Historische Begegnungen
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Historische Begegnungen

Biografische Essays zur Schweizergeschichte

  1. 288 Seiten
  2. German
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Historische Begegnungen

Biografische Essays zur Schweizergeschichte

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Über dieses Buch

Die alten Helden der Schweizer Geschichte haben abgedankt. Die "Historischen Begegnungen" prÀsentieren VorkÀmpferinnen und Widersacher, welche die Entwicklung der Schweiz massgeblich geprÀgt haben: Frauen und MÀnner, die sich bekÀmpft oder ergÀnzt haben. Und deren Leistungen zu Unrecht vergessen wurden:

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783039198955

Der Spalter und
der Einiger

Constantin
Siegwart-MĂŒller

UND

Henri Dufour

Constantin Siegwart-MĂŒller und Henri Dufour

Kontrahenten im Sonderbundskrieg

Thomas Buomberger

Am Abend des 24. November 1847 glitt ein Dampfschiff mit einer illustren GĂ€steschar ĂŒber den VierwaldstĂ€ttersee. Man hĂ€tte meinen können, die Luzerner Regierung sei auf einer VergnĂŒgungsreise, doch passten weder die Jahreszeit noch das GepĂ€ck zu diesem Ansinnen, und auch die Aufregung an Bord liess auf ein anderes Vorhaben schliessen. Zur anwesenden Regierungsprominenz gehörte auch Constantin Siegwart-MĂŒller, wĂ€hrend Jahren der dominierende Luzerner Politiker, der die katholisch-konservativen Kantone in den verheerenden Sonderbundskrieg gefĂŒhrt hatte. An eben diesem Tag, da die Luzerner Regierung flĂŒchtete, um sich ĂŒber den Furkapass ins katholische Wallis und spĂ€ter nach Mailand zu begeben, nahmen die siegreichen eidgenössischen Truppen unter General Guillaume Henri Dufour die Stadt Luzern ein und beendeten eine Woche spĂ€ter, nach der Kapitulation weiterer katholischer Kantone, diesen letzten BĂŒrgerkrieg der Schweizer Geschichte.
Neben einigen katholischen Nonnen und Jesuiten, die zu Unrecht um ihr Leben fĂŒrchteten (es gab kaum «gewaltsame Angriffe auf die Keuschheit»), hatten die FlĂŒchtenden die Staatskasse, das Archiv des Kriegsrats und das luzernische Staatssiegel mitgenommen. Wer einen prominenten Namen in katholischen Kreisen hatte, war auf dem Schiff. ZurĂŒckgelassen hatten sie Frauen und Kinder. FĂŒr Siegwart-MĂŒller, der einst ein glĂŒhender Liberaler gewesen war, war indes der Krieg noch nicht zu Ende. Er konnte von Italien nach Österreich flĂŒchten, wo er Kanzler FĂŒrst Metternich ersuchte, den katholisch-konservativen Verlierern zu Hilfe zu eilen. Es war nicht das erste Mal, dass er Österreich um eine Intervention ersucht und damit die UnabhĂ€ngigkeit der Eidgenossenschaft aufs Spiel gesetzt hatte. Doch der schlaue Metternich wollte sich nicht in diesen innerschweizerischen Konflikt ziehen lassen, wie er das schon ein halbes Jahr zuvor abgelehnt hatte.

