»Wer Oper spielen will, muss die Spielregeln akzeptieren«
Produktionsbedingungen im Opernbetrieb
Es ist ein weiter Weg, der von den Kirchen in Gent und Groningen über die speziellen Spielorte für Alte Musik in den Orchestergraben eines Berliner oder eines Wiener Opernhauses führt. Die Alte-Musik-Bewegung, der anzugehören René Jacobs in seinen ersten Jahren als Sänger mit Stolz erfüllte, verstand sich nicht nur als eine musikalische Erneuerungsbewegung, sondern auch als eine Möglichkeit, die etablierten Institutionen des Musiklebens aufzumischen und nicht nur mit neuen Inhalten, sondern auch mit neuen Umgangsformen zu irritieren. Das böse Wort vom »Müsli-Musiker«, das seit den 1960er-Jahren über jene Interpreten kursierte, denen man unterstellte, ihre Hinwendung zu der Musik vor Bach und Händel sei nichts anderes als eine Spätfolge der Jugendbewegung der 1920er-Jahre, spielte auch auf den tiefen Graben an, der zwischen den Musikern und ihrem Publikum in Konzert und Oper und denen der Alte-Musik-Szene mit ihren alternativen Spielorten und Gewandungen klaffte – hie vertrautes Repertoire in traditioneller Interpretation, dort unbekannte Musik in verstörend anderen Spiel- und Singweisen, hie Frack und Abendkleid, dort Strickweste und Sandalen.
Ganz so eindeutig wie die von Vorurteilen auf beiden Seiten nicht freien Zuordnungen waren die Verhältnisse freilich nicht. René Jacobs weiß von den Anfängen der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik und ihrem Initiator Otto Ulf zu berichten, dem die neue Lässigkeit, die sich mit der Alten Musik einzuschleichen drohte, durchaus ein Dorn im Auge war. So zürnte er Wieland Kuijken, weil dieser in Sandalen auftrat, Dominique Visse wegen seiner extravaganten Outfits und Jacobs selbst, weil er sich im heißen Sommer beim Dirigieren der Orontea in der Hofburg das Jackett ausgezogen hatte und dies in der Presse prompt gerügt worden war. Um derartiger Unbill fürderhin einen Riegel vorzuschieben, stand in den nächsten Jahren im Vertrag, dass bei den Konzerten »mitteleuropäische Konzertkleidung« zu tragen war.
Was heute wie ein Märchen aus uralten Zeiten anmutet, war in der Zeit des Aufbruchs in die Alte Musik gelebte Realität. Kaum denkbar, dass sich ein Geiger wie etwa Pinchas Zukerman, der doch nicht nur mit Beethoven und Brahms, sondern auch mit Bach und Vivaldi Erfolge feierte, in die Alte-Musik-Szene verirrt oder auch nur einen Gedanken an eine an den Quellen der historischen Aufführungspraxis orientierte Interpretation verschwendet hätte. Und ebenso wenig wäre es vorstellbar gewesen, dass sich ein Gustav Leonhardt vor die Berliner Philharmoniker gestellt hätte, um Bachs Orchestersuiten zu dirigieren. Kein Opernhaus hätte es gewagt, eine Barockoper als Repertoirestück vorzuhalten. Als Herbert von Karajan im Monteverdi-Jahr 1967 L’incoronazione di Poppea an der Wiener Staatsoper aufführte, legte er die Bearbeitung Erich Kraacks von 1962 zugrunde, die das Werk durch einen spätromantisch aufgeblähten Orchestersatz bis zur Unkenntlichkeit entstellte. Und selbst als das Züricher Opernhaus zehn Jahre später das Wagnis einging, Monteverdis Opern als Trilogie in historischer Aufführungspraxis mit Nikolaus Harnoncourt am Pult herauszubringen, wurde die Rolle des Kaisers Nero in dieser Oper von der ursprünglichen Sopranlage zu einer Tenorrolle nach unten oktaviert und mit einem Mann besetzt.
Es waren Dirigenten wie Harnoncourt, die das Lagerdenken in der musikalischen Interpretation aufbrechen halfen. Seit 1975 dirigierte er die jährlichen Aufführungen der beiden Passionen Bachs mit dem Concertgebouw-Orchester in Amsterdam, die zuvor von Eugen Jochum präsentiert worden waren. Und der Erfolg der Züricher Monteverdi-Trilogie machte auch anderen Opernhäusern Mut, es mit Barockoper und gar in historischer Aufführungspraxis zu versuchen. Heute gehört es fast zum guten Ton für jedes ambitionierte Opernhaus, Barockopern aufzuführen und sich dabei der Kenntnisse spezialisierter Musiker zu versichern. Zahlreiche Alte-Musik-Interpreten der ersten Generation, darunter so prominente Namen wie Christopher Hogwood, Reinhard Goebel oder Konrad Junghänel, arbeiten inzwischen mit etablierten Opernhäusern zusammen und studieren mit den Musikern des Hauses Barockopern ein; möglich ist dies auch, weil diese Musiker selbst – die Orchester ebenso wie das Sängerensemble – mittlerweile offener für die Anregungen aus der historischen Aufführungspraxis geworden sind. Und selbst der Kleiderfrage ist der Stachel abhandengekommen: Ob im Frack oder im schwarzen Hemd – beides ist heute möglich und hier wie dort akzeptiert.
