2.1 ‹Zwieschlächtigkeit›
Karl Marx bedient sich der Prägung zwieschlächtig, um die Doppelgesichtigkeit der Ware als strukturelle Besonderheit hervorzukehren. Marxens Überlegungen werden von seinem Biographen Jürgen Neffe im Jubiläumsjahr 2018 auf eine pointierte Formel gebracht: „Waren besitzen einen ,Doppelcharakter‘. Sie sind ,zwieschlächtig‘ wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Neffe 2018, 23). Das Lexem erhält hier durch den Vergleich mit einem Fall von Persönlichkeitsspaltung, der, obwohl pure Fiktion, längst zu einem Topos in der neueren Kulturgeschichte geworden ist, eine Inklination zu Psychoanalytischem, wie Neffe sie unmittelbar zuvor mit der Bemerkung, Marx lege „den Kapitalismus quasi auf die Couch“ (Neffe 2018, 23), unmissverständlich annonciert hat. In der Tat bezeichnet Zwieschlächtigkeit bei Marx eine konzeptuelle Dominante mit einem ausgedehnten Resonanzraum, in dem auch irrationale Schwingungen zu registrieren sind: Diese scheinen mit dem rationalen Gepräge, wie es das kapitalistische System nach außen hin zeigt, kaum zu harmonieren und lassen sich gedanklich nur schwer oder aber gar nicht einholen. Der Begriff2 der ‹Zwieschlächtigkeit›,3 der auf der Objektebene ein essentielles Merkmal der Ware, nämlich den Dualismus von „Gebrauchswert und Tauschwert“, sowie das Spezifische der in ihr „enthaltenen Arbeit“ (Marx 2013, 56),4 des Weiteren eine Eigentümlichkeit der „Ursprungsweise der Manufaktur“ (Marx 2013, 358)5 und der kapitalistischen Produktion überhaupt6 apostrophiert, ist letztlich auch auf eine Kategorie des ökonomischen und ökonomiekritischen Denkens von Marx beziehbar, besitzt demnach ein Moment der Selbstreferentialität: Marx denkt in Gegensätzen – und über Gegensätze hinaus. Das hat Adorno im Blick, wenn er, den in Rede stehenden Ausdruck auf Marx selbst zurückspiegelnd, zu dem Befund kommt, des Letzteren „Ideologielehre“ sei „zwieschlächtig in sich“ (Adorno 1970, 374).
Ehe ‹Zwieschlächtigkeit› als ideelle Zentralbestimmung wirtschaftlicher Konstituenten das gebührende Licht erhält, soll das Adjektiv zwieschlächtig auf seine Bedeutung hin betrachtet werden. Da es im „Deutschen Wörterbuch“ berücksichtigt ist, kann dieses als Ausgangspunkt für eine erste semantische Bestandsaufnahme dienen. Der entsprechende Eintrag bietet die Paraphrase „von bastardartiger natur, eigentlich und übertragen gebraucht“ (Grimm, Bd. 32, Sp. 1164). Die Beleggruppe schließt mit einem Verweis auf das Lemma zweischlächtig, das als Pendant zum lateinischen bigenus behandelt und dem die Erläuterung „beiden geschlechtern angehörig“ beigegeben ist. Im Zusammenhang mit zwei Belegen von Gutzkow und Grillparzer findet sich weiter noch die Information „zwischen zwei arten stehend“ (Grimm, Bd. 32, Sp. 1164), bei der zwischen buchstäblicher und übertragener Bedeutung unterschieden wird; es dürfte naheliegen, diese Umschreibung als die für den Wortgebrauch bei Marx einschlägige anzusetzen. ‹Bastardhaft› mag gleichwohl als subsidiäre semantische Komponente mitzudenken, ‹zwieschlächtig› folglich in den Bereich des ‹Gemischten›, ‹Unreinen›, ‹Unechten› und damit insgesamt auch des ‹Anrüchigen› zu nuancieren sein.
