Zweiter Teil
Organisierte Interessen und politisches Engagement der Schweizer Wirtschaftseliten
Die Schweizer Wirtschaftseliten sind kollektiv gut organisiert und verfügen über eine starke politische Mobilisierungskraft. Fern vom verbreiteten und in liberalen Sonntagsreden gerne beschworenen Bild des individualistischen Unternehmers zeichnen sich die Topmanager und Grossunternehmer durch ihre hohe Einbindung in vielfältigen Organisationen aus, seien dies nun Branchen-, Regional- oder Spitzenverbände. Die kollektive Organisation beruht nicht nur auf Verbänden, sondern auch auf Praktiken, die weniger formalisiert und deshalb schwieriger zu dokumentieren sind. Dazu gehören etwa Kartellvereinbarungen und firmenübergreifende Personal- und Kapitalverflechtungen. Diese unterschiedlichen Formen kollektiven Handelns können rein wirtschaftliche Zwecke verfolgen, so etwa bei Preisabsprachen, bei der geografischen Aufteilung von Märkten, beim Aufbau eines effizienten Lehrlings- und Berufsbildungswesens, bei der Versorgung mit Krediten oder der Sicherung der Kontrolle über andere Unternehmen. Andere dienen stärker politischen Zielen, beispielsweise der Bildung einer geschlossenen Koalition in der politischen Arena.
Das politische Engagement der Unternehmerkreise hat verschiedene Facetten. Um Staatsinterventionen zu vermeiden, zogen die Wirtschaftseliten auf Selbstregulierung basierte Lösungen vor. Dennoch mussten sie ihre Positionen in ständiger Auseinandersetzung mit den politischen Behörden und der Verwaltung verfechten. Die spezifische Form dieses politischen Engagements kann weitestgehend durch den institutionellen Kontext der Schweiz erklärt werden – schwacher Bundesstaat, Milizsystem und direkte Demokratie. Ihr Mobilisierungsvermögen machte die Unternehmerkreise im 20. Jahrhundert zur vorherrschenden Kraft in der Schweizer Politik.
Alle diese Koordinationsformen verstärkten den Zusammenhalt und das Machtbewusstsein der Unternehmerverbände und ihrer Mitglieder. Trotz eines zersplitterten und vielfältigen Wirtschaftsgefüges gelang es den Spitzenmanagern, eine gesellschaftlich homogene und politisch geschlossen auftretende Koalition zu bilden. Dies hat mindestens zwei Gründe: Zum einen fühlten sich die Wirtschaftseliten im internationalen Umfeld verletzlich und versuchten deshalb im Inland die Reihen zu schliessen. Andererseits standen sie zusammen, um auf die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erstarkende Arbeiterbewegung zu reagieren und so ihre politische Vorherrschaft zu verteidigen.
In den folgenden Kapiteln behandeln wir die unterschiedlichen Formen kollektiver Organisation der Unternehmer. Zunächst richten wir unseren Fokus auf Firmennetzwerke. Dazu zählen wir Verflechtungen zwischen den Verwaltungsräten (Kapitel 5) und formelle Unternehmerorganisationen (Kapitel 6). Danach untersuchen wir das politische Engagement der Wirtschaftseliten: zuerst dessen sichtbarste Seiten – die politischen Karrieren von Wirtschaftsführern auf kantonaler und eidgenössischer Ebene (Kapitel 7); danach diskreter angelegte Strategien zur Einflussnahme auf die Verwaltung (Kapitel 8).
