Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt
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Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

  1. 240 Seiten
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Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

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Über dieses Buch

Fremde Vögte - immerwährende Neutralität - Sonderfall in Europa: Mythen eröffnen Zugänge zur Geschichtskultur der Vergangenheit und drücken das historische Selbstbewusstsein einer Gemeinschaft aus. Sie sind aber auch ein beliebtes Reservoir für Vereinfachungen und Halbwahrheiten im Kampf um politische Wähleranteile. Thomas Maissen, der 2010 mit seiner "Geschichte der Schweiz" einen Grosserfolg landete, blickt in 15 Kapiteln nüchtern auf die Schweizer Heldengeschichten, auf Bundesschwur und Réduit, auf freiheitliche und humanitäre Traditionen und die Willensnation. Er erklärt, wie diese Schlagworte historiografisch entstanden sind und was wir heute über das reale geschichtliche Umfeld wissen. Er bietet damit Orientierung in einer Zeit, in der die Schweiz ihre Geschichtsbilder hinterfragen muss, wenn sie nicht Gefahr laufen will, dass die öffentliche Erinnerung in Konflikt zur Wissenschaft und zur Wahrnehmung im Ausland gerät.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783039199020

1

Der Bund von 1291

«Der Gotthard steht in höchstem Masse für die schweizerische Unabhängigkeit und Freiheit. Er ist Symbol und Mahnmal zugleich. Es ist kein Zufall, dass die Geburtsstunde unseres Landes – der Bundesbrief von 1291 – hier in der Nähe, auf dem Rütli – einer kleinen abgelegenen Wiese – beschlossen und beglaubigt wurde.»49
Der Bund von 1291 wurde nicht auf dem Rütli beschworen. Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass die führenden Männer von Uri, Schwyz und Nidwalden (Obwalden gehörte diesem Bund nicht an) eine mühsame Reise zu einer abgelegenen Wiese in Kauf nahmen, wenn sie sich auch in einer Siedlung treffen konnten. Verstecken mussten sie sich nicht: Ihr Bund war keine heimliche Verschwörung wie der Rütlischwur, den Friedrich Schiller dichterisch überhöhte. Selbst wenn es den Rütlischwur je gegeben hätte, so hatte er mit dem Bund von 1291 nichts zu tun. Schillers Vorlagen wussten nichts vom 1291er-Bund: Weder der Aufklärer Johannes von Müller erwähnte ihn, ebenso wenig dessen Quelle, der Humanist Aegidius Tschudi, und auch nicht der Tschudi vorliegende Text, das vom Kanzleischreiber Hans Schriber verfasste, spätmittelalterliche Weisse Buch. Dort fehlte ein Datum für den Rütlischwur, den Tschudi – der um die suggestive Kraft präziser Daten wusste – dann auf den «Mittwoch vor Martini», also den 8. November 1307 datierte, worin ihm v. Müller folgte. Der Rütlischwur, «davon die eidtgnoschafft entsprungen» (Tschudi), war aber kein Bundesbrief.50
Die Bundesbriefe ihrerseits waren ebenso wenig ein Ansatz zur Staatsbildung wie die englisch-französische Entente cordiale von 1904 oder die NATO. Landfriedensbündnisse gab es im späten Mittelalter sehr viele, nicht nur, aber oft zwischen Städten. Das berühmteste und langlebige Beispiel war die Hanse. Zürich und Basel, zum Teil auch andere später schweizerische Städte gehörten beispielsweise zum Rheinischen Bund (1254–1257), zum südwestdeutschen Städtebund (1327) und zum Schwäbischen Städtebund (1376–1389). Für alle derartigen Zusammenschlüsse war charakteristisch, dass verschiedene Herrschaftsträger in einer Zeit ohne staatliches Gewaltmonopol gemeinsam und überlokal Frieden und Sicherheit garantieren wollten. Dafür verpflichteten sie sich eidlich zu gegenseitiger Hilfe gegen aussen oder bei der Durchsetzung von Urteilen. Schiedsgerichte und andere Verfahren sollten verhindern, dass Konflikte durch Fehde ausgetragen oder auswärtige Gewaltträger herangezogen wurden. Es ging nicht um kollektive Verteidigung von demokratischer Freiheit, die es um 1300 in der Innerschweiz ebenso wenig gab wie anderswo. Das Ziel der tonangebenden Adligen und Grossbauern war die Sicherung ihrer eigenen Herrschaftsrechte und Handelswege in einem regionalen Verbund. Die Rechte von anderen Verbündeten und jene des übergeordneten Königs im Reich wurden dabei jeweils vorbehalten, ebenso die freie Bündniswahl – die Allianzen waren nicht exklusiv, sondern eher kumulativ, sodass sie eigentliche Netzwerke bilden konnten, die aber nicht von Dauer waren. Ihre Verdichtung und Verfestigung erfolgte auch in der späteren Schweiz nur in einem jahrzehntelangen Prozess, wobei die Konkurrenz zu den Habsburgern seit der Schlacht von Sempach (1386) und vor allem seit der Eroberung des Aargaus (1415) einigend wirkte: Die damals Acht Orte verwalteten und verteidigten die Beute als Gemeine Herrschaft gemeinsam. Sie schlossen auch die Zugewandten Orte oder später aufgenommene Kantone von der Herrschaft und den Erträgen derjenigen Territorien aus, bei deren Eroberung sie nicht mitgewirkt hatten.
