Briefwechsel zwischen Diana Bach und Robi Minder
Mails von Juli 2013 bis Dezember 2016
Vorerst muss ich dir das Sali erklären: Wie du am Telefon gehört hast, bin ich mittlerweile ein richtiger Basler geworden! Hierzulande brauchen wir dieses Sali sowohl zum Gruss wie auch zum Abschied, lass dich also davon nicht verwirren.
Seit meinem Anruf vor drei Tagen versuche ich mich immer wieder zu erinnern, was denn eigentlich der Inhalt unseres etwas konfusen und emotional geführten Gespräches war. So genau bekomme ich es nicht mehr hin. Jedenfalls möchte ich mich an dieser Stelle nochmals entschuldigen, dass ich dir mit einer manchmal tief bewegten, gar weinerlichen Stimme begegnete. Aber wen wundert es, schliesslich sind 51 Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, damals, als ich unser schreckliches Kinderheim Richtung Basler Waisenhaus verlassen durfte. Da soll verziehen sein, dass erst einmal Emotionen unsere Wiederbegegnung bestimmten! Darf ich nun annehmen, dass wir mit etwas kühlendem Abstand einen Weg finden werden, um einander wieder besser kennenzulernen?
Du sollst aber zuallererst wissen, dass ausgerechnet du mir immer im Gedächtnis geblieben bist. Der Name Diana Herzig schob sich, zusammen mit den Bildern zu Elisabeth, meiner Schwester, immer zuoberst in meine Erinnerungen an die Wiesengrund-Zeit. Über ein halbes Jahrzehnt verbrachten wir gemeinsam dort, und ich blieb dann noch zwei weitere Jahre bei Bauer Ammann.
Nun ja, ich glaube, ich habe dir erklärt, wie es zu diesem überraschenden Anruf kam? Dass ich mich nach meiner Pensionierung endlich daran machte, in allen möglichen Archiven nach Akten von mir und Elisabeth zu suchen. Bis jetzt ohne grossen Erfolg. In meiner Enttäuschung habe ich mich schliesslich an das Staatsarchiv St. Gallen gewandt, weil unsere Villa Wiesengrund ja zu dessen Einzugsgebiet gehört. Der dortige Archivar, Herr Marcel Müller, ein überaus freundlicher Mann mit grossem Sachverstand, kümmerte sich mit engagierter Empathie um mein Anliegen. Er meldete mir schliesslich zurück, dass zwar ein Dossier mit geringem Umfang über das Heim existiere, jedoch nur ein Sachdossier. Mit bescheidenem Inhalt und ohne jeden Bezug zu den ehemaligen Heimkindern dort. Aber jüngst habe eine Ehemalige namens Diana Bach dem Dossier eine Berichtigung beigefügt. Die Dame habe ihm erlaubt, diese Stellungnahme ohne weitere Schutzfrist auch an Dritte weiterzugeben. Er könne sie mir also gerne zuschicken.
So öffnete ich gleich anderntags das gelbe A-Post-Couvert und setzte mich damit auf den Balkon. Natürlich hatte ich gleich eine Ahnung, dass die Gegendarstellung dieser Diana Bach nur von jener Diana sein konnte, an die ich mich so klar erinnerte. Augenblicklich sah ich das schüchterne Mädchen, das mir mit seiner Taktik, sich niemandem zugänglich zu machen, schon immer aufgefallen war. Es huschte an einem vorbei, unfähig der Rede und Antwort, ängstlich getrieben, kränklich bleich und dabei – für mich doch schön! Eulenmalen habe ich mir damals als Imponierwerbung ausgedacht, wohl mit netten Worten versehen. Vor oder nach der Flötenstunde habe ich sie dir zugeschoben – ob du es noch weisst? Ich muss mir wohl eingestehen, dass dich meine Eulenkunst nicht allzu sehr betört hat. Es werden 51 Jahre vergehen, bis wir uns wiedersehen, und längst habe ich das Eulenmalen verlernt.
