Funktionsverbgefüge – d. h. Nomen-Verb-Verbindungen wie z. B. Angst haben, Lob zollen oder zur Aufführung kommen – sind auch nach mehr als fünfzig Jahren einschlägiger sprachwissenschaftlicher Forschung immer noch ein Rätsel geblieben. Rätselhaft ist nach wie vor, weshalb Sprecher sich den Luxus einer relativ aufwendigen Versprachlichung mittels einer Nomen-Verb-Kombination leisten, wo doch in vielen Fällen mit einem etymologisch verwandten einfachen Verb eine wesentlich ökonomischere Ausdrucksalternative zur Verfügung steht. Ungeklärt ist auch der linguistische Status dieser Verbindungen: FVG sind wohl das einzige sprachliche Phänomen, das sowohl in Grammatiken des Deutschen als auch in Handbüchern der Phraseologie einen angestammten Platz hat. Da Grammatik und Phraseologie normalerweise als zwei weit auseinanderliegende Bereiche der Sprache aufgefasst werden, ist dies als ein deutliches Indiz dafür zu werten, dass hier Klärungsbedarf besteht. Weitgehend unbeantwortet ist aber auch die Frage, welche Nomen-Verb-Verbindungen überhaupt als FVG gelten sollen. Nahezu jede Untersuchung, die zum dem Thema erscheint, legt sich ein eigenes Kriterienset zurecht und entwickelt eine individuelle Abgrenzung der Klasse. Zwar gibt es mit den Arbeiten von Helbig (1984) sowie von Polenz (1987) einflussreiche Forschungsbeiträge, die wichtige Grundlagen für das Verständnis dieser Klasse geschaffen haben. Eine verbindliche Definition hat sich jedoch nicht durchgesetzt, zumal die genannten Studien jeweils stark abweichende Begriffsbestimmungen enthalten. Das Definitionsproblem hat van Pottelberge (2001) in einer breit rezipierten Untersuchung zum Anlass genommen, die gesamte bis dato vorgelegte Forschung zu Funktionsverbgefügen einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es keine besondere Klasse von verbonominalen Konstruktionen gibt, die sich als Funktionsverbgefüge oder unter einem vergleichbaren Kategorienlabel zusammenfassen ließen. Das Problem, wie FVG überhaupt identifiziert werden können, stellt sich damit in besonderer Schärfe.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Beantwortung einer schlichten Frage: Was sind Funktionsverbgefüge? Die Untersuchung hat dabei bei der Definitionsproblematik anzusetzen und zu zeigen, wie – trotz der weitgehend berechtigten Einwände, die van Pottelberge (2001) vorgebracht hat – eine relevante Kategorie von Nomen-Verb-Verbindungen identifiziert werden kann, die sich zumindest partiell mit dem traditionellen Bestand von FVG deckt. Zu einer Wesensbestimmung der FVG gehört an zweiter Stelle eine Klärung ihres Status zwischen Grammatik und Phraseologie, zwischen Regularität und Irregularität. Ein dritter Aspekt der Frage, was FVG sind, betrifft ihre Funktion: Wozu dienen FVG in der Kommunikation?
Der Aufbau dieser Arbeit richtet sich ganz nach dem vorgestellten Fragenkatalog. In Kapitel 2 werden zunächst die Abgrenzungsversuche der bisherigen Forschung rekapituliert und einer eingehenden Kritik unterzogen. In Kapitel 3 wird dann ein Neuansatz formuliert. Hier sollen Kriterien entwickelt werden, mit deren Hilfe sich eine besondere Klasse von Nomen-Verb-Verbindungen auf sinnvolle Weise von anderen solcher Verbindungen abgrenzen lässt. Auf der Basis dieser Klassenkonstitution wird dann in mehreren Schritten die Frage des Status der FVG im Sprachsystem bzw. die damit eng zusammenhängende Frage nach ihrer Regularität bzw. Irregularität behandelt. In Kapitel 4 werden dazu zunächst die Beschreibungskategorien, die sich aus den grammatischen Darstellungen sowie aus Ansätzen der Phraseologieforschung ergeben, auf ihre Eignung für eine Positionsbestimmung der FVG geprüft. Das daran anschließende Kapitel 5, das sich mit der Besetzung der N-Positionen befasst, ist für die Untersuchung zentral, da es hier in besonderer Weise um die Ermittlung von möglichen Regeln der Leerstellenbesetzung geht. Kapitel 6 untersucht syntaktische Aspekte von FVG. Hierbei soll herausgearbeitet werden, wieweit die üblichen grammatischen Regeln zur Erklärung von FVG herangezogen werden können bzw. inwieweit konstruktionsspezifische Regeln anzunehmen sind. Kapitel 7, das den möglichen Funktionen von FVG gewidmet ist, diskutiert bisher vorgelegte Hypothesen zum kommunikativen Nutzen dieser Fügungen und skizziert auf der Basis kognitivlinguistischer Beschreibungskategorien eine neue Funktionsbestimmung. In Kapitel 8 sollen dann die Fäden zusammengezogen werden, indem FV und FVG als Knotenpunkte in einem komplexen Vererbungsnetzwerk modelliert werden.