Erst nach der Krise des Alten Zürichkriegs erhielt diese eine, Achtörtige Eidgenossenschaft allmählich exklusiven Charakter, sodass man fortan von einer «Aufnahme» von neuen Mitgliedern reden kann. Bis zur konfessionellen Spaltung waren die Grenzen noch sehr flüssig zwischen dem inneren Kern der Eidgenossen und den Zugewandten Orten, die oft gleichsam in einer Warteposition dem Beitritt entgegensahen und mit eigenen Kontingenten an den militärischen Expeditionen teilnahmen. Das galt im 15. Jahrhundert insbesondere für Solothurn und Appenzell. Die Städte Schaffhausen und St. Gallen schlossen 1454 einen Bund mit sechs Orten, ohne Uri und Unterwalden. Alle acht Orte verbanden sich 1463 mit dem schwäbischen Rottweil, und 1466 bildeten Bern und Solothurn eine Allianz mit dem elsässischen Mülhausen. Das Hüpsch Lied vom Ursprung der Eydgnoschaft listete 1477, im Zeitalter der Burgunderkriege, zuerst die acht Orte auf, die «vest und weiss» seien, beständige und weise, fromme Glieder des Bundes. Die «rechte Eydgnoschafft» reiche aber weiter: «Solothurn ein alter stamm», Freiburg, Biel, Appenzell, Schaffhausen, Stadt und Abt St. Gallen. «Strasburg gehörtt auch in den pund», ebenso weitere Elsässer Städte wie Colmar und Schlettstadt, aber ebenso die Herzöge von Österreich, Lothringen und Mailand.51 Das war die momentane Allianz, die gegen Karl den Kühnen antrat. Sie umfasste Habsburger und andere Herzöge, und nirgends stand geschrieben, dass ein Kirchenfürst wie der St. Galler Abt nicht mehr werden konnte als der nächste und ranghöchste Zugewandte Ort, protokollarisch gleichsam der 14. Kanton der Alten Eidgenossenschaft. Gerade weil die Bündnisse situationsbezogen waren und für viele Entwicklungen offen blieben, ist die Rede – im Hüpschen Lied – vom «Ursprung» oder später von der «Gründung» der Eidgenossenschaft irreführend, denn es handelte sich um einen Verdichtungsprozess von verschiedenen Polen her.