Erster Star der Schweizer Politik

Am Tag von Siegwarts Flucht erlebte Guillaume Henri Dufour seinen grössten Triumph mit dem Einzug seiner Truppen in die Stadt Luzern. Doch es war kein Triumph mit Siegesgeheul, sondern ein verhaltener, so, wie sich Dufour wĂ€hrend des ganzen rund dreiwöchigen Kriegs zwischen den liberalen und konservativen KrĂ€ften zurĂŒckgehalten und möglichst viele Menschenleben geschont hatte. Wie sich seine Truppen zu benehmen hatten, befahl er in einer Proklamation am 5. November 1847, als der Krieg unmittelbar bevorstand. «Ich stelle daher unter Euern besondern Schutz die Kinder, die Weiber, die Greise und die Diener der Kirche. Wer seine Hand an Wehrlose legt, entehrt sich selbst und befleckt seine Fahne. Gefangene und Verwundete verdienen, umso mehr Euer MitgefĂŒhl, als schon viele von Euch mit denselben zusammen im Eidgenössischen Dienst gestanden sind. Ihr werdet nirgends nutzlose Zerstörungen auf den Feldern anrichten und geduldig die augenblicklichen Entbehrungen zu ertragen wissen, welche die Jahreszeit mit sich bringt  »
Keine ZurĂŒckhaltung kannte die mehrheitlich liberale Bevölkerung Luzerns, als Dufours Soldaten einmarschierten, wie die Neue ZĂŒrcher Zeitung berichtete: «Unter unendlichem Jubel der liberalen Luzerner sind die eidgenössischen Truppen am 24. D. gegen Mittag in die Stadt Luzern eingezogen. Vor diesem Jubel verstummten die Trompeten, die Trommeln, die Musik [
] Hundert und hundert Fahnen, sinnig geschmĂŒckt mit Blumen oder Inschriften, wehten den Eidgenossen aus den HĂ€usern entgegen. Die Stadt Luzern, von ihren Tyrannen befreit, begrĂŒsste in den Eidgenossen ihre Erretter.» Auch wenn Siegwarts Haus vollstĂ€ndig demoliert wurde und es teilweise zu PlĂŒnderungen der siegreichen Soldaten kam, die zu viel Alkohol getrunken hatten, waren die Übergriffe mĂ€ssig. Dufour liess gegenĂŒber PlĂŒnderern Disziplinaruntersuchungen durchfĂŒhren, insgesamt 107. Die PlĂŒnderer waren Angehörige der untersten Schichten, die von der zu dieser Zeit herrschenden Wirtschaftskrise, ausgelöst durch eine Hungerkatastrophe, besonders betroffen waren.
Diese Hungersnot erreichte ihren Höhepunkt im FrĂŒhling 1847. Viele Leute hatten ihre letzten Reserven aufgebraucht – im Kanton Bern lebte mehr als ein Drittel der Bevölkerung mit VorrĂ€ten fĂŒr weniger als fĂŒnf Tage. Das Kilo Kartoffeln, 1845 noch fĂŒr 4 Rappen zu haben, kostete 17 Rappen, der Brotpreis hatte sich verdreifacht. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erhielten ArmenunterstĂŒtzung. In den gebirgigen Gegenden war die Lebensmittelversorgung noch schlechter als im industrialisierten Mittelland. Im Gefolge der Hungerkrise wurden auch Gewerbe und Industrie in Mitleidenschaft gezogen. Die Löhne sanken, zudem musste ein grösserer Lohnanteil fĂŒr Lebensmittel ausgegeben werden.
