Um die Frage, ob der Taufschein im 17. und 18. Jahrhundert eine „Eintrittskarte“ in die christlich-lutherische Kultur sein konnte, konkret ein Papier, das der Integration in die christliche Gesellschaft diente, soll es in dieser Schrift gehen. Im Folgenden werden hierfür jüdische Taufanwärter und jüdische Konvertiten, also Personen, die aus dem Judentum zur lutherischen Kirche konvertierten, untersucht. Als Untersuchungsgebiet dient das im heutigen Thüringen gelegene Herzogtum Sachsen-Gotha, ab 1672 Sachsen-Gotha-Altenburg, das aus pragmatischen Gründen fortan für den gesamten Untersuchungszeitraum als Sachsen-Gotha bezeichnet wird. Den zeitlichen Rahmen bilden die Gründung des Herzogtums durch Herzog Ernst I. (1601 – 1675) im Jahr 1640 und der Tod Herzog Friedrichs III. (1699 – 1772) im Jahr 1772.
1.1 Fragestellung
Themenschwerpunkt stellt das Leben jüdischer Taufanwärter und Konvertiten im frühneuzeitlichen Herzogtum Sachsen-Gotha dar. Erstmals werden hier die Biografien nicht akademischer Männer, Frauen und Kinder jüdischer Herkunft, die getauft wurden oder werden sollten, umfänglich rekonstruiert und untersucht – neben der Gruppe gelehrter Konvertiten, von denen und über die zeitgenössische Konversionserzählungen vorliegen und welche bereits als Untersuchungsgegenstand umfassender Forschungsarbeit dienten. Gerade die regionale Eingrenzung auf das Herzogtum Sachsen-Gotha eröffnet die Möglichkeit, gezielt handschriftliche Quellen zu erforschen und die jüdischen Konvertiten als heterogene Gruppe auszudifferenzieren sowie im Rahmen der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu kontextualisieren. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob die Konvertiten nach ihrer Taufe in die christliche Lebensgemeinschaft und Ständegesellschaft integriert werden konnten oder nicht. Anhand einiger Beispiele wird außerdem gezeigt, wie der Lebensweg der Kinder und Enkelkinder jüdischer Konvertiten verlaufen ist. Dies ermöglicht, den Prozess der Integration oder Nichtintegration über einen längeren Zeitraum zu verfolgen.
Herbert A. Strauss hält bezüglich des Religionswechsels in der Frühen Neuzeit Folgendes fest: „Die Bekehrung zum Christentum brachte im Allgemeinen unbegrenzte Aufnahme in Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft.“4 Wesentlich öfter wird jedoch davon ausgegangen, dass ein neues Leben mit Familie, Verwandtschaft, sozialen Kontakten, Besitz und Beruf für die wenigsten erreichbar war. Dabei sei Armut das schwerste und sichtbarste Hindernis bei der Integration gewesen, insbesondere weil die betroffenen Personen aus den sozial schwächeren Schichten des Judentums gekommen seien und durch die Konversion soziale und finanzielle Netzwerke geopfert und mit ihrer gesamten bisherigen Existenz gebrochen hätten. Zudem hatten sie innerhalb der jüdischen Gemeinden Berufe ausgeübt, die nicht eins zu eins in die christliche Gesellschaft übertragbar waren. Der Erfolg einer Konversion wird jedoch zumeist daran gemessen, ob eine Konversion einen sozialen Auf- oder Abstieg mit sich brachte.5
Rudolf Glanz geht von einem wirtschaftlichen Grundsatz der Kirche aus, die nach der Taufe entstehenden Belastungen zu minimieren und es nach Möglichkeit bei einer einmaligen Hilfe zu belassen.6 Auch Martin Jung nimmt an, dass sich die Kirche und Gesellschaft bei zahlreichen Konvertiten nicht ernsthaft um deren Integration bemühte.7
Laut Johannes Graf führte die Taufe nur zu einer formalen Integration, eine Aufnahme in die christliche Gesellschaft blieb hingegen aus. Schon die Tatsache, dass die Konvertiten ihren Glauben gewechselt hatten, habe zu Misstrauen und zur Übertragung antijüdischer Stereotype auf Konvertiten geführt.8
