Kapitel 1
Formen beruflicher Bildung
Wer an «Berufsbildung» denkt, wird sich vermutlich zuerst eine Berufslehre in einem Kleinbetrieb mit Lehrmeister und Lehrling vorstellen. In der Schweiz ist das in der Tat auch die häufigste Form beruflicher Grundbildung. Berufsbildung ist jedoch wesentlich vielgestaltiger; in diesem Kapitel stellen wir 16 weitere Formen vor. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Berufsbildung in der Schweiz und der beruflichen Grundbildung. Daneben behandeln wir einige Formen im Bereich der höheren Berufsbildung und der Weiterbildung und werfen auch einen kurzen Blick über die Grenzen. Den Schluss bildet eine Form, die weltweit − auch in der Schweiz − am häufigsten vorkommt: das informelle berufliche Lernen.
1.1Berufliche Grundbildung im Kleinbetrieb
Die Ausbildung in Klein- und Mittelbetrieben entspricht am ehesten dem herkömmlichen Bild der Berufslehre, wonach die Jugendlichen vier Tage im Lehrbetrieb arbeiten und einen Tag pro Woche die Berufsfachschule besuchen.
1.1.1Charakterisierung
Die Berufslehre heisst in der Schweiz heute offiziell «berufliche Grundbildung» und die Schule «Berufsfachschule». Deren Besuch kann bis zu zwei Tage pro Woche beanspruchen. Mehrmals während der Grundbildung besuchen die Lernenden einige Tage oder Wochen einen «überbetrieblichen Kurs» (üK) in einem Ausbildungszentrum der jeweiligen Organisation der Arbeitswelt (OdA), das ist meist ein regionaler oder nationaler Berufsverband (vgl. Kapitel 5.5.2).
Berufsbildnerin oder Berufsbildner («Lehrmeister») ist im Kleinbetrieb meist der Inhaber oder die Inhaberin, in etwas grösseren Betrieben wird oft ein erfahrener Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin mit der Ausbildung betraut.
Die Ausbildung selbst erfolgt im Rahmen des betrieblichen Alltags, bei der gemeinsamen Arbeit an anfallenden Aufträgen oder Dienstleistungen. So bestimmt oft der Termindruck und nicht didaktische Überlegungen, welche Arbeiten Lernende zu übernehmen haben. Deshalb ist der Besuch von überbetrieblichen Kursen heute in den meisten Berufen fester Bestandteil der Grundbildung, denn im üK kann in Ruhe und unter Berücksichtigung fachdidaktischer Grundsätze in neue Berufsarbeiten eingeführt bzw. können schwierigere Abläufe geübt und perfektioniert werden (vgl. das Porträt Nicole Renggli und Kapitel 5.5, Exkurs «Überbetriebliche Kurse»).
In dieser Form der beruflichen Grundbildung sind die Berufsbildnerinnen und -bildner nicht nur verantwortlich für die Ausbildung, sie haben in der Regel auch die Selektion vorgenommen, sind Lehrvertragspartner und coachen ihre Lernenden, indem sie ihnen helfen, berufliche und manchmal auch persönliche Krisen zu bewältigen.
1.1.2Entwicklung
Berufslehren gibt es ansatzweise seit der Antike (Kolb, 2007). Im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert war eine mehrjährige Ausbildung in einem Betrieb in zünftischen Gewerben weitverbreitet, vor allem in den Städten. Um Geselle zu sein, musste man zuerst eine Lehrzeit abgeschlossen haben. Erst danach, meist nach einer Wanderschaft, die dem Erwerb weiterer Kenntnisse und der Weltläufigkeit diente, konnte Meisterschaft angestrebt werden. Schulunterricht in Ergänzung zur Ausbildung entwickelte sich erst später; in der Schweiz wurde er 1933 für alle Lehrlinge obligatorisch.
Heute ist diese Form der beruflichen Grundbildung nicht nur im Gewerbe, sondern auch in Klein- und Mittelbetrieben verschiedenster Branchen gebräuchlich.
Die rund 80000 Jugendlichen, die 2010 eine berufliche Grundbildung angetreten haben, teilten sich wie folgt auf:
•70000 begannen eine betrieblich organisierte Grundbildung (Betriebslehre), davon
•50000 in einem Betrieb mit weniger als 50 Beschäftigen und
•20000 in einem Mittel- oder Grossbetrieb oder einem Ausbildungsverbund (vgl. Kapitel 1.2 und 1.3);
•10000 in einer schulisch organisierten Grundbildung (vgl. Kapitel 1.4 und Kapitel 1.5) (SBFI 2014 a, S. 12; Müller & Schweri, 2012, S. 39).
Dies zeigt, dass in der Schweiz die berufliche Grundbildung im Kleinbetrieb immer noch die weitaus häufigste Form einer beruflichen Grundbildung darstellt.
