Validieren und anerkennen (E-Book)
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Validieren und anerkennen (E-Book)

Informell erworbene Kompetenzen sichtbar machen

  1. 120 Seiten
  2. German
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Validieren und anerkennen (E-Book)

Informell erworbene Kompetenzen sichtbar machen

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Über dieses Buch

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.In einzelnen Berufen können Erwachsene ihre allein durch Erfahrungen erworbenen Kompetenzen anerkennen lassen. Diese Validierung von Bildungsleistungen ist der besseren Arbeitsmarktintegration und einer Reduzierung des Fachkräftemangels dienlich. Die Studie vermittelt einen Überblick über die Herausforderungen an Validierungs- und Anerkennungsverfahren sowie über deren Anwendungsbereiche, praktische Ausgestaltung, theoretische Fundierung und Einbettung in die Bildungslandschaft Schweiz.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783035512403

Einleitung

In den vergangenen Jahren hat ausserschulisches Lernen zunehmend an Bedeutung und Beachtung gewonnen. Hinter dieser Entwicklung steckt der Gedanke, dass die Teilnahme an schulischem Unterricht nicht die einzige Möglichkeit ist, Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen zu erwerben. Es kommen zwei zusätzliche Lernchancen hinzu. Die erste besteht darin, sich durch die Teilnahme an Weiterbildungen das für den Beruf oder für freizeitliche Aktivitäten erforderliche Wissen und Können anzueignen. Für solche non-formalen Lernanlässe wurde in der Vergangenheit das Angebot an unterschiedlichsten Weiterbildungsformaten für alle erdenklichen Zwecke und Vorlieben ausgebaut. Als zweites Lernfeld haben sich berufliche Erfahrungen, ehrenamtliche Tätigkeiten sowie Aktivitäten im privaten Bereich wie beispielsweise die Familienarbeit oder die Ausübung einer bestimmten Freizeitbeschäftigung ausgebreitet. Diese informellen Lernfelder erfahren wachsende Akzeptanz, kann dort doch eine spezifische Art der Kompetenzentwicklung stattfinden, wie sie in Aus- und Weiterbildungen nicht möglich wäre. Gänzlich neu ist dieses Bewusstsein für ausserschulisches Lernen nicht, aber erst in den vergangenen zwanzig Jahren sind in der Schweiz sowie im übrigen Europa Bestrebungen im Gange, informell und mitunter auch non-formal erworbene Kompetenzen sichtbar zu machen. Neu an der derzeitigen Debatte und an der praktischen Ausrichtung dieser Sichtbarmachung ist der Blick auf die Verwertung der erworbenen Kompetenzen, die entweder für den Arbeitsmarkt oder im Hinblick auf eine vereinfachte Zulassung ins Bildungssystem zur beruflichen Weiterentwicklung erfolgen kann. Insofern hat diese Diskussion sowohl eine beschäftigungspolitische als auch eine pädagogische Dimension. Ein Blick in die nähere Vergangenheit zeigt, dass aus der Sicht der Beschäftigungspolitik schon im Zuge der «Qualifizierungsoffensive» in den 1980er-Jahren eine Aufweichung der Qualifizierungswege stattfand, damals noch vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit, die vor allem Personen ohne Ausbildung betraf. Für sie mussten Mittel und Wege gefunden werden, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Erste Verfahren zur Anerkennung von informell erbrachten Bildungsleistungen reichen insbesondere in der Westschweiz in diese Zeit zurück. Zur gleichen Zeit entstanden in einigen Bildungsinstitutionen erste regionale Ansätze von Anerkennungsverfahren, die unter bestimmten Umständen Personen zu einzelnen Fachrichtungen zuliessen, die nicht über die nötigen formalen Voraussetzungen für eine Aufnahme verfügten. Heutzutage hat sich die sozialpolitische Perspektive von individuellen Problemlagen hin zu einer volks- und betriebswirtschaftlichen Perspektive verschoben: Seit einigen Jahren fehlen in vielen europäischen Ländern, unter anderem auch in der Schweiz, vor allem im MINT-Bereich qualifizierte Fachkräfte (vgl. z. B. Gehrig/Gardiol/Schaerrer 2010; Kettner 2012). Aus Sicht der Beschäftigungspolitik gewinnt dabei sowohl die Qualifizierung Geringqualifizierter als auch die Höherqualifizierung von Personen mit dem Zertifikat einer beruflichen Grundbildung an Bedeutung – dies unter anderem deshalb, weil erst der Nachweis (berufsqualifizierender) Bildungsabschlüsse und Zertifikate berufliche Karrierechancen zulässt und dadurch die Möglichkeit zur Deckung des Bedarfs an qualifiziertem Personal geschaffen wird.
