Über einhundert Jahre sind seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vergangen. Die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags jährte sich 2019 zum 100. Mal. Diejenigen, die diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts1 miterlebt haben, sind uns längst nur noch in Erinnerungen und Erzählungen, aber auch in geschriebenen Texten präsent. Viele Erfahrungen wurden in Briefen und Tagebüchern festgehalten, die uns heute ausschnittartig einen Zugang zur Realität des Ersten Weltkriegs ermöglichen.
Für weite Teile der Bevölkerung bedeutet der Erste Weltkrieg einen gravierenden Umbruch in der gewohnten Lebenswelt. Die Männer werden zum Militär eingezogen und an die Front geschickt oder zum Arbeitseinsatz abkommandiert. Sie verlassen ihre Familien, ihr gewohntes Umfeld und ihren Arbeitsplatz. Die Frauen müssen oftmals Aufgaben ihrer Männer übernehmen und sich um Haus und Hof kümmern. Das einzige Mittel, das ihnen bleibt, um den Kontakt aufrechtzuerhalten, ist das Schreiben. Während der beinahe fünf Jahre dauernden Kriegshandlungen werden unzählige Briefe, Postkarten und Päckchen versandt, die nicht nur die materiellen Bedürfnisse der Soldaten stillen, sondern auch und insbesondere eine psychische Stütze sind. Von 1914 bis 1918 werden Millionen von Briefen und Postkarten redigiert, von der Front in die Heimat und von dort an die Front, in denen sich die Schreiber2 ihrer guten Gesundheit versichern, den bisweilen lähmenden Alltag in den Schützengräben während des Stellungskriegs beschreiben, in denen die Entwicklung der Kinder und alltägliche Anekdoten berichtet, aber auch Informationen über gefallene Familienmitglieder, Bekannte und Freunde weitergegeben sowie Nachfragen formuliert und Hoffnungen ausgedrückt werden. Um den Grausamkeiten des Kriegs zu begegnen und ihnen wenigstens ansatzweise etwas entgegensetzen zu können, beginnen viele Soldaten ihre Erlebnisse in Tagebüchern festzuhalten.
Der Krieg betrifft alle und so greifen nun auch Menschen zu Stift und Papier, die in ihrem Vorkriegsalltag kaum mit dem Schreiben in Berührung kommen. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind diese Schriftstücke von besonderem Wert, bilden sie doch den sprachlichen Ausdruck von denjenigen Mitgliedern einer Gesellschaft ab, die in der Geschichte eher wenig schriftliche Spuren hinterlassen haben. Aus dieser Perspektive ist der Erste Weltkrieg nicht nur ein historisch-politisches Ereignis, sondern auch ein kommunikatives.3
Die vorliegende Arbeit widmet sich eben diesen Menschen und ihrem sprachlichen Ausdruck. Sie versteht sich als ein Beitrag zur Sprachgeschichtsschreibung des Französischen, der den informellen Sprachgebrauch eines Ausschnitts der französischen Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1919 auf Grundlage authentischer, noch nicht untersuchter Textzeugnisse in den Blick nimmt. Die Autoren der Ego-Dokumente des Analysekorpus sind keine prominenten Persönlichkeiten oder politisch einflussreichen Akteure, sie sind Arbeiter, Handwerker und Landwirte aus zumeist einfachen Verhältnissen.
Diese Untersuchung der Ego-Dokumente legt den Fokus auf das sprachlich handelnde Individuum in einem spezifischen Kontext, unter dem Einfluss verschiedener historischer, sozialer und politischer Faktoren. Der theoretische Rahmen der historischen Soziolinguistik zielt darauf ab, Korrelationen zwischen sprachlichem Ausdruck und sozialen Variablen in einer gegebenen Sprachgemeinschaft aus historischer Perspektive zu etablieren. In einem ersten Schritt wird daher die historische Soziolinguistik in ihrer konzeptionellen und methodologischen Ausrichtung skizziert (Kapitel 2). Innerhalb dieses Rahmens des historisch-soziolinguistischen Zugriffes sind für die vorliegende Arbeit insbesondere die Konzepte der Sprachgeschichte «von unten» und des die Schreiber betreffenden Charakteristikums der peu lettré relevant.