Das lag nicht zuletzt daran, dass kein Reichsstand, und damit auch nicht die künftigen schweizerischen Kantone, seine Herrschaft kollektiv aus solchen Bünden hergeleitet hätte. Die ersten, zeitgenössischen Zürcher Chroniken erwähnten den Bund von 1351 mit den Waldstätten ebenso wenig wie Justinger deren ersten Bund mit Bern (1323); derjenige von 1353 fehlte am sachlich-chronologisch richtigen Ort und wurde erst später nachgetragen.52 Die Staatlichkeit der einzelnen Orte gründete nicht in ihren Bündnissen, sondern in ihren individuellen Reichsprivilegien. Darin gewährte der König (oder Kaiser) des Heiligen Römischen Reichs Vorrechte, die legitime Herrschaft erst schufen. Besonders wichtig waren Privilegien im Bereich der Rechtsprechung, etwa das Blutgericht (das mit Todesstrafen enden konnte) oder die Zusage, dass Gerichtsurteile nicht durch Appellationen an andere Gerichte in Frage gestellt werden konnten. Für ihre geleisteten Dienste oder Geldzahlungen erwarben die meisten zukünftigen Orte den umfassenderen Status eines Reichsstands, der dem König und dessen Schutz unmittelbar unterstand. Die früheste erhaltene Bestätigung dieser «Reichsfreiheit» erhielt Schwyz 1240; in den anderen Orten fallen die Freiheitsbriefe zumeist in das 14. und 15. Jahrhundert. Zumindest vorübergehend erlangten auch andere Herrschaftsträger in der heutigen Schweiz Reichsfreiheit: so Hasli, Frutigen und Guggisberg, später Baden, Bremgarten und Mellingen. Die Beispiele zeigen, dass Reichsfreiheit nicht unbedingt davor bewahrte, vom mächtigen Nachbarn annektiert zu werden.
Die Bedeutung der königlichen Privilegien zeigte sich darin, dass sie sorgfältig aufbewahrt wurden und, als Ausweis der Herrschaftsrechte, auch aufbewahrt werden mussten. Bei Bündnissen war das anders. Der Vertrag von 1291 ging bald vergessen, spätestens nachdem 1315, im Anschluss an die Schlacht bei Morgarten, ein neuer, in Brunnen beschworener Bundesbrief Uri, Schwyz und Unterwalden umfasste, für die 1309 erstmals die Kollektivbezeichnung «Waldstätte» überliefert ist. Immerhin blieb das Dokument von 1291 erhalten, anders als die Urkunde eines in seinem Text erwähnten früheren Bündnisses. 1758 wurde es wieder entdeckt und 1760 erstmals gedruckt, weckte aber vorerst kein besonderes Aufsehen. Das geschah auch erst einige Zeit nach der zweiten Edition durch Joseph Eutych Kopp im Jahr 1835. Für Kopp selbst war das Bündnis nicht grundlegend, da er den Innerschweizer Konflikt mit den Habsburgern erst – durchaus zutreffend – im Vorfeld des Morgartenkriegs ortete.
Die liberale Nationalgeschichtsschreibung sah dann in der Urkunde von 1291 den «Stiftungsbrief der schweizerischen Eidgenossenschaft», wie es Wilhelm Oechsli 1891 festhielt.53 Diese Einschätzung war bei einem reformierten Zürcher Geschichtsprofessor nicht selbstverständlich, denn es gab 1291 auch ein anderes Bündnis, das am 16. Oktober Schwyz und Uri zum gegenseitigen Schutz schlossen und zwar mit – Zürich! Es war allerdings auf drei Jahre befristet und nicht, wie die Allianz vom August, auf «ewig» geschlossen, was so viel bedeutete wie «unbefristet».54 Vor allem fokussierte der auch inhaltlich knappere Bund vom Oktober nicht auf die Waldstätte, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts programmatisch als «Urschweiz» bezeichneten. Das entsprach dem Bild, das im 15. Jahrhundert entstanden war und die nationale Geschichte als Reihe von Beitritten zu einem ursprünglichen Bund verstand.
