KAPITEL I
VORAUSSETZUNGEN
KAPITEL II
DIE EVANGELISCHREFORMIERTE KIRCHE BASEL-STADT
KAPITEL III
DISKURSE IN KIRCHLICHEN ZEITSCHRIFTEN
KAPITEL IV
EVANGELISCHE MILIEUSTRUKTUREN
KAPITEL V
SYNTHESE
ANHANG: | | QUELLEN UND LITERATUR |
| | DATENSÄTZE |
| | ABKÜRZUNGEN |
| | TABELLEN |
| | GRAFIKEN |
VORWORT
« DER STROM DES LEBENS GEHT AN DER KIRCHE VORBEI. 1 »
Diese Feststellung machte der reformierte Pfarrer Felix Tschudi am Beginn der grössten Kirchenaustrittswelle, die Basel bis heute erreichte. Bereits damals, vor knapp 50 Jahren, wurde gezweifelt – von den Kirchenmitgliedern an ihrem Glauben, von den Pfarrern an der erfolgreichen Zukunft ihrer Kirche. Heute gehören Glauben und Zweifeln mehr denn je zusammen.
Dreht sich das Thema um Kirche oder Religion, hat ein jeder, eine jede eine eigene Meinung, sei er nun praktizierender Protestant, passives Kirchenmitglied oder bereits aus der Kirche ausgetreten. Religion, oder auch nur ihre Inszenierung, rührt in den Menschen etwas an. Für mich stand die Frage nach dem Stellenwert des Glaubens im Alltagsleben der Menschen am Anfang dieses Buches. Wo findet man ihn? Was bleibt, wenn jemand aus der Kirche austritt?
Das vorliegende Buch ist die gekürzte und überarbeitete Version meiner am Historischen Seminar der Universität Basel eingereichten Dissertation. Dass diese Arbeit zustande kam, verdanke ich in erster Linie der ermutigenden und neugierigen Begleitung von Prof. Dr. Josef Mooser; dafür danke ich herzlich. Prof. Dr. Aram Mattioli und Prof. Dr. Martin Schaffner danke ich für die konzeptionelle und inhaltliche Unterstützung meiner Forschungsarbeit. Nur dank dem Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds war es möglich, konzentriert daran zu arbeiten. Schliesslich danke ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Historischen Seminars Basel sowie des Staatsarchivs Basel-Stadt für ihre Hilfe. Am meisten unterstützt hat mich Barbara, die beste aller Lehrerinnen.
EINLEITUNG
« DIE REFORMIERTE KIRCHE DER SCHWEIZ WERDE KLEINER UND ARMER, SAGEN SOZIOLOGEN VORAUS. SOLCHE AUSSAGEN STIMMEN, VOR ALLEM WENN SIE NACH DEM EREIGNIS GEMACHT WERDEN. – UND ANSONSTEN? FESTSTEHT: DIE REFORMIERTE KIRCHE IST ÜBERALTERT. ES FEHLT DER NACHWUCHS, AUS BIOLOGISCHEN GRÜNDEN. REFORMIERTE BEKOMMEN WENIGER KINDER.
ALLES ANDERE BLEIBT KAFFEESATZLESEN, GERADE IM BEZUG AUF DAS RELIGIÖSE: KEINER HÄTTE DARAUF GEWETTET, DASS NACH DEM TOD DES NAZARENERS AUS EINEM HÄUFCHEN JERUSALEMER DIE CHRISTENHEIT ENTSTEHT. KAUM JEMAND HÄTTE GEDACHT, DASS DER AUFMÜPFIGE MÖNCH LUTHER NICHT AUF DEM SCHEITERHAUFEN LANDEN, SONDERN EINE WELTWEITE KIRCHE INITIIEREN WÜRDE. 2 »
Um Aussagen zur Zukunft der Kirchen zu treffen, kann es durchaus von Nutzen sein, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, es müssen ja nicht gleich 2000 Jahre sein. Man kann, nach dem Prinzip Hoffnung oder im Gottvertrauen, darauf zählen, dass die Schwäche der etablierten Kirchen im 20. Jahrhundert nur eine vorübergehende ist. Die Entwicklungen seit den 1960er-Jahren und das Wissen um die beschränkte Reformfähigkeit der Landeskirchen sprechen hingegen auch unter einem langen Zeithorizont gesehen eher für ihre fortdauernde Marginalisierung.