Nun also lag dein Kommentar vor mir, dazu der Originalbrief deines Vormunds, auf den sich dein Schreiben bezog. Mit diesem Brief hielt ich erstmals ein Dokument aus der Wiesengrund-Zeit in meinen zittrigen Händen. Geschrieben vor bald sechzig Jahren. Ein behördliches Verteidigungsschreiben, an unsere Peiniger gerichtet, an die Heimeltern von damals. Diese Zeilen haben mich augenblicklich in jene schlimmen Jahre zurückversetzt, in denen wir nichts zu sagen hatten und nichts zu sagen vermochten. Zu mächtig war der Filz über uns. Es war die Zeit der Isolation, der Abgeschiedenheit und Kälte. Die Zeit der Schlagtiraden und der Gewalt. Der Brief deines Vormunds war ein eindrückliches Zeugnis, wie wir Heimkinder niemals gefragt wurden, wie es uns wirklich ging. Wie allergrösste seelische Not nicht gesehen werden wollte. Wie behördliche Vertreter zusammen mit den Heimeltern jede Kritik sofort zum Schweigen brachten. Mit einem einvernehmlichen Schreiben.
Ich wurde beim Lesen dieses Briefes sofort – was ich nicht mehr für möglich gehalten hatte – in diese Zeit der bitteren Ohnmacht zurückversetzt. Meine Körperhaare stellten sich auf und in dieser Ergriffenheit fasste ich sogleich nach dem Hörer, um dich anzurufen. Aber mehrmals verliess mich der Mut. «Wird sie sich an mich erinnern, nach über fünfzig Jahren? Werde ich meine Gefühle im Griff haben?» Mein ganzer Körper vibrierte. Schliesslich wählte ich deine Nummer, und schon hörte ich deine Stimme: «Bach.» Ich glaube, ich stotterte: «Do isch de Robi Minder vom Chinderh …», und schon unterbrachst du mich, gabst die klärende Antwort: «De Robi vom Wiesengrund?» Ja, und dann hatten wir uns gefunden.
Wie gesagt, ich kann mich kaum mehr an unser Gespräch danach erinnern, dafür sehr wohl, wie ich fast keine Stimme mehr hatte und einfach zutiefst berührt war. Und mich plagt die Frage, was du wohl über mein weinerliches Auftreten denkst und ob ich mir damit gar ein mögliches Treffen mit dir verspielt habe! Denn genau das möchte ich, dich treffen und reden. Austauschen. Reden. Jeder Ort soll mir recht sein, lass dir Zeit, du darfst bestimmen.
Inzwischen grüsse ich dich freundlich Robi Minder
Im Kanton St. Gallen haben Betroffene seit 2011 die Möglichkeit, ihren persönlichen Akten oder dem damit verknüpften Archivgut eine Gegendarstellung beizufügen. Auch in einzelnen anderen Kantonen ist die Möglichkeit eines Bestreitungsvermerks ins Archivgesetz aufgenommen worden. So werden die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen zumindest rudimentär sichtbar und können als Teil der Geschichte in die Archive und die Geschichtswissenschaft Eingang finden.
Diana Bach fand im Dossier zum Kinderheim Villa Wiesengrund einen Brief ihres Vormunds, in dem dieser sich über Angriffe auf das Heim empörte. Der Brief ist an das Heimelternpaar adressiert und illustriert die unhinterfragte Loyalität des Beamten mit den von ihm hoch geschätzten Heimleitern. Diana Bach stellt in ihrer Gegendarstellung dem Lob des Vormunds ihre misslichen Erfahrungen entgegen. Und weist darauf hin, dass er seine Loyalität ohne ernsthafte Prüfung der tatsächlichen Zustände im Heim aussprach.
Ich danke dir für dein Mail.
Natürlich hat mich dein Anruf völlig überrascht. Jedoch war mir, als ich dich am anderen Ende des Drahtes hörte, gleich klar, dass es du bist, der da redet. Ja was, de Robi, unglaublich, was für ein Wunder! Und aha, durch das St. Galler Staatsarchiv hast du von mir erfahren, also auch du bist nachforschen gegangen. Ausgerechnet du. Denn auch ich habe, früher mehr als später, ab und zu an dich und deine Schwester Elisabeth gedacht. Und nun, als ich deine Stimme hörte, sah ich dich gleich wieder vor mir, ziemlich deutlich, du als eher schmächtiger Bub. Deine Stimme als erwachsener Mann heute war zwar anders, aber sie kam sehr empfindsam zu mir herüber. Das hat mich gleich etwas geöffnet. Und ich vermute, dass wir beide uns gut verstehen könnten. Ich freue mich also, dich wiederzusehen. Wir werden uns nicht wenig zu sagen haben.