Elisheva Carlebach konstatiert, dass jüdische Konvertiten nach der Taufe üblicherweise in einem begrenzten sozialen Kreis blieben und häufig andere Konvertiten oder, insbesondere bei Konversionen zum Protestantismus, Kinder christlicher Theologen heirateten. Dies verweise auf eine schwache Aufnahmebereitschaft der christlichen Gesellschaft von Konvertiten als sozial Gleichgestellte. Die ökonomische und berufliche Integration habe sich als noch größere Herausforderung erwiesen. Viele seien aus einer armen, aber achtbaren sozialen Schicht gekommen und endeten letztendlich in ähnlichen Verhältnissen im Christentum, häufig habe sich ihr sozioökonomischer Status sogar verschlechtert. Insbesondere für Konvertiten, die sich nicht als Lehrer und Dozenten, Priester oder Pastoren beschäftigen konnten, sei eine Integration in die christliche Gesellschaft kompliziert gewesen, sie hätten einen Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung erlitten, so Carlebach. Obschon sich jüdische Konvertiten als „Neugeborene“ präsentierten, hätten Christen sie als „Taufjuden“ wahrgenommen – zwar getauft, aber nicht wirklich konvertiert. Dadurch seien sie in einer Übergangsphase geblieben, am Rand von zwei Gesellschaften, aber in keiner im Zentrum.9
Rotraud Ries leitet aus der ihr vorliegenden Forschungsliteratur ebenfalls ab, dass Konvertiten nach der Taufe ihrem Schicksal überlassen wurden und einer einsamen Zukunft entgegengingen. Als Ausnahmen seien jene zu betrachten, „die sich langfristig kompetenter Protektion erfreuen konnten und/oder Karrieren zum Beispiel als Geistliche und Universitätslektoren machten“10. Allerdings warnt sie vor Generalisierungen, da die sozialen Folgen von Konversionen bislang wenig erforscht seien.11
Auch Gesine Carl schließt nicht aus, dass die Zahl der Konvertiten, die im neuen Lebensumfeld Fuß fassen konnten, eventuell höher sein könnte, als bisher anhand der Konversionserzählungen anzunehmen sei. Trotz allem beantwortet auch sie die Frage, ob Konvertiten nach der Taufe „Grenzgänger“ blieben und ihr Leben in einer „Art Zwischenwelt“ verbrachten, tendenziell mit Ja. Eine gänzliche Integration in die christliche Lebenswelt sei keinesfalls selbstverständlich gewesen oder konnte zumindest sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Das christliche Umfeld habe keinen Zweifel daran gelassen, dass die ehemaligen Juden nicht als gleichberechtigt, sondern, wie bisher, als „verdächtig“ galten.12
Jutta Braden hebt unter Verweis auf die vorhandene Forschungsliteratur und ihre eigenen Recherchen hervor, dass die Konvertiten aus dem Judentum in zeitgenössischen Quellen als „jüdischer Proselyt“, „Judaeus Conversus“, „bekehrter Jude“ oder „getaufter Jude“ bezeichnet wurden. Dies belege, dass Konvertiten als ehemalige Juden stigmatisiert wurden und man das aus christlicher Sicht vorhandene Misstrauen gegenüber Juden auf sie übertragen habe. Als Mitglieder der christlichen Kirche seien sie nicht unbedingt Mitglieder der christlichen Gesellschaft gewesen, weshalb die „Wiedergeburt“ durch die Taufe in sozialer Hinsicht ausgeblieben sei. Allerdings lasse sich die in den Quellen getätigte Stigmatisierung nicht als Nachweis von Diskriminierungen sämtlicher Vertreter dieses Personenkreises verstehen. Deshalb seien detaillierte Analysen von Einzelfällen unbedingt notwendig, die jedoch im Rahmen ihrer Arbeit nicht zu leisten waren. Auch Braden geht davon aus, dass das Leben der Konvertiten in Bezug auf berufliche Etablierung problematisch und dadurch von materiellen Nöten bestimmt war. Hamburg habe sich hingegen von anderen Orten unterschieden, weil es mit der Esdras-Edzardi-Stiftung zur Bekehrung der Juden ein Versorgungssystem gab, das auf jüdische Taufbewerber und Konvertiten von nah und fern anziehend wirkte. Daraus sei eine „Art Kolonie am Rande sowohl der jüdischen als auch christlichen Gesellschaft“ in der Hamburger Neustadt entstanden, die eine „soziale Zuflucht“ für eben jene Personen geboten habe.13