Vom «Stiftungsbrief» sprach Oechsli nicht zufällig in dem Jahr, in dem erstmals am 1. August offiziell des Bundesbriefs gedacht wurde, und zwar im Sinn einer Gründungsakte. Der Aufschwung der Geschichtsschreibung als wissenschaftlicher Disziplin hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie den neu entstehenden Nationalstaaten ihre möglichst weit ins Mittelalter zurückreichenden Wurzeln nicht mehr mit legendären Überlieferungen, sondern mit Originalquellen, namentlich Urkunden, belegte und einordnete. Im Fall der Schweiz war dies zusätzlich verzwickt, weil der Nationalstaat in einem Bürgerkrieg zwischen liberalen Nationalisten und konservativen Föderalisten erkämpft worden war. Die Wunden des Sonderbundskriegs von 1847 waren am Ende des Jahrhunderts bei den Innerschweizer Verlierern noch kaum vernarbt. Zudem hatten der liberale Kulturkampf gegen die «ultramontane», auf die römische Kurie ausgerichtete katholische Kirche und die neue Bundesverfassung von 1874 mit ihren konfessionellen Sonderartikeln sie wieder aufgerissen. Insofern war es sehr symbolträchtig, dass dieser liberale Bundesstaat das Jahr 1848 stets vernachlässigte, wenn es seine Anfänge zu feiern galt – als liberal-nationalen Gründungsakt, wie ihn für die USA 1776 darstellte, für Frankreich 1789, für Italien 1860 oder für Deutschland 1871. Auch die moderne Schweiz entstand durch Revolutionen, zuletzt durch den illegalen Bruch mit dem völkerrechtlichen Bundesvertrag von 1815: Dessen Revision 1847/48 hätte Einstimmigkeit der vertragschliessenden, souveränen Kantone erfordert. Trotz oder gerade wegen dieser illegitimen Geburt folgte die liberale Schweiz in ihrem Geschichtsbild dem Beispiel Grossbritanniens, wo mit der Magna Charta die vormodernen, kollektiven und ständischen Freiheitsrechte gefeiert wurden, nicht die individualistischen Grundrechte der Moderne.
Die Gedenkfeier für das 600-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft wurde relativ kurzfristig, 1889, zuerst in Bern angeregt, der Haupt- oder vielmehr Bundesstadt des neuen Nationalstaats. Dort wollte man den Anlass mit der 700-Jahr-Feier der eigenen Stadt zusammen begehen. Das Vorhaben stiess in der Presse durchaus auf Kritik, weil es «einen zu archivarischen Charakter» habe; die Feier sei «keine Naturblume, keine Alpenrose, in den Bergen gewachsen, sondern ein Zimmergewächs der Gelehrten- und Beamtenstube».55 In den Alpen sah man das anders, wollte aber diesen Anlass nicht der urbanen, protestantischen Schweiz überlassen, die im Bund von 1291 nicht vorkam. Dieser verwies auf die drei Urkantone und vor allem auf Schwyz, wo das einzige erhaltene Exemplar des Bundesbriefs aufbewahrt wurde; allerdings noch nicht im erst 1936 errichteten Bundesbriefarchiv. Schwyz, die Gemeinde, stach nicht nur Bern aus, sondern auch die kantonalen Mitbürger in Brunnen, das als Bündnisstätte von 1315 ursprünglich und bis weit ins 19. Jahrhundert im Vordergrund gestanden hatte. Auch der Bundesschwur auf dem Umschlag dieses Buches, eine auf 1578 datierte Federzeichnung in einer Abschriftensammlung des Chronisten Christoph Silberysen, illustrierte diesen Bund von 1315. Sein Text wurde im Unterschied zu demjenigen von 1291 bereits im 14. Jahrhundert wiederholt abgeschrieben, also von den Zeitgenossen als grundlegend angesehen. Für Brunnen sprach zudem seine Nähe zum bereits mythischen Rütli auf der gegenüberliegenden Seeseite. Das brachte allerdings auch Schwierigkeiten mit sich: Das Rütli gehört zu Uri, und für die Urner ging die Schweiz, in Übereinstimmung mit Aegidius Tschudi, auf 1307 als Jahr des Rütlischwurs zurück. Tatsächlich hatte die Tagsatzung 1807, damals allerdings ohne viel Aufheben, des «fünften Jubeljahrs der alten Schweizerischen Freyheit» gedacht.56 1891 hingegen stritten sich die beiden Urkantone, weil das Schwyzer Festprogramm den eigenen Beitrag zur Schweizergeschichte allzu exklusiv hervorhob; Tell erhielt bloss eine Statistenrolle. Entsprechend trotzig trägt in Altdorf seit 1895 die von Richard Kissling geschaffene Statue von Tell mit Sohn auf dem Sockel die Jahreszahl 1307. 1907 feierten die Urner folgerichtig 600 Jahre Rütlischwur, mit prominenter Beteiligung von freisinnigen Bundesräten.