So verstanden haftet dem kategorialen Status der Ware als eines hybriden Phänomens, das zwischen zwei polare ökonomische Grundbestimmungen gespannt ist, der Ruch des Illegitimen, Fragwürdig-Abseitigen an, worin womöglich auch ein Motiv für Marxens polemisch-aggressive stilistische Gebärde liegt, die in erster Linie Ressentiments aufseiten des Autors, etwa ein Angewidertsein als Grundbefindlichkeit, bezeugen, insgesamt aber doch auch mehr als nur Subjektives transportieren dürfte: Marxens Schreibweise könnte auch den Dünkel einer Gesellschaft abgelten, die vom fulminanten Siegeszug des sich fortwährend ausdifferenzierenden Kapitalismus förmlich überrollt wird und ihn intellektuell nicht mehr zu bewältigen vermag. Die Ware ist anrüchig, das aporetische Moment, das sich in ihr verkörpert, den Traditionen und Anschauungen einer vorindustriellen, feudalen Gesellschaft mit ihrem statischen Ordnungssinn ungemäß: Sie spiegelt eine gesellschaftliche Realität wider, der kapitalistische ‹Zwieschlächtigkeit› den Stempel aufgedrückt hat, ohne dass man ihrer und ihrer Auswirkungen, der allfälligen Verdrehungen, die sie im Gefolge hat, einer nachgerade konstitutionellen „Verrücktheit“ (Marx 2013, 90)7 gewahr würde. Kurzum: Die ökonomischen Determinanten stellen ebenso wie die realen Verhältnisse, auf die sie ein grelles Schlaglicht werfen, ein Skandalon dar, das eingeschliffene, auf Eindeutigkeit verpflichtete apperzeptive und reflexive Modi außer Kurs setzt und das in der ökonomischen Theoriebildung auf Gegentendenzen, auf Bestrebungen nach Kompensation und Ausgleich, also auf handfeste Verdrängungsmechanismen trifft.
Dergleichen Gegenbewegungen greifen vor allem in formalistisch-positivistischen und szientistischen Strömungen Platz, die sich einseitig am rationalistischen Moment des Kapitalismus orientieren, wie es von Max Weber herausgearbeitet wurde, und denen dabei entgeht, dass das in sich vermittelte Rationalitätskonzept des Letzteren gebrochen und wohl auf einen bestimmenden Faktor, nicht aber auf ein Definiens des Kapitalismus festgeschrieben ist. Tatsächlich ist Weber einer Reihe von Denkern zuzurechnen, die, unabhängig von Marx und von anderen Voraussetzungen her, mit ihm in der These übereinstimmen, dass der Kapitalismus einen aporetischen Grundzug aufweise, und bei denen ‹Zwieschlächtigkeit› zumindest im Hintergrund als Leitvorstellung präsent ist, welche über die strukturelle Unterlage des Kapitalismus hinausreicht. Als ideeller Koeffizient oder als reflexive Disposition genommen, deutet ‹Zwieschlächtigkeit› auf eine genuin geisteswissenschaftliche Auffassung von Wirtschaft hin, intoniert sie folglich einen metaökonomischen Ansatz, der neben dem Gegenstand auch die um ihn zentrierten Theorien in Augenschein nimmt und sowohl auf ihren wissenschaftsgeschichtlichen Standort wie auf ihre ideologische Bedingtheit abhebt.
Ein solches Procedere ist dadurch charakterisiert, dass es sich, wie man mit Viktor von Weizsäcker sagen könnte, „ganz anders als gemäß der Logik“ gestaltet, und zwar nicht aus dem Grunde, weil der Zugang zum Untersuchungsobjekt durch Hürden erschwert würde, die sich theoretisch oder faktisch aus dem Wege räumen ließen, und der Gegenstand somit allein äußerer Hemmnisse wegen „noch nicht logisch durchdrungen“ wäre, sondern weil er prinzipiell – kraft einer vorreflexiven „Überzeugung“ – „als nicht-logisch beschaffen gilt“ (von Weizsäcker 2005, 403). Die Auseinandersetzung mit einem so beschaffenen Sujet ist, insofern sie seiner spezifischen Verfasstheit Rechnung trägt, ihrerseits „antilogisch“: nicht durch klassische Schlussformeln prästabiliert und auf logische Stimmigkeit vereidigt, aber doch begrifflich gebunden, diskursiv, „nicht ein Salto mortale ins Irrationale, sondern eine Anstrengung, zu einer gemäßigten Realität zu gelangen“ (von Weizsäcker 2005, 217).8 Das Moderierende an einem solchen Denken auf ein Wirklichkeitsphänomen hin, das intellektuell schwer zu bewältigen, weil seiner Struktur nach antinomisch ist, besteht darin, dass Wissenschaftlichkeit nicht verabsolutiert, sondern zu anderen Modi der Bezugnahme auf das zu Erforschende ins Verhältnis gesetzt und als ideologisches, normatives Artefakt gesehen wird, das die Wahrnehmung des Forschers konditioniert.