Vor diesem Hintergrund werden in Europa seit einiger Zeit neue bildungspolitische Grundsätze diskutiert, die im «Memorandum über Lebenslanges Lernen» aus dem Jahr 2000 angeregt wurden (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000). Formales, non-formales und informelles Lernen werden in diesem Dokument nicht als Gegensätze, sondern als sich ergänzende Lernformen interpretiert. Voraussetzung dafür ist eine stärkere Zusammenarbeit der Akteure im Bildungsbereich sowie die Schaffung von Bildungspfaden innerhalb eines durchlässigen Bildungssystems. Lebenslangens Lernen wird im europäischen Raum zunehmend verstanden als die Chance zur Sicherung und Erweiterung der dauerhaften, barrierefreien und über unterschiedliche Wege erreichbaren individuellen Beschäftigungsfähigkeit (Bohlinger 2009). Das Bemühen des und der Einzelnen um ihre Beschäftigungsfähigkeit wird auch durch den demografischen Wandel, die sich rasch ändernden und häufig wachsenden Anforderungen an die Erwerbstätigen sowie durch die Zunahme der Migration und der internationalen Mobilität notwendig. Hinzu kommt, dass die in der Kindheit und Jugend erworbenen Fähigkeiten, Kenntnisse, Kompetenzen und Zertifikate immer weniger genügen, um gesellschaftliche Integration, Arbeitsmarktsicherheit und persönliche Entfaltung über die gesamte Lebensspanne zu gewährleisten (Schrader 2014). Die Ausdehnung des Lernens auf unterschiedliche Lebens- und Arbeitszusammenhänge scheint vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Entwicklungen sinnvoll zu sein. Sichtbar und für den Arbeitsmarkt verwertbar gemacht werden können diese im Laufe der einzelnen Bildungsbiografien entwickelten, non-formalen und informellen Kompetenzen durch formale Anerkennung und Zertifizierung.
Die Anerkennungs- und Validierungsverfahren für non-formal und informell erbrachte Bildungsleistungen, wie sie sich in der Vergangenheit in der Schweiz entwickelt haben, zielen somit einerseits auf das Individuum, das in seiner beruflichen Laufbahn, seiner persönlichen Entwicklung und seiner Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden soll, andererseits dienen diese Verfahren aber auch der Wirtschaft, indem ihr mit diesen zusätzlichen Zertifizierungsmodalitäten qualifiziertes Personal zur Verfügung gestellt wird.
Die Schweiz hat in der Vergangenheit einige wegweisende Verfahren konzipieren können, die vereinfachte Zulassungen zu Bildungsinstitutionen, eine Anerkennung bereits erbrachter Bildungsleistungen und ihre Anrechnung an Studiengänge sowie die Validierung von informell erworbenen Kompetenzen inkusive formaler Zertifizierung ermöglichen. Ein Überblick über diese zahlreichen Verfahren fehlt aber bislang. Ziel des vorliegenden Buches ist es deshalb, eine systematische Bestandesaufnahme über die Anerkennungs- und Validierungsverfahren in der Schweiz bereitzustellen. Ausgangpunkte bilden theoretische Bezüge rund um die wissenschaftlichen Diskurse zum informellen und zum lebenslangen Lernen sowie zur Debatte über Kompetenzen, die bei vielen Validierungsverfahren eine zentrale Rolle einnehmen. Diese theoretische Fundierung wird ergänzt mit sozialpolitischen und ökonomischen Begründungsstrukturen, die zusammen mit der Verortung der Thematik in den verschiedenen Qualifikationsrahmen die Hintergründe für die zunehmende Aufmerksamkeit auf die Sichtbarmachung von non-formal und informell erbrachten Bildungsleistungen aufzeigen (Kap. 2). Ein Augenmerk gilt auch der begrifflichen Schärfung. Es hat sich gezeigt, dass in Europa verschiedene Verfahren unter ganz unterschiedlichen Bezeichnungen mit jeweils verschiedenen Zielen entstanden sind, sodass kein einheitliches Verständnis darüber besteht, welcher Begriff nun welches Verfahren umreisst. Zumindest für die Schweiz soll darüber eine Klärung erfolgen (Kap. 3). Weitere Kapitel widmen sich der Integration der einzelnen Verfahrenstypen ins Bildungssystem sowie der praktischen Ausgestaltung der verschiedenen Anerkennungs- und Validierungsverfahren in Bezug sowohl auf die Möglichkeiten der Erfassung als auch auf die unterschiedlichen Formen und Grenzen der Beurteilung und Bewertung von Kompetenzen (Kap. 4 bis 6). Ein historischer Abriss über die Entstehung und Entwicklung von Validierungs- und Anerkennungsverfahren rundet den theoretischen Teil dieses Buches ab (Kap. 7), bevor die Beschreibung der einzelnen Verfahren entlang der Bildungssystematik in der Schweiz erfolgt (Kap. 8 bis 11). Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Verfahren der beruflichen Grundbildung sowie auf dem Gleichwertigkeitsbeurteilungsverfahren in der Erwachsenenbildung. Beide Verfahren haben eine nationale Ausdehnung, erfahren breite Akzeptanz, und es liegen für beide Verfahren einige aktuelle Forschungsergebnisse vor. Die Validierung von Bildungsleistungen auf der Stufe der beruflichen Grundbildung ist darüber hinaus gesetzlich geregelt und führt zu einem eidgenössisch anerkannten Berufsabschluss.
Mit dem vorliegenden Buch soll die aktuelle wissenschaftliche und bildungspolitische Diskussion über die Validierung von Bildungsleistungen sowie über die Durchlässigkeit im Bildungssystem fortgeführt werden. Das Buch kann aber auch als Überblickswerk über die verschiedenen theoretischen und empirischen Zugänge zur Sichtbarmachung von Kompetenzen oder einfach als Landkarte für die derzeit existierenden Anerkennungs- und Validierungsverfahren in der Schweiz verstanden werden. Schliesslich kann der Band auch Anregungen für die Ausgestaltung weiterer Verfahren geben. Er richtet sich entsprechend gleichermassen an Bildungspolitikerinnen und -politiker wie auch an Bildungsgestaltende und bietet darüber hinaus Anlass für weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser Thematik.