Die Bezeichnung der Texte des Analysekorpus als Ego-Dokumente macht eine weitere theoretische Fundierung nötig (Kapitel 3). Das Konzept Ego-Dokument wird in seiner Herausbildung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie in seiner methodologischen und konzeptionellen Entwicklung vorgestellt. Ausgehend von seiner Anwendung in neueren sprachwissenschaftlichen Arbeiten wird das Konzept in dem für die vorliegende Arbeit relevanten Verständnis definiert. Außerdem werden die das Analysekorpus konstituierenden Texte in ihrer nähesprachlichen Affinität beschrieben.
In Kapitel 4 wird die Komposition des Korpus, das die Grundlage für die folgenden drei Analysekapitel 5 bis 7 bildet, geschildert. Hier werden zum einen in synthetischer Form die primären Schreiber der verschiedenen Textfonds vorgestellt und zum anderen die verschiedenen Phasen der Konstitution des Korpus sowie die Kriterien der Selektion der aufgenommenen Texte erläutert.
Die erste Analyse untersucht den schriftsprachlichen Ausdruck der weniger geübten Schreiber des Korpus auf den sprachlichen Ebenen der Orthographie, des Lexikons, der Morphosyntax und der diskursiven Organisation (Kapitel 5). Der individuelle Schriftsprachausdruck wird hierbei sowohl aus dem Blickwinkel des Schriftspracherwerbs mit seinen verschiedenen konstitutiven Phasen als auch aus der Perspektive einer Schreibsozialisation innerhalb einer sprachlichen Gemeinschaft beschrieben. Unter Berücksichtigung von am Schriftspracherwerb beteiligten mentalen Prozessen wird die Analyse um eine kognitive Dimension bereichert. Diese Analyse fragt nach den Motivationen für die von den Schreibern gewählten Varianten sowie den Strategien, die die Schreiber bei der Verschriftlichung mobilisieren.
Der geographischen Ausrichtung des Korpus ist die zweite Analyseperspektive geschuldet, die den in einem Ausschnitt der Texte dokumentierten Sprachkontakt zwischen dem Französischen und dem Deutschen und in geringerem Ausmaß auch des Französischen mit dem Italienischen und dem Englischen untersucht (Kapitel 6). Die Texte der zweisprachigen Schreiber bilden kontaktinduzierte Formen aus einer historischen Perspektive medial schriftlich ab.
Neben orthographischen, lexikalischen und morphosyntaktischen Kenntnissen müssen die Schreiber des Analysekorpus bei der Redaktion der Briefe über textsortenspezifisches Wissen verfügen. Die Modellierung dieses Wissens und die Auswertung des formelhaften Sprachgebrauchs bilden den Gegenstand des dritten Analysekapitels (Kapitel 7).
Die vorliegende Untersuchung erhebt keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität und auch nicht darauf, den Sprachgebrauch bestimmter sozialer Gruppen exhaustiv abzubilden.4 Dies liegt jedoch auch nicht im Ziel der Analysen. Vielmehr zielt diese Betrachtung des Sprachgebrauchs weniger geübter Schreiber darauf ab, den schriftsprachlichen Ausdruck dieser Personen systematisch und in seinem sozio-historischen Kontext zu analysieren. Diese Arbeit versteht sich als eine Momentaufnahme des Schriftsprachgebrauchs eines Teils der Französischsprechenden und gewissermaßen als ein Stein in einem großen Mosaik der französischen Sprachgeschichte. Gemeinsam mit anderen Steinen soll sie dazu beitragen, ein ganzheitlicheres Bild der Geschichte des Französischen in seiner sozialen, stilistischen und regionalen Vielfalt zu zeichnen.