Kapitel 5
Das Unternehmensnetzwerk
Als Schlüsselperson des Schweizer Unternehmertums besetzte Hans Sulzer (1876–1959) Ende der 1930er-Jahre zahlreiche Machtpositionen in den grössten Schweizer Unternehmen. Er präsidierte neben dem Verwaltungsrat der von seinem Urgrossvater gegründeten Firma Sulzer auch die Aufsichtsgremien der Winterthur Versicherungen und der Saurer AG. In einer weiteren Firma der Metall- und Maschinenindustrie, der Maag AG, war er Vizepräsident, in den Verwaltungsräten der Bankgesellschaft, der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft (der heutigen Swiss Re), von Dubied und Alimentana war er einfaches Mitglied. Zudem präsidierte er den Vorort und sass im Bankrat der Nationalbank. Dieses Beispiel veranschaulicht mehrere Merkmale der Schweizer Wirtschaftseliten: das feinmaschige Netz zwischen den Verwaltungsräten der grössten Firmen, die enge Verbindung zwischen Finanz- und Industriesektor, die Schlüsselstellung von Familienunternehmen und die Konzentration der Macht bei einer Handvoll Individuen, die mehrere unternehmerische Führungsfunktionen kumulieren.
Unternehmensnetzwerke und die Koordination der Unternehmerinteressen
Mit der zweiten industriellen Revolution entstanden Ende des 19. Jahrhunderts neue Unternehmensformen. Immer mehr Unternehmen wurden als Aktiengesellschaften gegründet, deren wichtigste Anteilseigner den Verwaltungsrat bildeten. Sitzt ein Verwaltungsrat in mehreren Aufsichtsgremien, schafft er eine Verbindung zwischen den betreffenden Unternehmen. Durch ihre Mitarbeit in verschiedenen Verwaltungsräten können Mehrfachverwaltungsräte Informationen und Meinungen austauschen und diese zwischen den Firmen zirkulieren lassen. Im Konfliktfall dienen Verwaltungsräte als Plattformen für die Diskussion und Lösungssuche innerhalb der Elite, die von äusserer Einmischung – insbesondere seitens des Staats und der Arbeiterschaft – abgeschirmt ist. Netzwerke von Firmen mit einem oder mehreren identischen Verwaltungsräten dienen den Wirtschaftseliten als Organisations- und Koordinationsinstrumente: Enge Verbindungen weisen dabei in der Regel auf eine Zusammenarbeit zwischen den Firmen hin, schwache Verbindungen eher auf eine Konkurrenzsituation.27
Ein Blick auf die langfristige Entwicklung des firmenübergreifenden Netzwerks ermöglicht Rückschlüsse auf Stabilität und Wandel der Formen, in denen sich die Wirtschaftseliten organisierten. So wurden etwa in den USA Verbindungen zwischen Firmen aus derselben Branche seit dem frühen 20. Jahrhundert als Wettbewerbsverfälschung betrachtet und deshalb 1914 mit dem Clayton Act verboten. Durch diese Verschärfung der Antitrust-Gesetze verringerte sich nach und nach die Dichte der firmenübergreifenden Verbindun gen. Für die Schweiz lässt sich eine gegensätzliche Entwicklung feststellen. Wie Tabelle 9 zeigt, verdichtete sich das firmenübergreifende Netzwerk in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr. Seit der Zwischenkriegszeit teilten Schweizer Grossunternehmen im Durchschnitt mit sieben bis acht anderen Grossfirmen mindestens einen Verwaltungsrat (und manchmal mehrere). Dieser enge Zusammenhalt des Netzwerks bestand bis Anfang der 1990er-Jahre.
Tabelle 9
Der Zusammenhalt des Netzwerks der 110 grössten Schweizer Unternehmen, 1910–1980
| 1910 | 1937 | 1957 | 1980 |
Dichte (in %) | 5,1 | 7,3 | 7,9 | 8,1 |
Durchschnittliche Anzahl Verbindungen pro Unternehmen | 5,6 | 8,0 | 8,5 | 8,6 |
Dichte: Anzahl der bestehenden Verbindungen im Verhältnis zur maximal möglichen Anzahl von Verbindungen.
