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Schuberts Quintett Damals erschrocken, erinnere ich genau, wie sie die Musik zum ersten Mal hörte – fast erstarrt, mal vornüber gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben, mal mich mit großen Augen anstarrend.
Obgleich kurz vor Schuberts Tod entstanden, ist es keine einseitig todbezogene Musik, umso deutlicher indes vor dem Raster verschiedener Zeitarten aufgespannt. Musik braucht nicht explizit von Vergänglichkeit und Tod zu reden – das besorgen Anlässe und Texte –, um von ihnen zu handeln. »Meditatio mortis« hat sie Adam von Fulda in einem um 1490 geschriebenen Traktat genannt, möglicherweise des ambivalenten Genitivs bewusst: Im Genitivus obiectivus meditiert sie über den Tod, im Genitivus subiectivus meditiert als Musik der Tod selbst.
In Schuberts Adagio singen drei Mittelstimmen in einem breitgezogenen Klangband und überwiegend kleinen Intervallschritten, fast wie in alten Motetten als Choral in Langmensur, die die Töne so sehr dehnt, dass man das Melodieganze kaum realisiert. Zudem wandert es von der Grundtonart, dem vornehmlich mit Verklärung verbundenen E-Dur, rasch nach Fis-, bald auch nach D-Dur. Leicht erfassbare Achtelschleifen verbinden die »Haltetöne«, geben den melodischen Fluss wie nach Stauungen frei und beziehen ihre Eindringlichkeit wesentlich daher, dass auch unsere Erwartungen auf Fortgang angestaut waren, die Linie unser Ohr in die Spannung zwischen Verweilenwollen und Weitermüssen eingebunden hat. Kaum halten wir ihren Riesenatem aus – umso weniger, als die erste Violine und das zweite Cello ein kleingliedriges Frage-und-Antwort-Spiel treiben, mithin zwei Zeitarten sich gegeneinander definieren, indem sie scheinbar wenig vermittelt nebeneinanderher laufen. Man könnte es eine approximative Verdeutlichung der antiken Begriffe »aion« (»Ewigkeit«) und »chronos« (»tickende« Zeitlichkeit) nennen.
Dass das Klangband und die erste Violine am Ende des ersten Teils einander antworten, den Abstand also verringern, hindert den explosiven Ausbruch aus der Spannung des Gegenübers nicht – ins Pandämonium eines Mittelteils mit hetzenden Sechzehnteltriolen, die einen |13| oktavierten, verzweifelt heulenden Gesang von erster Violine und erstem Cello vor sich hertreiben. Der kleine Sekundschritt, hier von e nach f, von der Verklärungstonart E-Dur ins düstere f-Moll – Schubert kannte ihn ähnlich aus Beethovens Streichquartetten op. 127 und 131 – hat sein Gewicht auch als Signatur der Nachbarschaft von seraphischer Schönheit und »des Schrecklichen Anfang«. Demgegenüber erscheinen Hinweise auf die Identität der Terztöne gis bzw. as und hier wie dort prägende Terzdurchgänge nahezu buchhalterisch. Beide Tonarten liegen mit vier Kreuzen bzw. vier Been entgegengesetzt gleich weit vom C-Dur der anderen Sätze entfernt. Noch das Ende des entfesselten Tobens, das mehrmals in leisen Passagen Kraft für den nächsten Ansturm sammelt, lädt die Beschreibung zu drastischer Bildlichkeit ein: Wie außer Atem gebracht, ermüdet es, stockt, röchelt, verlischt nahezu.
Am Echo vom Echo des letzten Seufzers rettet sich die Musik und findet zum ersten Teil zurück, in eine konvergierende Reprise insofern, als der »Choral« fast unbeirrt die alte Bahn zieht, die Phrasen im Dialog der Außenstimmen jedoch größer werden, zuweilen ineinandergreifen und den breitgedehnten Gesang der Mittelstimmen stellenweise heterophon umspielen. Wenn er »ppp« subdominantisch abtaucht, scheint die dialogisierende Arbeit getan, die Außenstimmen ziehen sich, punktierte Auftakte der Violine ausgenommen, ins Pizzicato und in eine Regelmäßigkeit zurück, die dem Choral stärker zugeordnet erscheint; ehe die erste Violine, nachdrücklicher schließend als vor dem f-Moll-Einbruch, zum Dolmetsch des Chorals wird – eben dort, wo Schubert in den Part der zweiten Violine das Trauer- und Todessignet des chromatischen Lamento-Abstiegs einträgt.