Um diesen Blick zurück geht es in der vorliegenden Forschungsarbeit. Woher kommt der Bedeutungsverlust der Kirchen? Und ist heute wirklich bereits «nach dem Ereignis»? Dass der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) vor Kurzem eine Studie in Auftrag gegeben hat, um «die Zukunft der Reformierten»3 einzuschätzen, deutet auf ein auch in der Gegenwart anhaltendes Krisenbewusstsein der reformierten Kirchen in der Schweiz hin. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass mit der auch in den Medien populären Rede von der «Wiederkehr der Religionen»4 oder der «Wiederkehr der Götter»5 nicht die Mitgliedskirchen des SEK gemeint sein können. Die vorliegende Untersuchung bezieht gegenüber dieser weit verbreiteten Diagnose, die Gegenwart erlebe eine «Renaissance des Religiösen»6 einen kritischen Standpunkt – die im Folgenden auf empirischer Basis vorgenommene Historisierung dieses Phänomens wird zeigen, ob man über lange Sicht von einer «Renaissance» sprechen kann. Indessen hat es seine Gründe, dass die Themen Kirche und Religion wieder ihren Platz auf den Titelseiten der medialen Öffentlichkeit gefunden haben7 oder dass Hundertausende Jugendliche zum Weltjugendtag nach Köln reisen, um den Papst zu sehen. Sicher haben der «islamistische Schock»8 und die mit der Migration von Menschen aus islamischen Staaten verbundenen Ängste einen Teil zum Interesse am Religiösen beigetragen. Allein, diese Erklärung griffe zu kurz, denn hier geht es in erster Linie um eine Renaissance des Interesses an Religion. Was die Wochenzeitschrift Spiegel mit «Das Gefühl des Glaubens»9 betitelt, trifft den Nagel wohl auf den Kopf – dieses «Gefühl» umschreibt die Sehnsucht nach dem Sinn im eigenen Leben, nach Transzendenz und verbindlichen Werten. Ereignisse wie die millionenfach besuchte Beisetzung Johannes Paul II. zeigen, über den erfolgreichen Event-Charakter der Veranstaltung hinaus, dass bereits die Inszenierung von Religion in den Menschen etwas anrührt, eine Verbindung zum Übersinnlichen, die weiterhin besteht. Menschen erinnern sich wieder ihrer religiösen Residuen und suchen im Gefühl des Glaubens den Glauben an sich. Die Kirche übt weiterhin ihren Einfluss aus, ob er nun bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird, und das Phänomen Religion in der Gegenwart sollte nicht vorzeitig abgeschrieben werden.
Vor diesem Hintergrund unternimmt dieses Buch den Versuch, die Verankerung der reformierten Kirche in der Gesellschaft und ihren Einfluss auf diese Gesellschaft, mit anderen Worten: die Mächtigkeit der Kirche in Bezug auf die soziale Wirklichkeit und den Wandel dieses Verhältnisses im Laufe der Zeit zu untersuchen. Im Mittelpunkt stehen die Schnittpunkte zwischen der Kirche und der ausserkirchlichen Gesellschaft. Dort manifestiert sich das Verhältnis der Kirche zur realen Lebenswelt, die Bedeutung der Kirche für die Menschen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich Stellenwert und Einfluss der protestantischen Religion und der Kirche in der Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert stark verändert haben. Neben der Abkehr von der Kirche ist es im Verlauf der Moderne in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise zu einer Abkehr von christlicher Lehre und von christlich geprägten Lebensformen gekommen.
Diese Prozesse des Sich-Distanzierens vom Christentum sind aber nicht gleichzusetzen mit jeglicher Abkehr von Religion oder religiös inspirierter Wertorientierung. Im Gegenteil gibt es vielerlei Verbindungen zwischen einer Hinwendung zu nichtchristlichen Glaubensformen und der Persistenz christlichen Einflusses. Diese Mischformen von christlichen und nichtchristlichen Elementen bestehen weiterhin und wirken auf die Wahrnehmung von politischen, gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen ein. Religion und die Kirchen als ihre Vertreter sind Faktoren der menschlichen Daseinsorientierung. Auch die modernen, «säkularisierten» Gesellschaften im 20. Jahrhundert sind nicht religionslos; die Religion und die Kirche haben aber einen anderen Stellenwert und andere Erscheinungsformen als in früheren Zeiten; man kann hier nach der Transformation von Kirche und protestantischer Lebenswelt fragen. Religionsgemeinschaften mussten auf «modernitätsspezifische Transformationen und Brüche»10 reagieren und sich mit den zunehmend von der Kirche emanzipierenden Bürgern auseinandersetzen.
In Bezug auf die reformierte Kirche in Basel ste...