Durchschnittszahl der Verbindungen pro Unternehmen: Mehrfache Verbindungen (d. h., wenn zwei Unternehmen über mehr als einen gemeinsamen Verwaltungsrat verbunden sind) werden nicht berücksichtigt.
Zunehmende Nationalisierung
Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Verbindungen zwischen Schweizer Grossunternehmen in erster Linie auf regionaler Ebene. So fanden sich enge Verflechtungen um das Finanz- und Industriezentrum Zürich, die Chemiemetropole Basel oder auch in Schaffhausen und Winterthur, den Wiegen der Maschinenindustrie. Insbesondere der Finanzsektor spielte für die Konstruktion des Netzwerks eine wichtige Rolle. Weil der Schweizer Bankensektor im Vergleich zu anderen Industrieländern noch nicht stark entwickelt war, bildeten sich Verbindungen vor dem Ersten Weltkrieg vor allem um spezialisierte Finanzgesellschaften. Diese Gesellschaften waren im späten 19. Jahrhundert gegründet worden, um die Unternehmen der zweiten industriellen Revolution zu finanzieren, insbesondere die Firmen der Elektrizitätsbranche mit ihrem enormen Kapitalbedarf. Trotz ihres rechtlichen Status als Schweizer Unternehmen stammten ihre Finanzmittel häufig aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland. So gründeten die Leiter der BBC 1895 mithilfe von deutschen Partnern die Finanzgesellschaft Motor AG, um ihre elektrischen Anlagen zu finanzieren (Kapitel 1). Die BBC und die Motor AG teilten sich darauf mehrere Verwaltungsräte.
Die zwischen dem Industrie- und dem Finanzsektor bestehenden Verbindungen kommen in der Grafik 1 klar zum Vorschein. Es fällt auf, wie zentral die Finanzgesellschaften der Elektrizitätswirtschaft wie die Elektrobank, die Motor AG oder die Indelec, für das Netzwerk sind. Dasselbe gilt für die drei grössten Schweizer Banken, die Bank in Winterthur (ab 1912 Bankgesellschaft), die Kreditanstalt und den Schweizerischen Bankverein (SBV, im Folgenden Bankverein), deren Position sich nach dem Ersten Weltkrieg noch stärken sollte. Im Vergleich zu den folgenden Jahrzehnten sind Dichte und Kohärenz des Geflechts allerdings noch wenig entwickelt. Mehrere Firmen sind isoliert, das heisst mit keinem anderen Unternehmen des Netzwerks verbunden.
Grafik 1: Das Netzwerk der Personenverflechtungen zwischen den 110 grössten Schweizer Firmen 1910
Die Linien verbinden Firmen mit gemeinsamen Verwaltungsratsmitgliedern, die Dicke der Verbindungslinie variiert proportional zur Anzahl der gemeinsamen Verwaltungsräte.
Weisse Punkte stehen für Banken, Finanzgesellschaften und Versicherungen, schwarze Punkte für Unternehmungen aus anderen Wirtschaftssektoren.
Der Erste Weltkrieg spielte für die zunehmende Verflechtung der Firmen eine entscheidende Rolle. Denn die Schweizer Eliten wurden durch den Krieg in ihrem Bestreben bekräftigt, die Kontrolle über ihr Unternehmen zu behalten. Davon zeugt der Beschluss des Bundesrats, die Anzahl ausländischer Verwaltungsräte in Schweizer Firmen zu beschränken (Kapitel 1). Diese Abwehrhaltung gegen aussen trug dazu bei, dass sich im Inneren weitere Verbindungen zwischen den Unternehmen entwickelten. Ausländische Verwaltungsräte wurden durch Schweizer Staatsangehörige ersetzt. Weitere Gründe für die Verdichtung des Netzwerks waren der Aufstieg des Finanzplatzes und die Ausdehnung des nationalen Netzwerks der Schweizer Grossbanken in den Nachkriegsjahren.28 In der Elektrizitätsbranche führte der Krieg zu einer Lockerung der Finanzbeziehungen mit Deutschland. Die Schweizer Banken übernahmen die Reorganisation der Finanzgesellschaften im Elektrosektor und wurden zu ihren Hauptaktionären. Als Folge der «Nationalisierung» der Kontrolle über die Firmen und der wachsenden Beteiligungen der Banken am Industriesektor entstand ein Netzwerk, dessen Verbindungen allmählich das ganze Land überzogen. Der Zweite Weltkrieg sollte diesen Prozess noch verstärken.