»Eigentlich kann ihr niemand widerstehen«, hat Louis-Ferdinand Céline von der Musik gesagt. »Was soll man denn mit seinem Herzen anfangen? – man verschenkt es gern und muß danach trachten, aus jeder Musik die ungeschriebene Weise, unsere Weise herauszuhören: das Lied vom Tod«. Wer so redet, setzt ein dichotomisches Verständnis von Tod und Leben voraus, dem Schubert im Quintett konsequent opponiert, indem er das Gegeneinander von selig singender Bejahung und schroffen Bedrohungen in allen Sätzen – Lehrstücken zum »Media vita in morte sumus« – immer neu und anders verfolgt. Die singenden |14| Passagen stellen sich als je nach Situation und Satzcharakter eigenständige Emanationen ein und desselben Grundhabitus dar – stets engschrittig um zentrale Töne gewundene Melodien: Niederschlag der alle Stationen durchwirkenden »poetischen Idee«, des Singens über Abgründen. Ebenso brutal, wie das f-Moll-Appassionato ins Quasi religioso des E-Dur-»Chorals« einbricht, wird im ersten Satz auf die Kantilene wie mit Keulen eingeschlagen, besonders am Ende; innerhalb der explosiven Vitalität des Finales, die zur Charakteristik »Sieg des Lebens« einlädt, zieht die Kantilene als erinnerungshafter Durchblick, eine Fata Morgana, am Horizont vorüber.
Die fast epilogische Handhabung am Schluss mag auch als Reaktion auf die radikalste verstanden werden: im Scherzo, dessen aggressiv anspringender Lebenslust ein Abstieg in katakombenhaftes Dunkel gegenübersteht, wie er so selten komponiert worden ist – im Trio, wo eher ländlerisch Diesseitiges zu erwarten wäre. Schubert zeichnet Des-Dur vor, schreibt jedoch ein absteigendes, zwischen f-Moll und As-Dur hangelndes Unisono, das als As-Dur-Skala auf g ankommen müsste. Jedoch landet es auf ges; die Überraschung steigert der hier im Trio erstmals erscheinende, zudem satte Dreiklang.
Es ist, als ob die Musik in ein Loch fiele. Recht nahe liegt der Vergleich mit anderen Stellen, wo die Unbegreiflichkeit des Todes durch Fortschreitungen verdeutlicht wird, die außerhalb alles Erwartbaren liegen, der Tonsatz allen Halt zu verlieren scheint – im »Moro, lasso« aus Gesualdos Sechstem Madrigalbuch ebenso wie im fast wie ein Moll-Akkord klingenden Ces-Dur-Quartsextakkord am Ende des vierten der »Vier letzten Lieder« von Richard Strauss. Schubert bekräftigt Schock und Untertext durch die nachfolgende Moll-Eintrübung, die noch tiefer ins Dunkel hineintreibt – so weit, dass er enharmonisch umnotieren muss: Nach der Des-Dur-Kadenz im achten Takt des zweiten Teils ist das notierte cis-Moll eigentlich ein des-Moll, vier Takte später nach der notierten H-Dur-, eigentlich einer Ces-Dur-Kadenz das notierte h-Moll ein ces-Moll. Was für ein Glück, dass Schubert es am Ende des zweiten Teils in Des-Dur plagal abfängt, den Rückweg aus dem fast unbetretbaren Land gerade noch findet!
