Die Staatenkunden des Verlages Renger (1704–1718)
Das im Jahr 1708 in Halle an der Saale beim Verlag Renger herausgekommene Oktavbändchen Einleitung zu den Europäischen Staaten hebt mit einem Kapitel an, das „[v]on der einem ieden nöthigen / und dienlichen Erkänntniß eines Staats“ handelt. Im „sehr curieusen“ 18. Jahrhundert nämlich seien staatenkundliche Kenntnisse nicht nur für jeden „Regenten“ und für seine „zur Verwaltung“ bestallten „Diener“ unabdingbar, sondern auch jeglichem „Mitglied in einer wohl eingerichteten Republique“ unentbehrlich, worunter ausdrücklich auch die „wohlerzogenen Frauenzimmer“ zu rechnen sind.1
Im vierten und letzten Kapitel geht es dann um die Wissensgebiete, die zur „accuraten Erkänntniß eines Staats“ beitragen. Dabei spielen stets die Nachbarschaftsbeziehungen eine Rolle, so dass etwa das Alte Reich nur adäquat erfasst werden könne, wenn man bis Persien ausgreife.2 Die „Geographische Beschreibung“ umfasst neben der Lage und geopolitischen Situation eines Landes außerdem seine Bevölkerungsdichte, später werden zudem noch seine Finanzmittel und ansatzweise auch Wirtschaftsstruktur genannt. Zur „politischen Notitz“ gehören seine „Regierungs=Form“, der Bereich Hof, Herrscherhaus und Zeremoniell, die außenpolitischen Beziehungen, Militärverfassung, Einrichtung des Justiz- und Finanzwesens, religiösen Verhältnisse und Bildungseinrichtungen, darüber hinaus auch seine grundsätzliche strategische Ausrichtung („scopus Reipublicae“ und „Ratio Status Imperantis“). Schließlich ist auch seine historische Entwicklung einzubeziehen.3
Dieser Katalog scheint zunächst nur der reinen staatenkundlichen Bestandsaufnahme zu dienen, doch wird in aller Vorsicht auch die Möglichkeit einer Bewertung angedeutet. So heißt es etwa, man müsse auch ermitteln, „was kluge Leute von der gegenwärtigen Staats=Verfassung vor Urtheile fällen“, und späterhin ist die Rede von der „Hoffnung / daß derjenige mit iudicio alles wohl zu unterscheiden weiß“.4 Damit mutieren die oben aufgeführten Punkte, die kumulativ zur möglichst vollständigen Kenntnis eines Staates führen sollen, unter der Hand zu Kriterien, anhand derer seine Funktions- und Leistungsfähigkeit, kurz: sein Erfolg, bestimmt werden können.
Die in der Einleitung genannten Aspekte umfassen vereinzelt messbare und statistisch auszählbare Ressourcen, beziehen sich mehrheitlich jedoch auf unterschiedliche Formen der Herrschaftsausübung. Zum einen wird die fürstlichdynastisch-höfische Herrschaftsordnung greifbar, die auf Interaktion beruhte und durch den gesellschaftlichen Rang der dazu Zugelassenen determiniert wurde (also etwa durch Standeszugehörigkeit, Verwandtschaftsverhältnisse, Amt, Patronagenetzwerke etc.). Diese persönlich-ständische Dimension macht Fragen relevant wie die nach dem Charakter („Humeur“) des Fürsten, etwaigen Favoriten, dem Aufwand der „Hoffhaltung“, den Angehörigen des Herrscherhauses, den „Solennitäten“, „Divertissements“ und Präzedenzkonflikten sowie dem Gesandtschaftszeremoniell. Zum anderen scheint aber auch bereits der Anstaltsstaat auf, in welchem bestimmte Behörden spezifische Zuständigkeiten haben und diese nach festgelegten Verfahren bearbeiten. Thematisiert werden eben auch die „Grund Gesetze des Staats“ und die Frage, „auff was vor Art und Weise alles administriret werde“, etwa im Bereich der Justiz- und Finanzverwaltung.5 Auch die Erwähnung der Staatsräson kann als Anhaltspunkt für eine solche versachlichte Auffassung gedeutet werden. Insofern markiert dieser Text eine wichtige Etappe im Transformationsprozess von der vormodernen Fürstenherrschaft zur Institutionenstaatlichkeit, in welcher das Wahrnehmungsraster und die Bewertungsmaßstäbe der zeitgenössischen Beobachter politischer Systeme noch beiden Ausprägungen verhaftet waren. In diesem Übergangscharakter liegt die Aussagekraft des vorgestellten Werks.