Nach dem Sieg der eidgenössischen Truppen war der Weg frei fĂŒr eine fundamentale Umgestaltung der Eidgenossenschaft. Innerhalb weniger Wochen arbeiteten die Liberalen eine Verfassung aus, die im Sommer 1848 von der Mehrheit der Kantone angenommen wurde und die noch immer die Grundlage des heutigen Staatswesens bildet. Anders hĂ€tte es ausgesehen, wenn die konservativen, mehrheitlich katholischen Sonderbundskantone gesiegt hĂ€tten. Weil die Katholiken kein zusammenhĂ€ngendes Gebiet hatten, wĂ€re es nach einem Plan von Siegwart-MĂŒller zu Gebietsverschiebungen gekommen. Damit hĂ€tte es bei der Tagsatzung, der Vertretung der Kantone, ein Patt gegeben. Es wĂ€re eine Eidgenossenschaft mit zwei gleich grossen konfessionellen Blöcken entstanden. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solches Szenario, das auch Verschiebungen von Menschen, nach heutigem Sprachgebrauch ethnische SĂ€uberungen, beinhaltet hĂ€tte, den Kern fĂŒr permanenten Unfrieden in sich gehabt hĂ€tte.
WĂ€hrend Siegwart-MĂŒller im Exil schmollte und auf Rache sann, wurde Dufour zum ersten Star der Schweizer Politik. Er erhielt fĂŒr seine Verdienste von Genf ein GrundstĂŒck fĂŒr sein Haus und von der Tagsatzung eine EntschĂ€digung von 40 000 Franken, was eine so gewaltige Summe war und die ihn so schockierte, dass er sie gar nicht annehmen wollte. Immerhin gab er einen Zehntel fĂŒr Verletzte auf beiden Seiten aus. Das Heldenbild Dufours wurde wesentlich geprĂ€gt von Hunderten von bildlichen Darstellungen, GedenkmĂŒnzen, Trinkbechern, Medaillons, KrĂŒgen, Tassen, Tellern und was an Memorabilien sonst noch produziert wurde. Nach ihm wurden Strassen und PlĂ€tze benannt und auch der höchste Berg der Schweiz.
So unterschiedlich die spĂ€teren Wege der beiden waren, so verschieden ihre Herkunft, so hatten sie beide eines gemeinsam: Sowohl Constantin Siegwart-MĂŒller, der Jurist und brillante Intellektuelle, als auch Guillaume Henri Dufour, der Ingenieur, BrĂŒckenbauer, Kartograf und MilitĂ€rstratege, begeisterten sich in den 1830er-Jahren fĂŒr den Liberalismus, der – ausgehend vom Kanton Tessin – in oft revolutionĂ€ren Bewegungen die konservativen Regierungen weggefegt und durch liberale ersetzt hatte. Dieser Liberalismus hatte Schulreformen gebracht, der Handels- und Gewerbefreiheit zum Durchbruch verholfen, die Rechtsgleichheit eingefĂŒhrt, die Folter abgeschafft. Er kam oft in antiklerikalem Gewand daher, was half, verkrustete Strukturen aufzulösen und sozialen und politischen Wandel zu beschleunigen. Doch beide, Dufour und Siegwart-MĂŒller, wandten sich spĂ€ter vom Liberalismus in seiner radikalen Form ab; Dufour 1846 nach einer Revolution in Genf, die der Höhepunkt von jahrelangen bĂŒrgerkriegsĂ€hnlichen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen war. Er wurde selbst Opfer dieser Auseinandersetzungen und entwickelte einen Abscheu vor Extremen. Er wurde spĂ€ter zu einem gemĂ€ssigten Konservativen, zu einem Vertreter des «juste milieu». Siegwart-MĂŒller wurde Ende der 1830er-Jahre nach einem quasi-religiösen Prozess der Selbstfindung vom Radikalliberalen zum extrem Konservativen.