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Sie war gern in Kirchen Nicht wegen des Gebetsgemurmels oder der Gesänge, bei denen die Gemeinde der Orgel regelmäßig hinterherschleppt – »hoffentlich hält der oben sich die Ohren zu«; eher wegen des Blicks schräg nach oben in die Vierung zu dem ins steinerne Gewölbe hereingeholten Himmel. Und wegen der Grabplatten, die teils flachliegen, teils später aufgerichtet worden sind. Da liegen oder stehen sie nun, eine Phalanx zunehmender Abstraktionen, von aufdringlichen Details bis zu fast gelöschten Stricheleien reichend – Bischöfe, Äbte, Krieger, Amtsherren mit ihren Insignien, Bürgersleute an der Seite feiertäglich aufgezäumter Frauen, vollplastisch-weltlich für die Fahrt nach drüben gerüstet, mit Ornaten, schweren Ketten, Helmen, Hauben, Rüschen, Stehkragen bis hin zu den Imponierbeutelchen der Landsknechte, als könnten sie all das in die Ewigkeit mitnehmen; andere mit abgewetzten Konturen, abgeschmirgelten Nasen, Hirtenstäben, nur mehr Andeutungen von allem, was einstmals vorragte und nicht standhielt; manche als flach geritzte Strichfiguren knapp kenntlich, einige nur noch erahnbar, in steinerne Anonymität zurückpoliert.
Jahrhundertelang haben Schuhe der Kirchgänger die Toten zunehmend in die Unkenntlichkeit geschoben und die Mimikry widerlegt, mit der sie für die große Fahrt und das Gedächtnis der Nachwelt präpariert worden sind. Angesichts so freundlich verzögerter Erosion braucht man sie nicht als Fußabtreter missbraucht zu finden.
Einmal, als wir herumgingen, war’s besonders stimmig; da stellten wir uns vor, sie kröchen aus dem Verstummen heraus, tuschelten, redeten oder stritten miteinander. Doch wurden sie unterbrochen: Von oben ertönte die c-Moll-Passacaglia.
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Rettung durch András Gibt es etwas, das nicht vom Übrigbleiben redete, nicht mit Bezügen auf die Tote aufwarten könnte? Es rastet ein, bevor ich’s bemerke – mir fast zu selbstverständlich, wie Befindlichkeiten, dann Gedanken es heranziehen, einsaugen und nahezu allem eine Schwere verschaffen, die es vordem nicht hatte. Sodass ich den Abstand zu denen kaum wahrnehme, die nicht gerade jemanden verloren haben. Vorsicht! Es gibt einen Hochmut von Trauernden – ich als Ausnahmefall geehrt durch den Hieb, der mir verpasst worden ist.
Abends im Bus auf dem Weg ins Konzert überfällt mich, wie stimmig es ist, dass ich gefahren werde, ich niste mich in der Konstellation ein. Soweit Winterschmutz und aufgemalte Reklamesprüche es erlauben, sehe ich durch die Fensterscheiben Ladenketten und Menschengetümmel, Autolichter, blinkende Ampeln usw. Leben zieht da draußen vorbei, von dem ich abgetrennt bin. Da jede Situation nach Rechtfertigungen angelt, fällt mir der Spruch der 80-Jährigen ein, der ich einst im Herbst den Garten umgegraben habe: Man müsse sehr alt werden, um Natur richtig zu begreifen, weil man von ihr nichts mehr will. Von denen draußen will ich nichts.
Eine Stunde später im Konzert ergreift es mich. Das übertragene Verständnis nährt sich aus dem konkreten: Ich habe mich greifen lassen. András Schiff spielt die »Davidsbündlertänze« und die »Kreisleriana«, spielt Schumanns bekennerischen Lebensüberschwang nahe am Anschein des hier und jetzt Entstehenden auf eine Weise hinein, die die Musik zur realsten aller realen Gegenwart macht – das jetzt Gegenwärtige eilends von anderem Gegenwärtigen verdrängt. Kaum bleibt Zeit, eine Gedächtnisspur zu sichern, bei einem Detail zu verweilen, zu memorieren. Genau das intendiert die Apotheose des Vorbei und Sonie-wieder, ihre Ungeduld erlaubt nicht einmal den kleinen Abstand, dessen es bedürfte, um das Vorbei als solches zu reflektieren. Thematische Bezüge, stimmige Aufeinanderfolge, Korrespondenzen, Architektur – geschenkt! Wen das interessiert, wer sich, sei’s für Augenblicke, dem reißenden Strom verweigert und Eindrücke seitwärts abzulegen, |17| festzuhalten versucht, veruntreut den Sinn dieser Musik – und setzt sich zugleich einem Paradoxon aus: Sehr wohl lädt auch sie ein, aufgehalten zu werden. Damit wir die jubelnde, grausame Vergänglichkeit verspüren, an ihr authentisch leiden können, muss es uns um das Vergehende leidtun, muss an ihm ein Gran Unvergänglichkeit haften. Derlei »Verweile doch …« nistete diesmal in jeder winzigen Verzögerung, in jedem geringfügig hinausgeschobenen Schlussklang, jeder liebevoll ziselierten Melodie. Für den nach Bezügen Süchtigen war es, noch im Furor, mit dem die Musik fortstürzte, ein Privatissimum in »Stirb und werde«.
