Geschichtslehrpersonen
Die Lehrkraft als Faktor der Schulbuchnutzung
Nutzertypen eines kompetenzorientierten und digitalen Schulbuchs am Beispiel des »mBook Belgien«
Tobias Langguth, Waltraud Schreiber und Michael Werner
1Rahmenbedingungen des »mBook«-Einsatzes und die darauf bezogene Forschung
Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien (DG) begann im Jahr 2013, einen neuen, kompetenzorientierten Rahmenplan7 für den Geschichtsunterricht an Sekundarschulen zu implementieren. Die Implementation sollte durch ein multimediales und digitales Schulbuch – das »mBook Belgien« – unterstützt werden, das eng auf den Lehrplan abgestimmt entwickelt worden war (Schreiber, Trautwein, Wagner & Brefeld, 2019). Dieses Lehr- und Lernmittel vertritt eine neue Generation von Schulbüchern, nicht nur durch seine digitale Anlage, die u. a. einen umfassenden Pool verschiedenster Medien für den Unterricht einschließt, sondern auch durch seinen Fokus auf die Kompetenzen historischen Denkens und entsprechende Differenzierungsangebote (Schreiber, Ventzke, Sochatzy, 2013a; 2013b; 2013c; 2013d; 2013e; Sochatzy, 2015). Als Grundlage hierfür wurde das Kompetenzstrukturmodell der FUER-Gruppe herangezogen (Körber, Schreiber & Schöner, 2007; vgl. auch Trautwein et al., 2017, 14–55). Sofern man ein Schulbuch als »legitimes Interpretament des Lehrplans« (Wiater, 2005, 60) ansieht, kann die Nutzung des »mBook Belgien« auch als ein Indikator für den Implementationsgrad des Rahmenplans der DG verstanden werden.
Für das »mBook Belgien« unternahm die DG erhebliche Investitionen, v. a. für die Anschaffung von Hardware und die Bezuschussung der Entwicklungsarbeit. Daraus ergibt sich vonseiten der Bildungsverwaltung und Bildungspolitik die Hoffnung und Erwartung eines möglichst intensiven Einsatzes des »mBook Belgien«.
Für Untersuchungen zum Einsatz des »mBook Belgien« sprechen also viele Gründe. Dabei eröffnet die digitale Anlage der Forschung die neuartige Möglichkeit, mit Logfile-Analysen zur Nutzung des »mBook Belgien« durch die Schülerinnen und Schüler in bislang unerreichtem Umfang Einblicke in konkrete Unterrichtssituationen zu erhalten.8 Zugleich wurde die Frage nach Nutzungsvarianten des »mBook« durch Lehrkräfte aufgeworfen, da, um Annahmen zur Wirkung digitaler Schulbücher und Lehrmittel in empirische Forschung zu übersetzen, auch Einsatzbedingungen und Implementationsmöglichkeiten erhoben werden müssen (Alavi, 2015). Dahingehende Beobachtungen ergaben, dass Lehrkräfte das »mBook« zum Teil gar nicht oder auf eine Weise in ihrem Unterricht verwendeten, die keine digitalen Spuren hinterlässt, etwa durch Übernahme einzelner Elemente in Arbeitsblätter.9 Damit bestätigt sich für digitale Lehr- und Lernmittel, was aus Forschung und Pragmatik für den Umgang mit analogen Schulbüchern bekannt ist: Lehrkräfte »wenden« didaktische Elemente eines Schulbuchs auf ihren Unterricht hin und modifizieren bzw. verändern auf diese Weise die konzeptionellen Ansätze der Schulbuchmacher (Schär & Sperisen, 2011, 133).10 In ähnlicher Weise setzen Lehrkräfte den Lehrplan durch Auswahl und Interpretation um, wobei ihre Überzeugungen eine erhebliche Rolle spielen (Fives & Buehl, 2016). Andererseits sind aber auch das Wissen und die Einsichten der Lehrkräfte in die den Lehrplänen und Schulbüchern zugrunde liegenden Paradigmen von Bedeutung (Kipmann & Kühberger, 2019; Bernhard & Kühberger, 2019). Daraus ergeben sich als Leitlinien für eine Befragung der ostbelgischen Lehrkräfte:
Welche Überzeugungen, Einstellungen, Wissensausprägungen und Einsichten der Lehrkräfte beeinflussen ihre Nutzung des »mBook Belgien« als
a)kompetenz- und schülerorientiertes,
b)digitales und
c)multimediales Schulbuch?