Ein guter und ein schlechter SchĂŒler

Die spĂ€teren Kontrahenten waren in unterschiedliche Milieus hineingeboren und unter verschiedenen UmstĂ€nden sozialisiert und geprĂ€gt worden. Constantin Siegwart-MĂŒller, als Sohn eines kleinen Glasproduzenten im Tessin geboren, hatte noch als Kleinkind seine Eltern verloren. Er wurde von einem Pfarrer erzogen, besuchte in Seelisberg die Volksschule, in Luzern das Gymnasium und studierte in Deutschland Rechts- und Staatswissenschaften sowie Philosophie. Nach Abschluss seines Studiums ging er nach Lausanne, um Französisch zu lernen, fĂŒhlte sich aber nie wohl in dieser Sprache. Er erhielt eine Stelle als LandesfĂŒrsprech, eine Art Rats- und Gerichtsschreiber. 1833 ĂŒbersiedelte er vom konservativen Uri in den liberalen Kanton Luzern, wo er Staatsschreiber und Mitglied des Grossen Stadtrats wurde. FĂŒr ihn war dieser Kantonswechsel wie der Auszug ins Gelobte Land.
Ende der 1830er-Jahre machte Siegwart-MĂŒller eine ideologische Kehrtwende und brach mit dem Liberalismus. Diese Spitzkehre war so extrem, wie es vorher sein Liberalismus gewesen war, sagte doch ein Zeitgenosse von ihm, dass ihm «keine Einrichtung radikal genug» gewesen sei. Siegwart-MĂŒller sprach nach seinem Lagerwechsel von einer religiösen und politischen «Wiedergeburt». Seine neuen konservativen Parteifreunde standen ihm vorerst misstrauisch gegenĂŒber, doch sahen sie bald, welche politische Kraft er verkörperte. Kostete ihn sein politischer Wechsel die Stelle als Staatsschreiber, so stand ihm 1841, als die Luzerner Verfassung in konservativ-katholischem Sinn geĂ€ndert wurde, die TĂŒre zum Regierungsrat offen. 1838 hatte er eine Wahl noch ausgeschlagen. Unter seinem dominanten Einfluss wurde der Kurs der Regierung immer antiliberaler; Siegwart-MĂŒller wurde zu einem eigentlichen Liberalen-Hasser, der die Konfrontation bis zum Krieg vorantrieb.
Guillaume Henri Dufour, Sohn eines Uhrmachers, kam in Konstanz auf die Welt und wuchs in Genf auf. Er war ein mittelmĂ€ssiger SchĂŒler, wurde auch schon mal von der Schule verwiesen, schaffte aber dennoch die AufnahmeprĂŒfung an die Ecole polytechnique in Paris. In seiner Kindheit erlebte er die Revolutionswirren in Genf, die Annexion der Republik durch Frankreich 1798. Er leistete in der französischen Armee Dienst, geriet in Korfu in englische Gefangenschaft, wĂ€re beinahe an Verletzungen gestorben und wurde nach dem Sturz Napoleons 1815 auf Halbsold gesetzt. Seine Karriere in Frankreich war damit zu Ende.
FĂŒr rechtglĂ€ubige Katholiken bedeuteten die Französische Revolution, die Gedanken der AufklĂ€rung und die Hinrichtung der Königsfamilie das Aufkommen des Antichristen. In diesem Geist dĂŒrfte auch Siegwart-MĂŒller seine zehnjĂ€hrige Erziehung durch Pfarrer Josef Maria Regli in Seelisberg genossen haben. WĂ€hrend Dufour, dessen militĂ€rische FĂ€higkeiten von der Eidgenossenschaft geschĂ€tzt und benötigt wurden, 1819 die MilitĂ€rschule in Thun grĂŒndete, begann Siegwart-MĂŒller seine Studien in Deutschland.