Verbindungen zwischen Banken und der Industrie
Seit der Zwischenkriegszeit nahmen die Banken – neben den Finanzgesellschaften – eine immer zentralere Stellung im Netzwerk der grossen Schweizer Firmen ein: Besonders die drei Grossbanken Bankgesellschaft, Bankverein und Kreditanstalt hatten unzählige Verbindungen zu anderen Unternehmen. Die Grossbanken funktionieren nach dem kontinentaleuropäischen Modell der Universalbank und unterscheiden sich dadurch von Banken, die auf bestimmte Tätigkeiten wie die Vermögensverwaltung oder das Kreditgeschäft spezialisiert sind. Ihre zentrale Stellung im Netzwerk verdankten sie dem Umstand, dass zahlreiche Bankiers in Verwaltungsräten von Industriefirmen sassen. Die Banken beteiligten sich an den Industrieunternehmen, indem sie ihnen Kredite gewährten oder einen Teil ihrer Aktien übernahmen. Nehmen wir als Beispiel das Familienunternehmen Sulzer. Im Juni 1914 wurde Sulzer in zwei Aktiengesellschaften gespalten, die eine mit Sitz in Winterthur, die andere im deutschen Ludwigshafen. Beide wurden der Leitung einer neu gegründeten Holding mit Sitz in Schaffhausen unterstellt. Federführend bei dieser Operation waren die Bankgesellschaft und der Bankverein, die beide jeweils ungefähr 8 Prozent des Aktienkapitals der neuen Holding zeichneten. Rudolf Ernst (1865–1956), Verwaltungsratspräsident der Bankgesellschaft, und Léopold Dubois (1859–1928), Delegierter des Verwaltungsrats des Bankvereins, traten damals in den Verwaltungsrat von Sulzer ein.29
Trotz der Schlüsselrolle, die die Banken im Netzwerk einnahmen, hatten sie keine einseitige Kontrolle über die Industriekonzerne. Denn die Industrie konnte sich weitgehend selbst finanzieren und genoss eine beträchtliche finanzielle Unabhängigkeit. Doch häufig begrüssten die Industriellen es, wenn Bankiers in ihre Verwaltungsräte eintraten. Wegen des Depotstimmrechts kontrollierten die Banken eine grosse Zahl von Aktien, für die ihnen Kleinaktionäre das Stimmrecht an den Generalversammlungen delegiert hatten. Zudem waren die Beziehungen zwischen den Banken und der Industrie gegenseitig: Während viele Bankiers in den Verwaltungsräten grosser Industrieunternehmen sassen, hatten umgekehrt viele Grossindustrielle einen oder mehrere Verwaltungsratssitze bei Banken. So war 1937 Paul Jaberg (1878–1955), der Generaldirektor der Bankgesellschaft, Verwaltungsrat von Sulzer, während Hans Sulzer (1878–1959) im Aufsichtsgremium der Bankgesellschaft sass. Die Beziehungen zwischen Banken und Industrie fussten also auf einer engen Zusammenarbeit zwischen ihren Topmanagern, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts infrage gestellt werden sollte (Kapitel 10.) Die enge Verflechtung von Finanz- und Industriesektor wurde aber seit Ende der 1930er-Jahre wiederholt vonseiten der politischen Linken und der Gewerkschaften kritisiert, die dagegen protestierten, dass sich die wirtschaftliche Macht in den Händen ein...