2Durchführung und Auswertung der Lehrerinterviews
2.1Interviewleitfaden und Sample
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden Geschichtslehrkräfte in der Sekundarstufe II der allgemeinbildenden Schulen der DG in Leitfadeninterviews befragt. Die Struktur der Fragen berücksichtigte Ansätze des TPACK-Modells (technological pedagogical content knowledge) von Mishra und Koehler (Harris, Mishra & Koehler, 2009). Dieses Modell unterscheidet in Anlehnung an Shulman technological pedagogical knowledge (TPK), technological content knowledge (TCK) und technological pedagogical content knowledge (TPACK). Die Interviewfragen zielen auf ähnliche Schnittmengen, in der Überzeugung, dass eine digitale Unterstützung des historischen Lernens immer mit fachlichen und vor allem geschichtsdidaktischen Kompetenzen und einem überfachlich-pädagogischen Lehrerwissen interagieren.
•Mediale Nutzung eines digitalen Schulbuches (TPK), also beispielsweise die Nutzung des »mBook« als Arbeitsbuch durch Schülerinnen und Schüler oder mittels Präsentation durch die Lehrkraft sowie Sozialformen und Arbeitsweisen der »typischen ›mBook‹-Nutzung« im Unterricht der jeweiligen Lehrkraft
•Geschichtsdidaktische Aspekte (TPCK) stellten die Ziele des (digitalen) Geschichtsunterrichts und Nutzen bzw. Nachteile des »mBook« zu deren Erreichen ins Zentrum
•Fachliche Aspekte (TCK), wobei z. B. nach inhaltlichen Veränderungen am durch das »mBook« vorgeschlagenen Konzept durch die Lehrkraft und nach Möglichkeiten und Grenzen der Vertiefung gefragt wurde
•Häufigkeit/Intensität der konkreten Nutzung des »mBook« durch die Lehrkraft als Ergebnis ihrer jeweiligen Überzeugungsstrukturen.
Diese halbstrukturierten Leitfadeninterviews dauerten zwischen 16 und 105 Minuten, was eine deutliche Heterogenität der Nutzungsauskunft vonseiten der Lehrkräfte und ihre unterschiedlichen Einstellungen zum »mBook« aufzeigt und sich dementsprechend in der Auswertung niederschlägt.
Anders als angestrebt, konnte aufgrund technischer und organisatorischer Probleme nicht die Gesamtheit der Sekundarschullehrkräfte einbezogen werden. Bei einer Grundgesamtheit von 31 Lehrkräften wurden 28 Lehrerinnen und Lehrer interviewt (18 weiblich, 10 männlich); zur Auswertung liegen 21 Audioaufzeichnungen vor (14 weiblich, 7 männlich).
Tabelle 1: Übersicht Sample
2.2Methode der Codierung und Intercoder-Reliabilität
Die Auswertung erfolgte durch qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2010; Mayring, 2010); sie wurde computergestützt mittels MAXQDA an den transkribierten Interviews durchgeführt. Codiereinheiten sind die Antworten auf Fragen und Impulse des Interviewers, um die Sequenzialität des Interviews zu berücksichtigen und Antworten je als Äußerung zu einem Themenfeld wie z. B. »fachliche Eignung des ›mBook‹ zu erfassen; Mehrfachcodierungen waren möglich. Die große Codiereinheit wurde gewählt, um eine Codeeinschätzung je Fragekomplex z. B. zur Einstellung zu Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht zu erhalten und die Vergleichbarkeit unterschiedlich ausführlicher Antworten durch Anzahl der Codings einer Kategorie zu erhöhen. Die Codes wurden deduktiv aus dem Interviewleitfaden und induktiv aus den Antworten der Lehrkräfte entwickelt. Der Codebaum wurde materialgetrieben aufgebaut, unter Zusammenfassung der Einzelcodes zu Codiereinheiten.
Um die Intercoder-Reliabilität sicherzustellen, wurden der Codebaum und insbesondere die Codebeschreibungen mehrfach optimiert. Als Grundlage für die Optimierung des Codebaums wurden drei Interviews herangezogen. Nach dem optimierten Codeschema wurden drei weitere Interviews (entspricht ca. 14 % von n = 21) von zwei unabhängigen Codern codiert. Für diese Interviews wurde die für komplexe Codings sehr zufriedenstellende Intercoder-Reliabilität nach Krippendorffs Alpha, α = 0.71, erreicht. Danach wurden die übrigen Interviews von einem der Coder codiert.