Religiöser Fanatismus, Folter und Sektierertum

Nachdem Napoleon abdanken musste, wurden nach dem Wiener Kongress 1815 in Europa die vorrevolutionĂ€ren politischen und gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse weitgehend wiederhergestellt. Der konservative Backlash ergriff auch die Schweiz. In Bern ĂŒbernahm schon 1813 das Patriziat wieder die Macht, ein Jahr spĂ€ter in Luzern, Solothurn und Freiburg. In etlichen Kantonen wurden die alten Ungleichheiten von vor 1798 wiederhergestellt.
Monarchien wurden wieder eingesetzt, die vorrevolutionĂ€ren Werte blĂŒhten erneut. In dieser restaurativen Wende, einer Gegenreaktion zur AufklĂ€rung, kam eine Verherrlichung des Mittelalters und der katholischen Kirche auf. Auch die Schweiz geriet in den Sog der Romantik, einer christlichen Mystik und einer autoritĂ€ren und reaktionĂ€ren Gesellschaftsordnung. Es gab Teufelsaustreibungen, Martyrien und eine fast flĂ€chendeckende sektiererische Missionierung. Kinder und Erwachsene verfielen in ekstatische ZustĂ€nde. Selbst in Kreisen der pietistisch gefĂ€rbten protestantischen Erweckungsbewegung – in der Westschweiz als «RĂ©veil» bekannt – wurde mit dieser Art von Missionierung an die GefĂŒhle der Frommen appelliert, den Kampf gegen die gottlosen Freisinnigen aufzunehmen und Jesus in die Welt zu tragen, dabei Frauen und MĂ€nner gleichermassen einbeziehend. Ähnlich fundamentalistisch ging es vor allem bei den Katholiken zu und her. Es gab PilgerzĂŒge und Busspredigten, die das Volk, vom jungen SchulmĂ€dchen bis zum alten Senn, erschĂŒtterten und zu TrĂ€nen rĂŒhrten. Einen absoluten Hardcore-Katholizismus praktizierten die sogenannten Ultramontanen, die sich ihre Instruktionen direkt und nur vom Papst geben liessen. Das fĂŒhrte immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen mit Protestanten. Der Kulturkampf kĂŒndigte sich an.
Kantone wie GraubĂŒnden und Luzern praktizierten noch immer die Folter, und Uri, Herkunftskanton des jungen Constantin, war an der Spitze, wenn es galt, Verbrechen wie «Ketzerey in Glaubenssachen, Unholderey, schwere GotteslĂ€sterung» zu bestrafen. In Schwyz fanden teilweise fĂŒnf Folterungen pro Tag statt. Wegen geringer Eigentumsdelikte wurden Menschen hingerichtet, das Halseisen spielte als Strafmassnahme eine grosse Rolle. SchnĂŒffler untersuchten die privaten Bibliotheken. In Freiburg lag die wahre Macht bei den Jesuiten, die auch viele französische Royalisten erzogen. In ZĂŒrich durfte der Untersuchungsrichter prĂŒgeln, in Basel wurde der Galgen erst 1821 abgeschafft. Die Niederlassungsfreiheit war stark eingeschrĂ€nkt. Im Wallis etwa konnten Gemeinden selbst KantonsbĂŒrgern die Niederlassung verweigern. Streng sanktioniert wurden auch ReligionsĂŒbertritte oder gemischte Ehen. Die meisten Kantonsregierungen ĂŒbten ihre TĂ€tigkeit im Geheimen aus, ihr Gebaren war aristokratisch. Kritische Presseartikel wurden unterdrĂŒckt und bestraft; etliche Kantone fĂŒhrten die Pressezensur wieder ein.
In den reaktionĂ€ren Monarchien war die Repression noch viel stĂ€rker als in der Schweiz, weshalb viele liberal denkende Menschen in die Schweiz flĂŒchteten. Das passte Herrschern wie dem österreichischen Kaiser Franz gar nicht. Er sagte 1822 zu bĂŒndnerischen Abgeordneten, wenn es so weitergehe, mĂŒsse er die Schweiz besetzen: «Das wĂ€re ja ein Spektakel, und Sie verlieren Ihr edelstes Gut, die Freiheit.» Besonders der österreichische Kanzler Metternich ĂŒbte 1823 scharfen Druck aus und verlangte fremdenpolizeiliche, asylrechtliche und presserechtliche Massnahmen gegen die Asylsuchenden. Die Eidgenossenschaft gab in allen Belangen dem Druck nach. Das Presse- und Fremdenkonklusum (1823 erlassen, aufgehoben 1829) hatte die Überwachung der Zeitungen, das Wegweisen von politischen FlĂŒchtlingen sowie die Aufhebung des Asylrechts zum Ziel. Weil die Kantone aber noch wenige Repressionsinstrumente hatten, konnten viele FlĂŒchtlinge untertauchen und bleiben. Auch dank ihnen schlug das liberale Gedankengut erste Wurzeln. In der Schweiz wurde es von der lĂ€ndlichen und kleinstĂ€dtischen Oberschicht wie auch dem stĂ€dtischen Wirtschafts- und BildungsbĂŒrgertum getragen. Den liberalen Reformen war insbesondere auch eine Verbesserung des Volksschulwesens ein grosses Anliegen.