2.2 ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes
Als ambivalent, ja antagonistisch kann neben der Ware auch das Geld angesprochen werden. Es ist zum einen handfester „Tatbestand“ (Taeuber 1943, 438), integrale Erscheinung der menschlichen Erfahrungsrealität in weiten Teilen der Welt, und zwar in aller Regel unabhängig von der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und fiskalischen Ordnung in den einzelnen Staaten, zum anderen rein abstrakte, dabei höchst metamorphe Funktionsgröße, die den Einzelnen überflügelt, indem sie sich erst in weitgespannten, kaum mehr überschaubaren, wenn auch systemisch geregelten ökonomischen Zusammenhängen vollends entfaltet, welche ihrerseits von ihr getragen werden. Es ist ebenso durch Materialität, Substantialität und Konkretheit, also durch Merkmale, die von einem empirischen Wirklichkeitsbegriff abgezogen sind, wie durch Abstraktheit und Idealität gekennzeichnet, präsentiert sich demzufolge zugleich als reale und nominale Entität. Es gehört zu jenen von kategorialer Uneindeutigkeit durchstimmten Phänomenen, deren stoffliche Eigenschaften einen gedanklichen und einen sozialen Funktionssinn aufweisen und denen keine unmittelbare oder ungebrochene stoffliche Qualität mehr eignet. Um diese ihre Merkmale sprachlich geltend zu machen, hat Taeuber die Prägung quasi-räumlich9 eingebracht, die suggeriert, dass der physische Träger des Geldes oder sogar das Geld in seiner Dinglichkeit vermindert, mit einem Pseudos versetzt ist.10
Mag auch die historische Entwicklung des Geldes, wie es seit Simmel communis opinio in Kulturwissenschaft, Ökonomie und Soziologie ist, auf eine Verselbständigung seiner rein funktionalen und medialen Eigenschaften gegenüber seiner „technischen Basis“ (Taeuber 1943, 441f.) hinauslaufen, in der sich seine Dinglichkeit konzentriert und aus der weiter auch seine „ästhetische Seite“ (Taeuber 1943, 442) hervorgeht,11 so hat sich in den Geldtheorien die strukturimmanente Doppelgesichtigkeit des Objektes doch dauerhaft in einer reflexiven Antinomie niedergeschlagen, die bei der Aushandlung des Gegenstandes bald mehr, bald minder deutlich zum Austrag kommt. Eine summarische Zusammenschau der wirtschaftstheoretischen und -philosophischen Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts führt auf eine Unterscheidung in zwei Strömungen, die tatsächlich jedoch nicht selten auch zusammenfließen: erstens eine nominalistische Tendenz (beispielhaft bei Jevons 1924 und Preiser 1970), welche die wirtschaftlichen Gegebenheiten für rationale, per implicationem also für kalkulierbare gesellschaftliche Hypostasen erklärt und lange Zeit als Leitparadigma der Volkswirtschaft figurierte, zweitens ein – ungleich weniger prominenter und häufig auch nur rudimentär ausgeprägter – (begriffs-)realistischer oder ontologischer Ansatz (so zum Beispiel bei Lukas 1951,12 Taeuber 1943, Veit 196613), der auf der Annahme beruht, dass gerade abstrakte Phänomene wie Preisbildung und Effekte der Zirkulation des Geldes nicht bloß an die soziale Wirklichkeit, sondern auch an die Mater...