2.3Beschreibung des Codebaums
Die einzelnen Codes wurden zu den vier Kategorien »Kompetenzorientierung«, »Digitalität«, »Lehrkraft« und »Aussagen zum ›mBook‹« zusammengefasst.
Die Kategorie »Kompetenzorientierung« beinhaltet Codes zu den vier Kompetenzbereichen historischen Denkens nach dem FUER-Modell (historische Sach-, Methoden-, Orientierungs- und Fragekompetenz). Unter »Digitalität« fallen die Codes zu Digitalität im Unterricht und zur Einstellung gegenüber kompetenzorientiertem Unterricht im Allgemeinen. Unter »Digitalität im Unterricht« fallen die Erwähnung technischer Probleme in Bezug auf das »mBook« oder auf die für seine Nutzung notwendige Hardware und WLAN-Struktur (»Technische Probleme«), kritische Äußerungen zum Thema Digitalität (»Kritisch gegenüber Digitalität«), positive Äußerungen zu Multimedialität im Unterricht (»Multimedialität als Gewinn für den Unterricht«) sowie die Erwähnung der Nutzung digitaler Medien zur Entwicklung fachunspezifischer Fähigkeiten, also beispielsweise Üben von Internetrecherchen oder Umgang mit Programmen wie Microsoft Word.
In der Kategorie »Lehrkraft« werden die Berufserfahrung der Lehrkräfte laut ihrer Selbstauskunft und der bevorzugte Unterrichtsstil codiert (»schülerzentriert«, »lehrerzentriert« und »Anzeichen differenzierten Unterrichts«; dieser Code wurde vergeben, wenn die Lehrkraft davon spricht, eine bewusste Individualisierung unter Nutzung der Lehrmaterialien anzustreben, um so auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler in der Klasse einzugehen). Weitere Codes betreffen Aussagen zu den Unterrichtszielen: Hier fallen die Aussagen unter die Codes »Verständnis Digitalzeitalter/Gesellschaftskritik«, wenn die Lehrkraft für das Digitalzeitalter vorbereitete, mündige Schülerinnen und Schüler als Ziel des Unterrichts präsentiert, und »Wissen«, wenn die Lehrkraft Faktenwissen als essenzielles Unterrichtsergebnis betont.
Die Kategorie »Aussagen zum ›mBook‹« umfasst die Rolle des »mBook« für den Unterricht und die digitale oder analoge Nutzung, die Bewertung des vom »mBook« angebotenen Umfangs an Informationen und Materialien sowie die Nutzung der Autoreninterviews, in denen Hintergründe der Anlage des jeweiligen Kapitels erläutert werden. Die herausgehobene Stellung der Autoreninterviews erklärt sich durch die spezielle Konzeption des »mBook«: Die in diesen Videos dargelegte Autorenperspektive zu kennen, vereinfacht es, die einzelnen Kapitel gemäß ihrer Intention zu nutzen. Die Hypothese ist, dass daher Lehrkräfte, die die Autoreninterviews selbst oder sogar mit ihrer Klasse verwenden, eher geneigt sind, dem »mBook« größeren Raum in ihrer Unterrichtsgestaltung zu lassen. Die Nutzung wird durch die Codes »gar nicht«, »zur Unterrichtsvorbereitung durch die Lehrkraft« oder »im Unterricht gemeinsam mit den Schülern« spezifiziert. Der Code »Rolle des ›mBook‹ für den Unterricht« umfasst die allgemeinen Aussagen der Lehrkraft über das »mBook«, die darin enthaltenen Materialien und deren Verwendung für ihren Unterricht. Sie kann dabei z. B. ihre »Eigenständigkeit gegenüber dem ›mBook‹« betonen (also von Nutzungsweisen, die begründet von der durch die Autoren intendierten Nutzung abweichen) oder die Verwendung (nur) zur Unterrichtsvorbereitung erwähnen. Der Code »›mBook‹-Einsatz« erfasst die Nutzung über Tablet oder PC (»digital«, was die Nutzung des ›mBook‹ durch die Schüler impliziert), die Präsentation mittels Beamer oder durch analoge Nutzung kopierter »mBook«-Seiten. Der Kategorie »Aussagen zum ›mBook‹« sind zudem Codes zugeordnet, die Bemerkungen der Lehrkräfte über einen zu »geringen« oder einen »reichhaltigen Umfang« des »mBook« markieren.
2.4Auswertung
Zur Erklärung des »mBook«-Nutzungsverhaltens der Lehrkräfte zielt die Auswertung auf eine Typenbildung. Für analoge Geschichtsschulbücher liegt...