Grosse Armut, politischer Stillstand

Trotz ihrem Konservativismus bildete diese Epoche eine Zeit der wirtschaftlichen Modernisierung, den Beginn der Industrialisierung. Etliche Strassen wurden ausgebaut, die Linthkorrektion vollendet, allerdings nur dank freiwilligen Steuern. Der Aufschwung ermöglichte zwar etlichen einen Aufstieg, fĂŒhrte aber auch zum MassenphĂ€nomen des Pauperismus. Die Hungerkrise 1816/17 und die Überschwemmung mit billigen Produkten aus dem Ausland fĂŒhrten zu grosser Verarmung. Der Brotpreis stieg um das Sechs- bis Achtfache. Die Arbeitslöhne sanken in nie gekanntem Ausmass. In Glarus war ein Viertel der Bevölkerung ohne Subsistenzmittel. Ein Augenzeuge: «Es ist scheusslich anzusehen, wie abgezehrte Menschengerippe die ekelhaftesten unnatĂŒrlichsten Gerichte, Aase toter Tiere, GrĂŒschklösse [Viehfutter], Kraut von Nesseln, PlĂ€tschgen [Alpenampfer, Schweinefutter] usw. mit dem gierigsten Heisshunger verschlingen.» Ein Handspinner verdiente in einer Woche so viel, wie ein Pfund Brot kostete. In Appenzell wurde die HĂ€lfte der Einwohner von der Armenpflege unterstĂŒtzt. In St. Gallen durchwĂŒhlten die Hungernden die Misthaufen. Hunde und Katzen waren Leckerbissen. Man ass Kleie, Brei aus zerriebenem Heu, Brot aus Holzmehl, gesottene GrĂ€ser und KrĂ€uter. Es gab Heerscharen von Bettlern. Appenzell verlor sechs Prozent der Bevölkerung, St. Gallen zĂ€hlte einen Überschuss von 5000 Toten. Auswanderung war eine der Folgen: Aus einem einzigen Appenzeller Dorf wanderten 200 Personen aus. 1819 wanderten 1600 Freiburger mit Förderung der Obrigkeit nach Brasilien aus, wo sie in grosses Elend gerieten.
Vieles in der Eidgenossenschaft war noch rĂŒckstĂ€ndig. Im MĂŒnzwesen herrschte ein völliger Wirrwarr, ebenfalls bei den Zöllen und Posttarifen, was den Handel massiv beeintrĂ€chtigte. Es gab ĂŒber 400 Binnenabgaben, kantonale, kommunale und private. Bis zu einem Umweg von 100 Stunden spedierte man die GĂŒter billiger um die Schweiz herum. Es war gĂŒnstiger, einen Brief von Genf nach Konstantinopel zu schicken als von Genf nach Appenzell. Und das in einer Zeit, als im Ausland Zollschranken abgebaut wurden.
Politisch war die Schweiz blockiert. Die Abgeordneten der Tagsatzung, der Vertretung der Kantone, stimmten nach Instruktionen der Kantone. Die Kantone waren mit Konkordaten verbunden, was ein sehr kompliziertes und unhandliches Instrument war. Meist war die Tagsatzung zu einer Entscheidung unfĂ€hig, weil keine Einstimmigkeit herrschte. Oft einigte sie sich erst auf auslĂ€ndischen Druck hin. Manche Kantone waren «trunken von ihrer SouverĂ€nitĂ€t». Die Zentralgewalt schreckte vor der kleinsten finanziellen Verpflichtung zurĂŒck.
Ab 1820 erhoben einige bedeutende Köpfe der AufklĂ€rung und des Liberalismus ihre Stimme gegen die Reaktion. Ihnen schwebte eine Erneuerung des Landes mittels Volksbildung und der Entwicklung eines NationalgefĂŒhls vor, das sich in SchĂŒtzen- und Turnvereinen und an Festen Ă€usserte. Das entstehende Vereinswesen bildete ein wichtiges politisches Labor, wo die spĂ€teren StaatsgrĂŒnder und -fĂŒhrer tagtĂ€glich die spĂ€ter wichtigen Eigenschaften wie kollektive Meinungsbildung oder das Erarbeiten gemeinsamer Ziele erproben konnten.

