The work of Jean Delumeau, famous protagonist of the French history of mentalities and religion, belongs to the canonized stock of cultural history. Both La peur en lâOccident (1978) and its sequel Le pĂ©chĂ© et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe-XVIIIe siĂšcles) (1983) still count as general proof for the âdoom and gloomâ scenarios of late medieval and early modern times. The ongoing success of La peur en lâOccident is partly owed to Delumeauâs narrative about his personal obsession with the topic and his specific design of a âgĂ©ographie de la peurâ. Delumeau belonged to the avantgarde of the French Annalesschool. However, his main thesis about the still pagan Middle Ages, which was cristianized with the help of Reformation and Counter-Reformation, found many critics. The chapter scrutinizes the onset of La peur en lâOccident, its source material and Delumeauâs methodological approach. After some short biographical notes, we analyse his networks, his mission and his work as a confessing Catholic historian, facts, which took a vital impact on the discovery of âthe land of fearâ. A final paragraph focusses at the reception of his history of fear. In the light of recent research, his methods in selecting and interpreting his source material are sending out a ponderous warning: The mere wording of fear gives no valid evidence neither for the quantity nor the quality of individual or collective fears in the past. Delumeauâs âfear in the Western worldâ, thus, historically has never existed.
1 âLe pays de la peurâ â erste Erkundungen
Am 13. Januar 2020 ist der französische Historiker Jean Delumeau im Alter von 96 Jahren verstorben. WĂ€hrend diese Nachricht in der französischen Presse entsprechend kommentiert und ein von ihm fĂŒr diesen Anlass vorbereiteter Text publiziert wurde, fand sein Tod in den deutschsprachigen Medien zunĂ€chst nur ein geringes Echo.1 Immerhin galt Delumeau seit seiner 1978 in französischer Sprache erschienenen Studie als Experte in existentiellen Fragen zur Angst im Abendland. Noch vor knapp zwanzig Jahren, kurz nach dem Millennium und angesichts der von Osama bin Laden ausgesandten Terrordrohungen, hatte die ZEIT den renommierten Wissenschaftler unter dem Titel âDas Abendland hat eine Höllenangstâ zu vergangenen und aktuellen GefĂŒhlslagen des Westens interviewt. Dort betonte Delumeau, Seuchen stellten fĂŒr die Menschen des spĂ€ten Mittelalters â und man muss hinzufĂŒgen erst recht fĂŒr die globalisierte Welt der Gegenwart â âdie gröĂte vorstellbare Bedrohungâ dar. Letztlich sei jedoch Angst âein stĂ€ndiger Begleiter der Menschheit. Jede Angst ist letztlich Todesangstâ. Allerdings seien die heutigen westeuropĂ€ischen Gesellschaften âso dechristianisiertâ, dass sie âder Angst nur materielle Antworten entgegensetzenâ könnten (HĂ©nard 2001).2