1.1.3Beispiel
Fleischfachmann/Fleischfachfrau EFZ
Als Beispiel für die Grundbildung im Kleinbetrieb stellen wir die Ausbildung zum Metzger etwas näher dar. Seit 2007 heisst dieser Lehrberuf nicht mehr «Metzger/in», sondern «Fleischfachmann/Fleischfachfrau EFZ» und kann in vier Schwerpunkten absolviert werden: Fleischgewinnung, Fleischverarbeitung, industrielle Fleischverarbeitung und Fleischveredelung.
Verwandte Ausbildungen sind die zweijährige berufliche Grundbildung zum Fleischfachassistenten bzw. zur Fleischfachassistentin EBA und die dreijährige zur Detailhandelsfachfrau bzw. zum Detailhandelsfachmann EFZ.
Die überbetrieblichen Kurse machen in diesem Beruf nur zwei Tage pro Lehrjahr aus, die Schule dauert wöchentlich einen Tag (40 Tage bzw. 360 Lektionen pro Jahr). Sehr gute Lernende können an einem zweiten Tag den Berufsmaturitätsunterricht besuchen (vgl. das Porträt Lukas Signer).
Zur Förderung der Reflexion über das eigene Lernen, aber auch als Mittel zur Sicherung der Qualität der Ausbildung haben die Lernenden wie in fast allen Lehrberufen eine «Lerndokumentation» zu führen, erarbeitet vom Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft in Spiez (ABZ, www.abzspiez.ch), das sich im Auftrag des Berufsverbandes, des Schweizer Fleisch-Fachverbands SFF, in vielfältiger Weise der Förderung der Aus- und Weiterbildung annimmt.
Die Ausbildung vermittelt Fachkompetenzen (Fleischgewinnung und Tierschutz, Verarbeitung, Fachrechnen, Hygiene, Arbeitssicherheit usw.) und fördert – wie alle modernen Grundbildungen – auch Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen, die im «Bildungsplan» präzise umschrieben sind.
Sehr gute Lernende können einen besonderen Förderkurs besuchen, der ebenfalls am Ausbildungszentrum in Spiez angeboten wird. Aus den Teilnehmern und Teilnehmerinnen werden die Kandidatinnen und Kandidaten für nationale und internationale Wettbewerbe ausgewählt.
Der Weiterbildung wird grosses Gewicht beigemessen: Abbildung 1-1 zeigt die Vielfalt und Reichweite des Weiterbildungsprogramms in diesem traditionsreichen und doch modernen Beruf.
Abbildung 1-1: Berufliche Aus- und Weiterbildung in der Fleischwirtschaft. Eigene Darstellung anhand von Unterlagen des ABZ Spiez
1.1.4Einige Varianten
Fleischfachleute werden nicht nur in gewerblich orientierten Kleinbetrieben ausgebildet, sondern auch in Grossmetzgereien. Darauf deutet auch der Schwerpunkt «industrielle Fleischverarbeitung» hin. In manchen Berufsfeldern unterscheiden sich hingegen die Lehrberufe je nach Betriebsform. Bei der Backwarenherstellung beispielsweise werden im Gewerbe Bäcker-Konditor-Confiseure/innen EFZ ausgebildet, in Grossbäckereien Lebensmitteltechnologen und -technologinnen EFZ, Schwerpunkt Backwaren.
In einigen Berufen und/oder Regionen wird der Berufsfachschulunterricht nicht auf 40 Wochen pro Jahr verteilt, sondern erfolgt in Blöcken, zum Beispiel bei den Müllern und Müllerinnen: Jährlich beginnen nur 20 Lernende diese Ausbildung, ihren Berufsfachschulunterricht erhalten sie im Berufsbildungszentrum Uzwil, weil die Firma Bühler AG, die international führende Herstellerin von Müllereimaschinen, in Uzwil ein Ausbildungszentrum führt. Dies ermöglicht Synergien, hat aber für viele Lernende lange Anfahrtswege zur Folge. Deshalb wird der Unterricht in Blockkursen von zwei bis drei Wochen Dauer geführt. Während dieser Zeit wohnen manche Lernende am Unterrichtsort in einem Internat oder bei Gastfamilien.
In der Landwirtschaft war die Grundbildung lange Zeit zweigeteilt: Im ersten und zweiten Lehrjahr wurden die Jugendlichen vor allem praktisch ausgebildet und besuchten nur während 240 Lektionen pro Jahr eine Berufsschule. Im dritten Lehrjahr wurde in Form von Landwirtschafts-Winterschulen oder -Jahresschulen vorwiegend theoretisch ausgebildet. Als die Ausbildung dem Berufsbildungsgesetz unterstellt wurde (vgl. dazu Kapitel 2.3), hat man sie der gewerblichen Lehre angeglichen. Seit 2008 handelt es sich um eine dreijährige Ausbildung mit acht Tagen üK und je 360 Lektionen Berufsfachschulunterricht in den ersten beiden...