Freilich sollte man die Tragweite dieses schmalen Einzeltitels von gerade einmal 72 Seiten nicht überschätzen. Seine eigentliche Bedeutung liegt darin, dass er die Programmschrift für gleich mehrere die ganze Welt in den Blick nehmende staatenkundliche Serien zu sein scheint, die im Zeitraum von 1704 bis 1718 von Renger verlegt wurden, mehr als 70 Bändchen hervorbrachten und damit politisch relevante Sachverhalte in das marktförmige Mediensystem einspeisten. Dieses Korpus6 – dessen Relevanz durch seine also über die Herrschafts- und Verwaltungseliten hinausreichende Öffentlichkeit gesteigert wird – bietet die Chance, den im frühen 18. Jahrhundert sich vollziehenden grundlegenden Wandel in der Beschreibung und Beurteilung politischer Einheiten und Systeme zu analysieren und dabei überdies zwischen der Behandlung europäischer und nicht-europäischer Fälle zu differenzieren.
Zu diesem Zweck wird im Folgenden (1.) das Material, also die einschlägigen Publikationen, vorgestellt und dabei in den wissens- und mediengeschichtlichen Kontext eingeordnet. In einem nächsten Schritt (2.) wird die sich mit den europäischen Reichen und Territorien befassende Reihe im Hinblick auf den jeweiligen Stellenwert interaktionsbasierter bzw. behördlich organisierter Herrschaft, auf die Berücksichtigung quantitativer Daten und die Formulierung eines übergreifenden Staatsinteresses durchmustert. Daran schließt sich (3.) eine vergleichende Untersuchung der die außereuropäischen Länder darstellenden Serie an.
Der Aufsatz mündet in folgende Thesen: Die Rengerischen Staatenkunden weisen statistischem Datenmaterial nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Im Vordergrund steht dagegen die Unterscheidung zwischen den beiden skizzierten Herrschaftsmodellen, die konzeptionell mit der Trennung zwischen europäischen und außereuropäischen Herrschaftsgebieten verknüpft wird. Dabei werden die Zugehörigkeit zu Europa und eine beschränkte, eingehegte Staatlichkeit tendenziell miteinander verklammert und positiv konnotiert, was umgekehrt eine Abwertung der außereuropäischen Herrschaftssysteme impliziert. Für diese wird ein drückendes Übergewicht persönlicher Machtausübung durch die jeweiligen Monarchen diagnostiziert, was im Begriff des Despotismus gefasst wird. Sichtbar wird eine versachlichte, entpersonalisierte Auffassung von Staatlichkeit insbesondere in jenen Passagen, in denen das Interesse eines Landes objektiviert und ins Verhältnis zu der jeweils verfolgten Politik der Eliten gesetzt wird.
1 Globale Staatenkunde als Ware auf dem Buchmarkt: Das Programm des Verlags Renger
Die Einleitung zu den Europäischen Staaten enthält eine knappe Selbstbeschreibung des Rengerischen Serienprojekts, die dessen Entstehung skizzenhaft schildert: Den Anstoß habe der Hallenser Professor Johann Peter Ludewig (1668–1743) mit seinem anonym erschienenen Buch Germania Princeps (Erstausgabe 1700)7 gegeben. „[A]uff Antrieb des berühmten Autoris“ sowie auf der Grundlage einer „Entschliessung des Veregers [sic] Joh. Gottfried Rengers wegen Unkosten des Verlags“ habe sich ein weiterer, ungenannt bleibender „Gelehrter / und in denen Europäischen Sprachen wohl versirter Mann“ entschieden, „die Beschreibung aller und ieder Europäischen Staaten den curieusen Leser in möglichster Kürtze / und so accurat als es nur immer seyn können / zu liefern.“8
Eine ebenfalls bei Renger erschienene Publikation lüftet das Geheimnis dieser Anonymität. Der Abschnitt über die „Staats=Wissenschafft“ i...