IdentitÀtsstifter: MilitÀr, Landeskarte und Flagge

Als Guillaume Henri Dufour 1817 Kantonsingenieur von Genf wurde, eine Funktion, die er bis 1850 beibehielt, war der jetzige Quai des Bergues wertloses SumpfgelĂ€nde. Heute ist er eine der besten Adressen mit Luxushotels und unerschwinglichen Mieten. Dufour liess die Quaianlagen bauen, erstellte 1823 die Pont Saint-Antoine, die erste HĂ€ngebrĂŒcke Europas. Er verĂ€nderte das Gesicht der Stadt Genf grundlegend, er wurde zu einer Art Haussmann der Schweiz. Parallel dazu verlief seine militĂ€rische Karriere, die er hauptsĂ€chlich als Genie-Instruktor an der MilitĂ€rschule Thun verbrachte, wo er bis 1831 unterrichtete. Zu seinen SchĂŒlern gehörte auch Louis Napoleon Bonaparte, der spĂ€tere Kaiser Napoleon III., zu dem er zeitlebens ein freundschaftliches VerhĂ€ltnis hatte.
WĂ€hrend die einen versuchten, die Schweiz in Richtung Bundesstaat politisch zu erneuern, schuf Dufour organisatorische Voraussetzungen fĂŒr eine reformierte Staatsform, die auch er sich wĂŒnschte. Mit der Ernennung zum Generalstabschef 1831, der fĂŒr die Verteidigung der Schweiz zustĂ€ndig war, fiel die Aufgabe zusammen, eine topografische Karte der Schweiz zu erstellen – ein Werk, das er erst 1864 beendete und das fĂŒr Jahrzehnte internationale MassstĂ€be setzte. So wie Dufour das MilitĂ€r als «Schule der Nation» verstand, sollte diese Landeskarte mehr sein als ein militĂ€risches Hilfsmittel: Sie sollte Zusammenhalt und IdentitĂ€t der Bevölkerung fördern. Ebenso sollte eine gemeinsame Flagge das Nationalbewusstsein stĂ€rken, was erst 1840 realisiert wurde.
Die Vermessung der Schweiz, wiewohl von der Tagsatzu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. INHALT
  4. Zehn historische Begegnungen
  5. Auf Augenhöhe Agnes von Ungarn und Rudolf Brun – VON BRUNO MEIER
  6. Der Reformator gegen den Radikalen Ulrich Zwingli und Conrad Grebel – VON PETER KAMBER
  7. Landesvermessung in Zeiten politischen Umbruchs Franz Ludwig Pfyffer von Wyher und Jacques-BarthĂ©lemy Micheli du Crest – VON ANDREAS BÜRGI
  8. Ein Auf und Ab in Ehe und Gewerbe Ulrich und Salome BrĂ€ker – VON REA BRÄNDLE
  9. Der Spalter und der Einiger Constantin Siegwart-MĂŒller und Henri Dufour – VON THOMAS BUOMBERGER
  10. Helfen und Heilen – Homöopathie versus Schulmedizin Emilie Paravicini-Blumer und Fridolin Schuler – VON ELISABETH JORIS
  11. Zwei «Halbnomaden» an den grossen Tunnelbaustellen Ferdinand Rothpletz und Maria Scala – VON EVA SCHUMACHER
  12. Heisse Tage in Winterthur Hans Sulzer und Ferdinand Aeschbacher – VON ADRIAN KNOEPFLI
  13. Die feinfĂŒhlige Adjutantin Gottlieb Duttweiler und Elsa Gasser – VON REGULA BOCHSLER
  14. Abraham c’est moi Ludwig Abraham und Gustav Zumsteg – VON MARTIN WIDMER
  15. AUTORINNEN UND AUTOREN
  16. Impressum