Offenkundig werden die Möglichkeiten einer Integration jüdischer Konvertiten in die christliche Ständegesellschaft von einem nicht geringen Teil der Forschenden bezweifelt. Allerdings sind die Integrationschancen von Konvertiten noch nicht umfassend erforscht, wie Irmgard Schwanke betont.14 Verschiedene regionale Studien legen jedoch nahe, dass es durchaus auch positive Beispiele gab.15 Deshalb soll dieser Aspekt das Zentrum der folgenden Ausführungen bilden. Um darstellen zu können, ob es im Untersuchungsgebiet und -zeitraum zu Integrationen jüdischer Konvertiten kam, werden die diesbezüglichen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Aufnahmegesellschaft betrachtet. Es wird außerdem untersucht, welche Rolle bestimmte Personen des Hofes und der Gemeinden vor und nach der Taufe im Werdegang der Konvertiten spielten. Für das Herzogtum Sachsen-Gotha gilt insbesondere zu berücksichtigen, dass hier Vertreter der sogenannten lutherischen Orthodoxie und des Pietismus aufeinandertrafen. Es handelt sich zudem um die Heimat von Johann Heinrich Callenberg (1694 – 1760), dem Mitbegründer und ersten Direktor der 1728 im Umfeld des Hallischen Pietismus entstandenen lutherischen Missionsanstalt für Juden und Muslime, dem Institutum Judaicum et Muhammedicum.
Juden, die sich zur Konversion entschieden, werden im Folgenden als ‚handelnde Personen‘ wahrgenommen, die auf bestimmte gesellschaftliche Kontexte und Veränderungen reagierten, Handlungsbedingungen eruierten und eine bewusste Entscheidung trafen.16 Dies bedeutet auch, sich mit den von ihnen angegebenen Motiven ihrer Konversion auseinanderzusetzen. Annekathrin Helbig hat es unmissverständlich auf den Punkt gebracht: „Der einseitig von K.-Berichten [Konversionsberichten, AK] ausgehende Blick auf K. [Konversion, AK] versperrt jedoch nachhaltigere Erkenntnisse zu den sozioökonomischen Motiven.“17 Dass die Frage nach den Motiven methodische Probleme aufwirft, weil sich in den genannten Gründen zur Konversion häufig die Erwartungen der aufnehmenden Religion und das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit, sich rechtfertigen zu müssen, widerspiegeln, ist vorauszusetzen.18 Aber, so Kim Siebenhüner, „Ereignisse, Erfahrungen und Etappen einer Biografie lassen sich rekonstruieren. Wir können mit anderen Worten Kontexte erforschen und eine plausible Lesart einer Konversion innerhalb dieses Kontextes vorschlagen.“19 Dies ist im Übrigen auch notwendig, um beurteilen zu können, wie „erfolgreich“ eine Konversion bezüglich der Integration im Vergleich zur Ausgangssituation war. Dadurch lässt sich zudem die in der Forschung gemachte Feststellung, dass Konvertiten in beruflicher Hinsicht Tätigkeiten untergeordneter Art nachgehen mussten, überprüfen.20
Wie stark neben dem durch die Konversion hervorgerufenen äußeren Lebenswandel der Wandel der persönlichen Identität war, stellt kein Untersuchungsziel dar. Dort, wo sich Hinweise finden, wird jedoch darauf verwiesen. Die zur Verfügung stehenden Quellen, die allesamt im Kontext der Konversion entstanden sind und sich mit Rotraud Ries als „intentional angelegt“ und „parteiisch überformt“ beschreiben lassen, machen eine solche Beurteilung extrem kompliziert.21 Wirkliche religiöse Überzeugung als Grund der Konversion kann laut Monika Wohlrab-Sahr dabei ebenso wenig ausgeschlossen werden, wie die Möglichkeit, „dass eine äußerlich vollzogene Abgrenzung eine innere nach sich zieht.“22 Sharon Gordon unterscheidet diesbezüglich zwischen einer „nominal“ und „transformational conversion“: „Nominal conversion refers to the social spere, and emphasizes the outer world, while transformational conversion indicates an interna...