In der «Urschweiz» war also das Gründungsdatum noch lange Zeit strittig: 1291 für die Gemeinde Schwyz, 1307 für Uri, 1315 für Brunnen. Die liberale Mehrheit im Bund spielte gleichsam den Schiedsrichter, der sich für das möglichst weit zurückliegende und urkundlich in Schwyz belegte Datum 1291 entschied. Gemeinsam freuen konnten sich gleichwohl alle Innerschweizer über ein Geschichtsbild, das die Verlierer von 1847 im Zentrum der Erzählung beliess, wie es das Weisse Buch und Aegidius Tschudi beschrieben hatten. Demnach hatten sich die Waldstätte zusammengeschlossen, um die habsburgischen Usurpatoren zurückzuweisen; von diesen bedrängt, habe danach ein Ort nach dem anderen Anschluss gesucht an den Bund, der so als antihabsburgisches, freiheitliches Verteidigungsbündnis gross und dauerhaft geworden und schliesslich genetisch in den Bundesstaat übergegangen sei. Anfang und Kern des Schweizerbundes lagen also angeblich in den katholischen Gefilden, in denen der Widerstand gegen den Bundesstaat und dessen moderne Freiheiten seit jeher seine Bastionen hatte. Obwohl die Eidgenossenschaft erst dank den grossen, zusammenhängenden Territorien der später reformierten Kantone Zürich und Bern die Voraussetzungen erlangte, um sich als europäischer Kleinstaat auf Dauer zu behaupten, wollte man um 1900 im frühesten belegten Bündnis den Samen erkennen, aus dem der Schweizer Stamm erwuchs. Die vormoderne Landsgemeinde, nicht das liberale parlamentarische Repräsentativsystem war sein Symbol. Tatsächlich wurde 1891 auch die Verfassungsinitiative eingeführt, nachdem bereits seit 1874 das Referendum existierte und den Konservativen das Nein-Sagen erleichterte. Ihre Referendumsmacht hatte den weiteren Ausbau des Nationalstaats etwa im Bereich von Schule, Militär oder Eisenbahnen blockiert. Auch deswegen wählte, ebenfalls 1891, die freisinnig dominierte Bundesversammlung mit dem Luzerner Josef Zemp erstmals einen Katholisch-Konservativen in den Bundesrat, einen Vertreter der Verlierer von 1847. Deren Föderalismus drückte sich darin aus, dass die Feier am 1. August seither eine Bundesfeier ist und nicht ein Nationalfeiertag wie anderswo. Erinnert wird also an den bündischen Zusammenschluss von autonomen Kleinstaaten, den laut Bundesverfassung weiterhin souveränen Kantonen, die gleichrangig im Ständerat vertreten sind – und nicht an die Nation von freien und gleichen Bürgern, deren Stimmen im Nationalrat gleich viel wiegen.
Wenn das Jahr 1891 die Annäherung der Sonderbundsfeinde zumindest auf nationaler Ebene symbolisierte, dann zugleich auch die Abgrenzung des entstehenden Bürgerblocks gegen die Arbeiterbewegung. Gewerkschaften und Sozialdemokraten feierten 1890 erstmals die 1. Mai-Feier, den die ein Jahr zuvor gegründete Zweite Internationale als Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen hatte. Dies war eine internationale Feier von bloss einer gesellschaftlichen Klasse; der 1. August dagegen eine nationale Feier, die alle Klassen umfassen und damit auch ihre Gegensätze aufheben sollte in der gemeinschaftlichen Liebe zum Vaterland. Das Altbewährte sollte Orientierung liefern in einer Zeit des schnellen und für viele bedrohlichen Umbruchs in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine 1891 veröffentlichte Ausgabe der Bundesbriefe empfahl diese «für die Schweizer Jugend» zur besseren Lektüre «als nur die Fahrtenpläne der Eisenbahnen, den Kurszettel der Börse und die Preise von Baumwolle, Sprit und Petroleum».57 Hierin bestand der ideologische Kompromiss, der Konservative und Liberale einte: Die ewige Schweiz war der gemeinsame Bezugspunkt, obwohl sie für Erstere ein in der Vergangenheit verankerter Schutzverband der althergebrachten kantonalen Freiheiten war, für Letztere eine dank dem Nationalstaat dynamische Gestalterin der gemeinsamen Zukunft.

