf zu kümmern, wurde verworfen. Zwar wäre die Investition sehr klein gewesen, und man hätte sich nicht um Personal, Management und Fabrikationsprozesse kümmern müssen, doch bestand die Gefahr, dass der Unterlieferant diese Produkte plötzlich auf eigene Rechnung fabriziert und verkauft hätte. Zudem war fraglich, ob die Bonneville Power Administration, die als Agentur der US-Bundesbehörden bereits grosses Interesse an den MFO-Produkten angemeldet hatte, einer reinen Verkaufs- und Montagegesellschaft vertrauen würde. Auch die Möglichkeit einer Werkstattmiete wurde bald verworfen. Seit dem Zweiten Weltkrieg lagen insbesondere im Hafen von Portland einige Werkstätten brach, doch wegen der Korea-Krise hielt man einen weiteren Krieg für wahrscheinlich. Im Kriegsfall hätte man diese Gebäude sofort für militärische Nutzungen freigeben müssen. Nach unzähligen Besichtigungen und Besuchen rückte schliesslich eine Liegenschaft in Tacoma, ganz in der Nähe von Seattle, ins Blickfeld. Die Liegenschaft, die direkt am Meer lag, gehörte einem Mann namens Fred Karlen, dessen Eltern aus der Schweiz eingewandert waren. Für eine genaue Inspektion der Anlage liess Schindler aus der Schweiz auch noch Marc Brunner, den Sohn von Direktor Jakob Brunner, als Sachverständigen der MFO einfliegen. Da dieser keine gravierenden Nachteile ausmachen konnte und der Preis akzeptabel war, kaufte Hans Schindler schliesslich die Liegenschaft. Nach dem Deal erfolgte bei einem üppigen Essen und viel Scotch die Verbrüderung der beiden Vertragspartner, die Schindler nicht besonders angenehm war: «Er sagt zu mir ‹Häns› und ich muss ihn Fred nennen.» Am nächsten Tag veranstaltete Karlen zusammen mit seinem Geschäftspartner Reno Odlin für die Schweizer einen Empfang in Tacoma, bei dem viele lokale Grössen aus Politik und Wirtschaft anwesend waren. Wie so oft, wenn Hans Schindler etwas sagen musste, war er nicht zufrieden. Sein «Spruch» sei «zu lang und zu konfus» gewesen, Marc Brunner habe aber vergleichsweise kurz und gut gesprochen.
Für die baulichen Massnahmen und den Kauf der Werkzeugmaschinen sowie weiterer Einrichtungen rechnete man mit einer Investition von rund einer halben Million Dollar. Das Umsatzziel nach zwei Jahren lag bei 1,5 Millionen Dollar, was einem Anteil von zehn Prozent am Umsatz von Schaltern und Schalttafeln in der Region Pacific Northwest entsprach. Mithilfe der zwei lokalen Anwälte Le Sourd und Little gründete Schindler schliesslich die neue Gesellschaft Pacific Oerlikon Company (POC). Das Aktienkapital wurde auf 300 000 Dollar festgelegt, das restliche Kapital von der MFO als Darlehen überwiesen. Vier Verwaltungsräte sollten aus der Schweiz stammen, als fünftes Mitglied stellte sich Le Sourd zur Verfügung. Nach zweieinhalb Monaten in den USA kehrte Schindler Ende August in die Schweiz zurück. Der Verwaltungsrat genehmigte einstimmig die Aufnahme der Fabrikation in Tacoma. Nach längeren Diskussionen wurde Lloyd Morgan als Unternehmensleiter bestätigt. Er hatte bereits bei grösseren Elektrofirmen sein Talent als Verkäufer unter Beweis gestellt. Ob er als Chef taugen würde, war hingegen strittig. Die Betriebsleitung der Fabrik übernahm Marc Brunner, den Schindler als «sehr intelligent und scheinbar noch geistig beweglich» einschätzte. Die beiden wurden vorerst beauftragt, eine funktionstüchtige Fabrik einzurichten und Personal zu rekrutieren.

America again

Im Juni 1951 traf endlich das langersehnte Telegramm ein, das eine erste Bestellung vermeldete. Das Bureau of Reclamation, eine für die Wasserwirtschaft zuständige US-Behörde, hatte zwölf ölarme Hochspannungsschalter mit 115 und 69 kV Nennspannung geordert. Kurz darauf brach Hans Schindler zu einer weiteren Reise nach Übersee auf. Vorerst machte er in New York halt, um endlich eine Exportbewilligung für Transformatorenblech und Kupfer in die Schweiz zu erhalten. Von einem gewieften Händler erfuhr er, dass sich die zuständige Behörde in Washington nur erweichen lasse, wenn man die Artikel als unabdingbar für die militärische Verteidigungsbereitschaft des Ziellandes darstellen könne, sprich: zur Abwehr der Kommunisten.
Weiter ging es nach Kuba, um an der defekten MFO-Dampfturbine in Matanzas die Ursache der Übertourenzahl zu eruieren und Lösungen zu finden. Schindler musste feststellen, dass man in Oerlikon von falschen Annahmen ausging, was für ihn unbegreiflich und beschämend war, weil sie nur dem «eigenen Wunschdenken» entsprangen. Von Kuba aus reiste er weiter nach Mexiko, um dort den MFO-Vertreter Valentin und einige Kunden und Geschäftspartner zu treffen. Unter anderem unternahm er mit Valentin einen Ausflug nach Taxco, einem alten Bergwerkstädtchen. Er beobachtete, dass die Indios in sehr primitiven Wohnstätten hausten und von klein auf betteln mussten, empfand die ausdrucksstarken und groben Gesichter dieser Menschen aber als schön. Auf einem Markt, den sie besuchten, beeindruckten ihn neben den vielen Lebensmittelständen auch die Verkäufer von wurmabtreibenden Kräutern; als Beweis der Wirksamkeit führten sie Flaschen voller Würmer mit. Und auch ein Laden mit Särgen, der auffällig viele Kindersärge im Angebot hatte, machte Eindruck. Zurück in Mexico City tauchte er in eine komplett andere Welt ein, als er den Länderc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Die Reise nach China
  7. Ein hoffnungsvoller Spross
  8. Einstieg in die Firma
  9. Die Moralische Aufrüstung
  10. Verpflichtungen an jeder Ecke
  11. Verlorene Wahl und USA-Abenteuer
  12. Fehlende menschliche Wärme
  13. Vaters Schatten
  14. Die Ära Schindler geht zu Ende
  15. Ein neues Leben
  16. Quellen- und Literaturverzeichnis
  17. Zeittafel
  18. Führungspersonal der Maschinenfabrik Oerlikon, 1935–1957
  19. Verflechtungen in den Verwaltungsräten
  20. Abbildungsverzeichnis
  21. Dank
  22. Autor