Deine Beschreibung des Mädchens Diana, wie du es erinnerst, hat sehr gut getroffen. Wie ich damals auf andere wirkte. Dieses schüchterne Wesen hatte sich längst selbst aufgegeben. Mit neun Jahren war ich in dieses Heim gekommen, sozusagen vormundschaftlich entsorgt, in eine Atmosphäre, die, was ich dir ja nicht zu sagen brauche, kinderfeindlicher nicht hätte sein können. Aber die einen von uns traf es mehr als die anderen. Und da ich ein ausserordentlich sensitives und auch begabtes Mädchen war, habe ich mich im Wiesengrund noch mehr als schon vorher von meinem Wesen, meinen Gefühlen und Lebensbedürfnissen abgetrennt. Ich wurde immer mehr ein Schatten, um so der Schreckensherrschaft unserer Heimmutter ausweichen zu können. Wie sehr sich diese Selbstaufgabe in meiner Erscheinung zeigte, bekomme ich nun durch dein Schreiben zum ersten Mal so direkt gespiegelt. Obwohl ich das Schattenhafte lebenslang nicht losgeworden bin. Meine Unnahbarkeit, meine Kontaktschwierigkeit – dieser nicht zu fassende Nebel – gehören bis heute zu mir und haben mir ständig grosse Nachteile gebracht.
Villa Wiesengrund – das heisst für mich sieben Jahre Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit. Auch unter uns Kindern. Wir Mädchen konnten uns nicht verbinden, dafür sorgte die Heimmutter erfolgreich, mit Flicken und Putzen und Abwaschen, mit Verboten, aber auch mit gezielten Intrigen und Bevorzugungen. Und der Kontakt zu euch Buben war sowieso verboten. Vermute ich richtig, dass ihr mehr zusammen machen durftet, weniger isoliert gehalten wurdet als wir Mädchen? Und was habt ihr eigentlich alles arbeiten müssen, während wir im Hause zu schuften hatten? Du siehst, die Fragen bei unserem Treffen werden uns nicht so schnell ausgehen.
Ja, als ich bei meinem Besuch im St. Galler Staatsarchiv auf besagten Brief meines Vormunds stiess, war ich zutiefst empört. Meine Wirklichkeit war eine entsetzlich andere gewesen, und das wollte ich als Korrigenda in die Akte einbringen. Wollte festhalten, wie sehr ich mich, die ich bereits mehrmals umplatziert worden war, dort im Wiesengrund unwohl gefühlt hatte, wie sehr die Angst vor der Strenge und Willkür der Heimmutter dominierte, sodass ich im ersten Jahr in eine Art psychisch bedingtes Fieber geriet. Man hat dies dann mit dem Ziehen eines gesunden Backenzahns behandelt, und mit der Entfernung eines gesunden Blinddarms und gesunder Mandeln. Eine schlimme Tortur. Bei mir haben die Eingriffe unschöne Wundmale hinterlassen. Dazu kostspielige Zahnstellungsprobleme und ein geschwächtes Immunsystem. Das alles und noch viel mehr wollte ich in meiner Stellungnahme festhalten. Was ich dann genau geschrieben habe, weiss ich heute gar nicht mehr. Ich kann den Text nicht mehr finden.
Jedenfalls hat mir der Brief des Vormunds, genau wie du schreibst, den schlimmen Filz der Erwachsenen vorgeführt, dem wir Kinder wehrlos ausgeliefert waren. Dass man uns damals nicht fragte und uns auch nicht glaubte, war ein gewichtiger Grund für das Elend von uns fremdplatzierten Kindern.
