Bei der Suche nach den Ursprüngen einer spezifisch gutachtlichen Fortbildung in der Medizin stößt man auf die jeweils 1. Auflage der „Neurologischen Begutachtung“ des Kasseler Neurologen Richard Suchenwirth sowie der „Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane“ des Heidelberger Orthopäden Gerhard Rompe und des Vorsitzenden Richters am LSG Niedersachsen Arnold Erlenkämper. 1989 erschien der erste Band des „Gutachterkolloquiums“. Ein Rezensent kommentierte das Erscheinen wie folgt:
Das ärztliche Gutachten ist nicht nur in der Unfallversicherung von entscheidender Bedeutung für die Zuerkennung oder Ablehnung von Versicherungsleistungen. Es dient häufig als entscheidende Grundlage für Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen. Deshalb ist es angezeigt, dass sich mit dem Gutachten nicht nur Ärzte befassen, die es erstellen, sondern auch Juristen, für deren Entscheidung es häufig die wichtigste Grundlage darstellt. Es liegt in der Natur der Sache, dass Juristen andere Anforderungen an Gutachten stellen als Ärzte. Es ist deshalb verdienstvoll, dass sich beim „Duisburger Gutachtenkolloquium“ Ärzte und Juristen zusammengefunden haben, um die Probleme des ärztlichen Gutachtens zu diskutieren. Der Schwerpunkt der Diskussion lag auf praxisbezogenen Hinweisen zur Verbesserung des Standards der Gutachten für die gesetzliche und private Unfallversicherung.
Die genannten Lehrbücher sowie das „Duisburger Gutachterkolloquium“ als regelmäßige Einrichtung eines inter- und transdisziplinären Dialogs dürften damit wesentliche Ausgangspunkte in dem Bemühen bilden, die Begutachtung vom Makel der bloßen Erwerbsquelle in einem Randbereich ärztlicher Tätigkeit zu befreien und als ernsthafte Teildisziplin der Fort- und Weiterbildung stärker in das Bewusstsein zu rücken. Dass dabei einer der Kristallisationspunkte in einer BG-Klinik lag, kam nicht von ungefähr, zeigt sich doch gerade in der spezialisierten Versorgung von Arbeits- und Wegeverunfallten die enge Verzahnung zwischen leistungsrechtlichen Vorgaben in der Sozialversicherung einerseits und den medizinischen Versorgungsmöglichkeiten andererseits mit der ärztlichen Begutachtung gewissermaßen als Scharnier. Mit der „Arbeitsgemeinschaft für Sozialmedizin und Begutachtungsfragen“ der „Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie“ (DGOOC) und der Kommission „Gutachten“ der „Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie“ (DGU) gelang auf traumatologischem Gebiet auch relativ rasch die Verbindung mit den jeweiligen wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Erste Ansätze einer strukturierten Gutachteraus- und Fortbildung entstammten aber weiterhin der Initiative engagierter Einzelpersonen, so aus dem „Initiativkreis medizinischer Begutachtung“ (jetzt „Fachgesellschaft für interdisziplinäre medizinische Begutachtung e. V.“) um Frank Schröter und Elmar Ludolph oder der aus der „Gutachterkommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie“ 1998 hervorgegangenen „Arbeitsgemeinschaft neurologische Begutachtung“ (ANB e. V.). Deren bereits im Jahr 2000 implementiertes Ausbildungscurriculum diente auch als Vorlage, als die Bundesärztekammer 2001 an den Verfasser mit der Bitte herantrat, bei der Entwicklung eines Fortbildungsprogramms unterstützend mitzuwirken.