Zugleich umgekehrt: Zu den schönsten Diesseitsmetaphern, unter anderem des Lindenbaums als des Ortes der Liebenden oder der Mondnacht mit sanft rauschenden Ähren, gehören auch die über den Bildrand hinausblickenden Konjunktive: Die »Zweige rauschten, / als riefen sie mir zu«, die Seele, die »weit ihre Flügel« ausspannte, »als flöge sie nachhaus«.
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Weimarische Todesmystik Hört man in frühe Bach-Kantaten tief genug hinein, wird man an Deutungen vollends irre, die nach zugrunde liegenden Erlebnissen fragen. Wie oft, wie suggestiv geht hier »der Mensch mit Heimweh durch die letzte Angst« (Bloch), woher kennt ein 25- bis 30-Jähriger Gefühlslagen, stammen Erfahrungen, ohne die man diese Musik sich nicht vorstellen mag? Wäre in seinem Interesse nicht zu wünschen, dass er die mystisch intonierte Innigkeit der Dichtungen von Salomo Franck nicht in der Tiefe hätte erschließen, verlängern, ihr zu tönender Unmittelbarkeit hätte verhelfen können, wie er es getan hat? Dem dichtenden »Gesammten Consistorial-Sekretär« waren immerhin drei Söhne gestorben, auch war er fast eine Generation älter als Bach. Bei dem, was im Zusammenwirken der beiden zustande kam, müssen innere, bekennerische Veranlassungen umso mehr vermutet werden, als der selbst in religiösen Fragen autoritäre Herzog Wilhelm Ernst pietistischen Strömungen ungern mehr Einfluss gewährte, als sich ohnehin nicht vermeiden ließ.
|18| Einerseits legt Bachs Musik die Frage nach jener vielleicht voreilig »pietistisch« genannten Todes-Kompetenz nahe, andererseits erscheint sie nur halbrichtig gestellt: Es gibt eine Weisheit des Mediums, die nur innerhalb seiner zur Verfügung steht; nur in und über Musik erreichen Musiker Bereiche, die ihnen außerhalb unerreichbar sind – oft möchte man es für sie geradezu hoffen.
Jene Weisheit freilich darf man nicht eo ipso verfügbar denken, sondern als je neu aufscheinend, wo traditionell gewachsene Bedeutungen der Musik mit dem Erlebnisfundus derer zusammenkommen, auf die sie treffen. Ort und Möglichkeit der Konjunktion, Sprungbretter fürs Ineinander von Erlebnis und musikalischer »Erkenntnis« müssen je neu gebaut werden. Mögen noch so viele Topoi mitspielen – die gedämpfte Innigkeit der Flöten und Gamben oder die flutende Metrik im »Actus tragicus« (noch vor Weimar), diskret hinterlegte Cantus firmi und die still-selige Hingebung an die »süße Todesstunde« bleiben neu gefunden.
Die Frage nach der besonderen Kompetenz des jungen Bach lässt sich weder mit Hinweisen auf den Zeitgeist oder Francks Dichtung erledigen noch mit dem Allgemeinplatz, genial Begabte brauchten nicht erlebt zu haben, was sie darstellen, suggestiv Imaginiertes sei ohnehin oft stärker und wirklicher als was uns im »Dunkel des gelebten Augenblicks« begegnet. Insofern wiegt nicht schwer, dass die »süße Todesstunde« auf die am sechzehnten Sonntag nach Trinitatis fällige Geschichte vom Sohn der Witwe von Nain bezogen ist...