Übrigens hat mir ein ehemaliger Heimbub, mit dem ich ab und zu Kontakt habe, verraten, dass unsere Heimmutter wegen Klagen zwei Mal vor Gericht habe erscheinen müssen. Ich fuhr auch deshalb nach St. Gallen, weil ich hoffte, im Staatsarchiv mehr zu erfahren. Doch es fand sich kein einziger Hinweis darauf. Einfach nichts. Auf mein Staunen antwortete der freundliche Archivar, nun misstraue er dem Geschriebenen noch mehr als bis anhin. Lass uns unser Treffen besser telefonisch abmachen. Rufst du mich an? Bis bald!
Mit lieben Grüssen Diana
Nachbemerkung: Nachdem ich diese meine allzu lang geratenen Ausführungen geschrieben hatte, setzte ich mich ans Klavier und spielte zum ersten Mal in meinem Leben eine traurige Improvisation, für das damalige Schattenmädchen Diana.
Robi Minder und Diana Bach verabreden sich für den 2. August 2013. Sie sehen sich nach 51 Jahren zum ersten Mal wieder. Auf der Basler Rheinterrasse erzählen sie einander aus ihrer Kindheit und ihrem späteren Leben. Das Treffen dauert sieben Stunden.
Lieber Robi | 10. August 2013 |
Unsere erste Begegnung nach der jahrzehntelangen Trennung liegt nun bereits ein paar Tage zurück, über die Nachwirkungen ein anderes Mal mehr. Heute nur kurz, ich bin müde. Aber ich habe dir ja versprochen, dich über diese Treffen der Betroffenen zu informieren. Am Freitag, 23. August, findet in Olten eine erste Sitzung statt. Es geht darum, wie es weitergehen soll nach dem abschlägigen Entscheid des Nationalrats in der Frage der Entschädigung. Guido Fluri, selbst Betroffener, als Immobilienmakler sehr reich geworden, und einer seiner Juristen werden mit dabei sein. Er hat ja die Idee einer Initiative aufgeworfen. Doch ich glaube nicht an eine Resonanz im Volk.
Eine juristische und eine politische Beratung wären für unser Anliegen jetzt sehr wichtig. Dies organisierten sich damals auch die Jenischen bei ihrem Kampf. Vielleicht kannst du es dir auch einrichten, nach Olten zu kommen?
Liebe Grüsse
Diana
Bevor das Schicksal der ehemaligen Verding- und Heimkinder in den Fokus der politischen Öffentlichkeit rückte, war in der Schweiz bereits ein erster Skandal aufgebrochen, der die Wegnahme und Fremdplatzierung von Kindern aus sogenannten Vagantenfamilien aufdeckte. Dabei handelte es sich grossteils um die Kinder von Fahrenden. Zwischen 1926 und 1973 wurden im Rahmen des von der Pro Juventute gegründeten «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» mit Hilfe der Behörden fast 600 vorwiegend jenische Kinder ihren Eltern entrissen und in Pflegefamilien und Erziehungsheimen platziert. Das «Hilfswerk» erhielt von 1930 bis 1967 Subventionen des Bundes und arbeitete eng mit den Vormundschaftsbehörden und Kinderheimen zusammen. Die Kinder sollten aus ihren Milieus «gerettet» und zu «arbeitsamen und sesshaften» Menschen erzogen werden.
Ideologisch gestützt waren diese Platzierungsmassnahmen von einer rassenhygienisch orientierten und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts europaweit eng verbundenen Forschung und Psychiatrie. In der grundlegenden Annahme einer Minderwertigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen deckten sich die Ansichten eugenisch und rassentheoretisch denkender Psychiater und ihrer in der Fürsorge tätigen Gefolgschaft über weite Strecken. Mit gezielten Massnahmen wie Kindeswegnahme, Verwahrung, Eheverhinderungen und Sterilisation sollte das «minderwertige Erbgut» ausgemerzt werden. Auch der Leiter des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse», Alfred Siegfried (1890–1972), teilte in wichtigen Punkten diese eugenische Sicht und bezog sich in seinen Reden u. a. auch auf Robert Ritter, einen führenden Psychiater und Rassentheoretiker des Dritten Reiches. Dieser liess u. a. ab Mitte der 1930er-Jahre als Leiter der «Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle» im nationalsozialistischen Deutschland genaue Genealogien und Karteikarten für alle Roma und «Zigeunermischlinge» im Gebiet von Grossdeutschland sammeln und erstellen. Alfred Siegfried grenzte sich allerdings in...