Mit diesen Statements hatte Delumeau einmal mehr auf Hauptaussagen seiner Studien zur vormodernen Angst verwiesen, die zu den kanonisierten Werken der Kulturgeschichte zĂ€hlen. Uneinigkeit herrscht allerdings darĂŒber, ob der als Sozial-, MentalitĂ€ts- und Religionshistoriker etikettierte Delumeau auch als ein VorlĂ€ufer der neueren Emotionsgeschichte anzusprechen ist. Sicher gilt er als ein Historiker im Fahrwasser von Johan Huizinga (Schnell 2015: 899â905).3 Jenseits dieses Klassifizierungsgerangels werden Delumeaus voluminöse Monografien La peur en lâOccident (1978) â in fĂŒnfzehn Sprachen ĂŒbersetzt (Dichtfield 2020: 339) â und der 1983 erschienene Nachfolgeband Le pĂ©chĂ© et la peur: La culpabilisation en Occident (XIIIe-XVIIIe siĂšcles)4 gerne als pauschale Nachweise fĂŒr die âdoom and gloom mentalityâ (Holt 1993: 535; Langmuir 1992: 657) eines verdĂŒsterten SpĂ€tmittelalters sowie einer noch finstereren FrĂŒhen Neuzeit zitiert. Auch wenn der entsprechende Artikel eines rezenten Handbuchs zur Emotionsgeschichte inzwischen kritisch mit den Thesen Delumeaus umgeht (BĂ€hr 2019a: 158)5, so finden sich dessen Darlegungen in einem Handbuch zur Angstforschung weiterhin als verbindliche Diagnosen vergangener GefĂŒhlswelten (Koch 2013: 7â8, 71, 149, 172, 183, 201, 288). Gleichfalls wertet ein Handbuch zur Religionssoziologie die Arbeiten von Delumeau als âquellensatte Standardwerkeâ, deren Resultate allerdings âgenauer zu akzentuierenâ seien (EĂbach 2014: 106, 107). Der Verweis auf La peur en lâOccident dient dabei gleichsam als Chiffre fĂŒr eine von Angstrhetorik und Angstkultur infizierte Vergangenheit. Die Renaissance war demnach kein Ort heiterer, diesseitiger Freuden und der Entdeckung des Individuums, sondern eine Epoche der GewissensĂ€ngste, in der Pessimismus, Melancholie und Schuldneurosen regierten, welche in Paniken und Pogrome gegen Hexen, Juden, Ketzer und den konfessionellen Gegner mĂŒndeten.6
Zum andauernden Erfolg von La peur en lâOccident hat sicher beigetragen, dass der Autor seine BeschĂ€ftigung mit abendlĂ€ndischen Ăngsten und den Entwurf einer âgĂ©ographie de la peurâ (1978a: 390) in eine ErzĂ€hlung einbettete, die bis heute Psychologen, Geschichtsdidaktiker oder Historiographen beschĂ€ftigt (vgl. hier Abschnitt 3). Zumindest in der Einleitung bemĂŒhte sich Delumeau â âganz einer freudianisch grundierten Psychohistorie verpflichtetâ (BĂ€hr 2019b: 301) â um begriffliche Eindeutigkeit. So unterschied er zwischen diffuser Angst (âangoisseâ) und der auf konkrete Bedrohungen bezogenen, individuellen wie kollektiven Furcht (âpeurâ) (1978a: 15). Diese, letztlich auf SĂžren Kierkegaard zurĂŒckgehende Differenzierung forderte Delumeau auch spĂ€ter nochmals ein: âUnsere Zeitgenossen gehen schludrig mit den Begriffen um: Angst ist die tiefe innere Unruhe bei einer unbestimmten Gefahr, Furcht dagegen ist objektbezogen.â (HĂ©nard 2001).7 Die von Delumeau betonte Differenzierung zwischen âangoisseâ (Angst) und âpeurâ (Furcht) wurde schon im französischen Original nicht immer stringent beachtet. In der deutschen Ausgabe verschwindet sie völlig, da die beiden Ăbersetzerinnen unter Rekurs auf Mario Wandruszka die Bezeichnungen âAngstâ bzw. âĂngsteâ generell bevorzugten (1985a: 29), geschuldet dem Befund, dass einer strikten begrifflichen Trennung von Angst und Furcht der Sprachgebrauch entgegenstand (und steht), da beide Bezeichnungen âsowohl in der Literatur wie in der Alltagssprache nahezu synonym verwendet werdenâ (SchĂŒz 2016: 25).8 Ein reflektierter semantischer Zugriff sowohl auf die von Delumeau zitierten QuellenauszĂŒge als auch auf deren Analysen bleibt der Leserschaft so jedoch verwehrt.
Delumeaus Thesen zur âAngst im Abendlandâ lassen sich kurz zusammenfassen: Mitverantwortlich fĂŒr die kollektiven Ăngste im Europa des 14. bis 18. Jahrh...