2

Wilhelm Tell

«Hier am Gotthard entstand unser schweizerischer Staatsmythos, der sogar ein doppelter ist: Die Geschichte vom Einzelgänger Wilhelm Tell, der zum Tyrannenmörder wurde. Und die Geschichte vom Rütlischwur als Zeichen des Zusammenstehens, der Gemeinschaft – einer echten, der Solidarität. Man kann viel Abschätziges hören und lesen über die Gründungsgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das seien ja alles nur Mythen. Ja und?»58
Es ist nicht besonders originell festzuhalten, dass Wilhelm Tell nie existiert hat. Zwar gibt es Autoren, die sich in Publikationen mit dem alles sagenden Titel …Und es gab Tell doch oder Wilhelm Tell – nicht umzubringen über diese Frage ereifern können.59 Aber die Zweifel an seiner Existenz sind praktisch gleich alt wie sein literarisches Leben, das mit der ersten – 1507 in Basel – gedruckten Schweizer Geschichte, Petermann Etterlins Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, richtig einsetzte, nicht zuletzt dank den Illustrationen. Aegidius Tschudi brachte diese Erzählung in der Mitte des 16. Jahrhunderts in die Form, die über den Aufklärer Johannes von Müller und Friedrich Schiller auf uns gekommen ist. Bereits Tschudis Zeitgenosse, der St. Galler Humanist und Reformator Vadian, war skeptisch gegenüber der Gründungssage. Der erzkatholische Freiburger Historiker Franz Guillimann erwähnte den Armbrustschützen zwar 1598 in seiner Schweizer Geschichte, meinte aber 1607 in einem vertraulichen Brief, es handle sich wohl um eine reine Fabel, für die es keinerlei zeitgenössische Quellen gebe.60
Damals wussten die Gebildeten bereits, dass der dänische Historiker Saxo Grammaticus um 1210 in seiner Gesta Danorum die Geschichte des Bogenschützen Toko erzählt hatte, die in wesentlichen Elementen die Tellensage vorwegnahm: Apfelschuss, zweiter Pfeil, Tyrannenmord im Wald. Gleichwohl war es ein Skandal, als der Ligerzer Pfarrer Uriel Freudenberger 1760 in Zusammenarbeit mit Gottlieb Emanuel von Haller, dem Berner Bibliografen, auf Deutsch und Französisch Der Wilhelm Tell. Ein Dänisches Mährgen veröffentlichte. Uri liess den Henker das Werk öffentlich verbrennen und schenkte dem Luzerner Joseph Anton Felix Balthasar eine Goldmedaille für seine Replik Défense de Guillaume Tell. Drei Jahrzehnte später wurde Tell ein Held der Revolutionäre in Frankreich und ihrer aufklärerischen Anhänger auch in der Schweiz. Als Freiheitsheld schmückte er ab 1798 Fahne und Siegel der Helvetischen Republik. Doch deren föderalistische Gegner und Verteidiger des Ancien Régime beriefen sich genauso entschieden auf Tell als Symbol ihrer alten, kantonalen Freiheiten. Mit ähnlichen Positionen stritten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Liberale und Konserv...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Inhalt
  4. Einleitung
  5. Zur Einführung: Grundlinien der Geschichtsschreibung über die Schweiz
  6. 1 Der Bund von 1291
  7. 2 Wilhelm Tell
  8. 3 Die Erbfeindschaft der österreichischen Vögte
  9. 4 Ein einzig Volk von Brüdern
  10. 5 Die faktische und die juristische Unabhängigkeit
  11. 6 Neutral seit Marignano
  12. 7 Ein Volk in Waffen
  13. 8 Die schreckliche Franzosenzeit
  14. 9 Die verleugnete Revolution
  15. 10 Willensnation
  16. 11 Direkte Demokratie
  17. 12 Die humanitäre Tradition
  18. 13 Stachelschwein im Réduit
  19. 14 Schweizerische Freiheit
  20. 15 Die Schweiz – ein Sonderfall?
  21. Ausblick
  22. Anmerkungen
  23. Bibliografie der grundlegenden oder abgekürzt zitierten Literatur
  24. Zeittafel Schweizer Geschichte
  25. Namens- und Ortsregister
  26. Der Autor
  27. Weitere Bücher
  28. Impressum