FVG werden meist als eine Kategorie beschrieben, die in einem Übergangsbereich zwischen Syntax und Lexikon, zwischen Regelhaftigkeit und Idiosynkrasie anzusiedeln ist (vgl. Detges 1996: 4). Mit Phänomenen, die einem solchen Zwischenbereich zugerechnet werden, hat sich seit den 1990er Jahren vor allem die sog. Konstruktionsgrammatik intensiv auseinandergesetzt. Was den theoretischen Rahmen angeht, in dem sich die vorliegende Untersuchung bewegt, erscheint eine konstruktionsgrammatisch orientierte Herangehensweise daher naheliegend. „Die“ Konstruktionsgrammatik als einheitliches Theoriegebäude gibt es freilich nicht. Hier existiert lediglich eine Reihe von Strömungen, die bestimmte Grundannahmen teilen (für einen Überblick Engelberg/Holler/Proost 2011). Für die vorliegende Arbeit sind besonders zwei Aspekte dieser Theorietradition relevant: Erstens die für jede Ausprägung der Konstruktionsgrammatik konstitutive Annahme, dass auch syntaktische Strukturen bedeutungstragend sein können, sowie zweitens die Modellierung sprachlichen Wissens als komplexes Netzwerk. Bei der Formulierung eigener Hypothesen wird dabei vorwiegend auf die Variante der Konstruktionsgrammatik zurückgegriffen, die Jackendoff (1997; 2002) entwickelt hat (strenggenommen liegt hier auch keine Variante der Konstruktionsgrammatik, sondern eine eigenständige Theorie vor, die zwischen dem Generativismus Chomsky’scher Prägung und kognitiv-linguistischen Strömungen zu verorten ist). In dieser Untersuchung spielt Jackendoffs Modell der „Konstruktionsfamilie“ (Jackendoff 2008) sowie die Theorie der Parallelarchitektur (Jackendoff 2002; 2010) eine besondere Rolle für die Herausarbeitung eigener Ansätze. (Als Parallelarchitektur bezeichnet Jackendoff seine Sprachtheorie, in der drei unabhängige generative Schichten postuliert werden – die phonologische, die syntaktische und die konzeptuelle Struktur –, die über Schnittstellen miteinander verbunden sind.)
Im Hinblick auf die Methoden und Theorien, die hier Verwendung finden, sind ferner Ansätze aus der Lexikologie, speziell der lexikalischen Semantik, von Bedeutung. Hier wird einerseits auf die reiche Tradition der dekompositionalen Verbsemantik Bezug genommen, die für die Beschreibung der Funktionsverben unverzichtbar ist. Andererseits bedient sich diese Arbeit intensiv aus dem Werkzeugkasten der Lexikologie, hier vor allem bei der Modellierung von Wortschatzbeziehungen mittels Implikationsrelationen.
Die genannten theoretischen Präferenzen schließen freilich andere Beschreibungstraditionen, sofern sie etwas zum Thema beizutragen haben, nicht aus. Dies gilt etwa für Ansätze der HPSG oder des Minimalismus. Insgesamt bekennt sich diese Arbeit trotz der gesetzten Schwerpunkte somit ausdrücklich zu einem methodischen Eklektizismus: Die Probleme des hier behandelten Feldes sind zu komplex, als dass sie mit einer einzigen homogenen Theorie zu lösen wären. Das Motto „we are in this together“ (Jackendoff 2002: xiii) gilt auch für die in dieser Untersuchung verwendeten Methoden.
Aus dem hier einleitend Gesagten geht hervor, dass sich diese Untersuchung in erster Linie als theoriegeleitet versteht: Es geht in ihr vornehmlich darum, eine Kategorie Funktionsverbgefüge überhaupt begrifflich fassbar und beschreibbar zu machen. Es sind natürlich auch vollkommen andere, d. h. eher empirie- bzw. korpusgeleitete Wege denkbar, sich dem Feld zu nähern, und in einigen jüngeren Studien sind solche Wege auch beschritten worden. Der Grund dafür, in dieser Arbeit anders zu verfahren, liegt darin, dass es in der Forschung zu Funktionsverbgefügen nach Eindruck des Verfassers nicht an empirischen Untersuchungen fehlt, sondern dass vor allem ein klarer Begriff davon, was überhaupt erforscht und in den Daten aufgesucht werden soll, noch nicht hinreichend herausgearbeitet worden ist. Wie die Daten des Deutschen untersucht und welche Fragen an sie gerichtet werden, ist daher vor allem von den oben angesprochenen Leitfragen bestimmt: Was sind Funktionsverbgefüge und welche Stellung kommt ihnen im Sprachsystem zu? Was die zur Beantwortung dieser Fragen genutzte Datengrundlage betrifft, werden sowohl Kompetenzbeispiele als auch Korpusbelege verwendet. Eine strikte Korpusbasierung mag zwar wünschenswert erscheinen, allerdings stehen Aufwand und Ertrag angesichts der zur Zeit noch begrenzten Erschließungsmöglichkeiten für elektronische Korpora in keinem vernünftigen Verhältnis. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass Funktionsverbgefüge nur schwer automatisch aus den gängigen Korpora extrahiert werden können, da die einschlägigen Verben (bringen, kommen, haben usw.) zum einen extrem häufig sind und zum anderen die Korpora gegenwärtig noch nicht so tief annotiert sind, dass sie systematisch nach Ereignisnominalisierungen durchsuchbar wären (außer z. B. über eine Suche nach einzelnen Ableitungselementen wie -ung). Die Ermittlung eines Bestandes von Funktionsverbgefügen greift daher in einem ersten Schritt auf die Forschungsliteratur zurück. Diese ist sehr reichhaltig und bietet in der Schnittmenge eine umfassende Datengrundlage. In einem zweiten Schritt sind alle Fügungen aus der Literatur selbstverständlich auf ihre Authentizität zu prüfen. Dies geschieht auf der Basis des über das Recherchesystem COSMAS II durchsuchbaren „Deutschen Referenzkorpus“ (DEREKO), das vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim bereitgestellt wird. Hier wird stets das „Archiv W-öffentlich“ benutzt, das vorwiegend Zeitungstexte seit den 1990er Jahren bis in die Gegenwart umfasst. Wenn nicht anders angegeben, stammen Korpusbeispiele aus dieser Quelle.