Das in der Folge erarbeitete Curriculum „Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ mit 60 Stunden wurde nach intensiven Diskussionen schließlich 2003 offiziell verabschiedet. Nach ersten Testläufen, u. a. in den Ärztekammerbezirken Westfalen-Lippe und Berlin, wurde der Text überarbeitet und 2008 in einer 2. Auflage neu gefasst. Auf Initiative der Fortbildungsakademie der Ärztekammer Westfalen-Lippe wurde dann wiederum unter Schriftführung des Verfassers eine 3. Auflage vorbereitet, die nun auch wichtige interdisziplinäre (Schmerzbegutachtung, Kultursensibilität) sowie fachspezifische Aspekte umfasst und in dem neu geschaffenen Instrument der „Strukturierten curricularen Fortbildung“ (SCF) angepasst werden sollte, um zu einem ankündigungsfähigen Abschluss zu gelangen. Bei der Konzeption wurden Vertreter der für die Begutachtung maßgeblichen Fachgesellschaften eingebunden, so dass nach nochmaliger Evaluation durch Testläufe in mehreren Kammerbezirken und Zustimmung des „Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung“ im März 2014 eine breit konsentierte 3. Auflage veröffentlicht werden konnte, nunmehr mit dem Titel „Strukturierte curriculare Fortbildung – Medizinische Begutachtung“ und einem Zeitumfang von 64 Stunden (Tab. 1.1). Neben dem beibehaltenen Grundlagenkurs in einem Umfang von weiterhin 40 Stunden (Module Ia/b/c) wurden interdisziplinäre (Modul II) und fachgebietsbezogene Aspekte (Modul III) mit 8 bzw. 16 Stunden zusätzlich aufgenommen. Die fachspezifischen Module beschränkten sich zunächst auf die Neurologie und die Orthopädie/Unfallchirurgie. Bereits im Oktober 2014 kamen die Module aus den Bereichen HNO-Heilkunde sowie Psychiatrie/Psychotherapie hinzu. Im September 2015 folgte die Innere Medizin, einschließlich ihrer Schwerpunkte und die Rheumatologie und den Abschluss bildete – bislang – im März 2016 die Augenheilkunde. Weitere Fachgebiete, u. a. Pädiatrie, Dermatologie sowie Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie, sind derzeit in Vorbereitung.
Aufgrund der kompetenzrechtlichen Strukturvorgaben erfolgt die berufsrechtlich verbindliche Umsetzung letztlich auf der Ebene der Landesärztekammern, was nicht überall reibungslos verlaufen ist. So kennt das Berufsrecht in einigen Kammerbezirken die SCF nicht als ankündigungsfähiges Zertifikat, so dass dort entsprechende Kurse nicht angeboten werden (können), z. B. in Niedersachsen. Andere Kammern bieten nach wie vor nur den 40-stündigen Grundlagenkurs an oder haben aufgrund der angeblich geringen Nachfrage ihrer Mitglieder kein oder ein nur sehr reduziertes Kursangebot, wobei sicherlich auch die limitierte Zahl der hierfür zur Verfügung stehenden Dozenten von Bedeutung sein dürfte. Parallel hierzu haben auch die Fachgesellschaften, soweit sie Fortbildungsprogramme für ihr Gebiet bereits entwickelt hatten, die Kurse an das SCF adaptiert, sei es im Sinne eines Komplettangebots, einschließlich der Möglichkeit einer gesellschaftsbezogenen Zertifizierung, wie bei der „Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung“, die aus der schon erwähnten neurologischen Arbeitsgemeinschaft hervorgegangen ist und sich vor einigen Jahren auch weiteren „Neurofächern“ (Psychiatrie, Neurochirurgie) geöffnet hat, sei es als spezielles Angebot in den SCF-Modulen II und III, wie etwa bei der „Fachgesellschaft für interdisziplinäre Begutachtung“ (fgimb.de) oder (in Vorbereitung) der „Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie“. Den Teilnehmern bietet sich dann die Möglichkeit, den Besuch dieser Kurse als Äquivalent zur SCF von ihrer Ärztekammer anerkennen zu lassen, um so ebenfalls die Erlaubnis zu erhalten, den Bereich der „Medizinischen Begutachtung“ in berufsrechtlich zulässiger Weise anzukündigen. Wo dies nicht gelingen sollte, bliebe als Alternative die Ankündigung als Schwerpunktbezeichnung z. B. als „Zertifizierter Gutachter“ der FGIMB (https://www.fgimb.de/zertifizierung.html).
Ziel dieses Buches ist die synoptische Einführung in die Module I und II der SCF und richtet sich somit an alle Fachgebiete. Die nachfolgenden Darstellungen zeigen die Gesamtstruktur und – pars pro toto – die inhaltlichen Vorgaben für das Modul III im Fach Orthopädie/Unfallchirurgie.
Tab. 1.1:Inhalte des Gutachten-Curriculums der Bundesärztekammer.
strukturierte curriculare Fortbildung, medizinische Begutachtung |
64 h |
Modul I |
- –
allgemeine Grundlagen, Zustandsbegutachtung I: Leistungsfähigkeit im Arbeits- und Erwerbsleben, Rehabilitation, Schwerbehindertenrecht (12 h)
- –
kausalitätsbezogene Begutachtung (12 h)
- –
Zustandsbegutachtung II: Pflegeversicherung, Private Krankenversicherung, Berufsunfähigkeits-(zusatz)versicherung, spezielle Begutachtungsfragen (16 h)
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40 h |
Modul II |
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8 h |
Modul III |
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16 h |
Lernerfolgskontrolle
Erstellung eines Final- und Kausalitätsgutachtens |
h = 45 min; das Erstellen jeweils eines Final- und eines Kausalitätsgutachtens soll zwischen Modul II und Modul III erfolgen. |