Herrscht nun also Frieden zwischen den ehemals feindlichen Lagern? Hört man René Jacobs über seine Erfahrungen sprechen, so blitzen hier und da Geschichten auf, die immer noch daran zweifeln lassen könnten. Im Opernbetrieb herrschen andere Regeln als in der Alte-Musik-Szene. Es bedarf eines größeren organisatorischen Aufwands und vieler Kompromisse, um eine Opernaufführung auf die Beine zu stellen. Jacobs arbeitet freilich selten mit den vorhandenen Orchestern zusammen; stattdessen bringt er jene spezialisierten Orchester mit, mit denen er seit Jahrzehnten zusammenarbeitet – die Akademie für Alte Musik Berlin, Concerto Köln, das Freiburger Barockorchester.
»Sie sind hier nicht zum Singen, sondern zum Schlagen da!«
Der Sänger als Dirigent
Du arbeitest vornehmlich mit historischen Ensembles. Das sind alles großartige Orchester. Gibt es trotzdem Unterschiede zwischen ihnen?
Weniger in der Qualität als vielmehr in der Organisation. Beim Freiburger Barockorchester zum Beispiel wechseln sich die Konzertmeister ab; ich habe wunderbare Erfahrungen mit Petra Müllejans, aber auch mit Gottfried von der Goltz und Ann-Katrin Schreiber gemacht. Bei der Akademie für Alte Musik arbeite ich schon jahrelang mit demselben Konzertmeister, Bernhard Forck, zusammen. Was ich an ihm sehr schätze, ist, dass er sich durchaus für mehr als nur Musik interessiert. Mit ihm kann ich, wenn eine neue Oper geplant ist, auch über das Drama sprechen. Und in allen drei Orchestern überraschen mich immer wieder einzelne Musiker, die das Libretto lesen wollen und sich für die Hintergründe eines Werks interessieren, nicht nur für die Musik. Den Konzertmeistern gelingt es, in Streicher-Termini umzusetzen, was ich als Sänger hören möchte und tatsächlich auch oft vorsinge. Das ist nicht die übliche Methode, aber eine für die vorromantische Musik sehr natürliche, weil Instrumentalisten damals lernten, die menschliche Stimme nachzuahmen.
Suchen sich die Orchester den Dirigenten oder der Dirigent die Orchester?
Beides kann vorkommen. Meine Frau ist seit vielen Jahren meine beste Beraterin, sie weiß, wie ich denke. Wir setzen uns mit den Orchestermanagern zusammen und versuchen, Perioden für Konzerte oder für eine Opernproduktion zu finden. Wenn ein Opernhaus oder ein Festival bereit ist, ein Spezialorchester zu engagieren, schlage ich eines vor, und es ist natürlich kein Zufall, dass die Akademie für Alte Musik in den letzten Jahren die meisten Barockproduktionen in Berlin gespielt hat. Denn es ist teuer, ein Orchester von außerhalb zu engagieren, das nicht zum festen Opernpersonal gehört. Wenn die Musiker dann am Ort wohnen, sind zumindest die Spesen weniger hoch.
Roubina Saidkhanian und René Jacobs im Bach-Archiv in Leipzig während des Bach-Festes 2011 © Elmar Weingarten
Und die Freiburger gehen dann immer mit nach Wien?
Seit meiner ersten Wiener Produktion, Händels Giulio Cesare, fast immer; Glucks Telemaco wurde in Wien allerdings mit den Berlinern produziert.
Es gibt inzwischen zahlreiche Interpreten, die aus der Alte-Musik-Szene kommen und jetzt ganz normale Stadttheaterorchester dirigieren. Machst du so etwas auch?
Im Prinzip nicht. Man muss dort Kompromisse eingehen, die ich nicht gerne mache. Ich weiß, dass ich leiden würde. Nur ausnahmsweise gelingt es einem Intendanten, mir über meine Skepsis hinwegzuhelfen. Bernard Foccroulle hat mir zum Beispiel angeboten, mit dem Brüsseler Opernorchester Die Zauberflöte zu entstauben. Bei Mozart ist es eher denkbar, mit konventionellen Opernorchestern unter bestimmten Voraussetzungen einen teilweise neuen Klang zu erreichen, weil er ihnen noch ein bisschen näher ist als etwa Händel. Je älter die Musik, desto weniger steht ja in den Noten, und genau das ist das Problem. Ein spezialisiertes Orchester, das nicht nur mit dem Stil der Musik besser vertraut ist, sondern auch noch auf den geeigneteren Instrumenten spielt, kann aufgrund seiner Erfahrung fühlen, was nicht in den Noten steht. Und der Orchestergrabe...