2 Grundlagen und Begründungsstrukturen

Validierungs- und Anerkennungsverfahren entstehen vor einem spezifischen bildungspolitischen und historischen Hintergrund, verfolgen voneinander abweichende Ziele und sind dementsprechend konzeptionell unterschiedlich ausgestaltet. Dies gilt sowohl für nationale Bildungssysteme und deren systemimmanente oder kompetenzorientierte Verfahren als auch für sehr viel kleinere Verfahren, die eine Anerkennung eines eingegrenzten Kompetenzausschnitts vorsehen und keine nationale Entsprechung haben. Jedes einzelne Verfahren, das bislang entwickelt wurde, hat seine eigene Geschichte, seinen eigenen Charakter und seine eigene Berechtigung und kann nur verstanden werden, wenn sämtliche Kontextbedingungen, die eine solche Konzeption nahelegt haben, mit einbezogen werden. Gleiches gilt auch für die Zukunft: Erfolg versprechend und gemeinhin akzeptiert können Verfahren nur dann sein, wenn die Rahmenbedingungen vor Ort berücksichtigt und alle relevanten Akteure eingebunden werden, sodass den jeweiligen Verfahren ein breiter Konsens in Bezug auf die Ausrichtung, Ziele, Methodik, Bewertungsmassstäbe usw. zugrunde liegt. Trotz dieser individuellen Färbungen der einzelnen Verfahren haben die meisten Validierungen und Anerkennungen gemeinsame Bezugspunkte, die den Ursprung all dieser Verfahren bilden und die Legitimierung und zuweilen auch eine Folie für die mancherorts kritisch geführte Diskussion liefern. Im folgenden Kapitel sollen deshalb diese gemeinsamen Bezugspunkte aufgegriffen werden. Dabei wird der Blick über die Schweiz hinaus ausgeweitet werden müssen, und zwar insbesondere nach Deutschland, da dort der theoretische Diskurs in Bezug auf Validierungs- und Ankerkennungsverfahren sehr viel ausgeprägter und intensiver geführt wird als in der Schweiz (Schmid/Brantschen 2016; Hoffmeier 2016). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass sich in Deutschland seit einigen Jahrzehnten die Erwachsenenbildung als akademische Disziplin etabliert und sich den verschiedenen Bezügen von Validierungs- und Anerkennungsverfahren insbesondere aus theoretischer Perspektive angenähert hat. Diese akademische Ausrichtung hat wertvolle Grundlagen für die Ausgestaltung von verschiedenen Verfahren bereitgestellt, die in der Praxis aber vor allem in der Schweiz und nur zu einem geringen Teil in Deutschland umgesetzt wurden.[1]
Zugespitzt formuliert, können zwei unterschiedliche Aspekte von Validierungs- und Ankerkennungsverfahren ausgemacht werden: Auf der einen Seite ist aus bildungs-, sozialpolitischer und ökonomischer Perspektive eine starke Notwendigkeit für die Etablierung solcher Verfahren festzustellen, die in der Möglichkeit der globalen Wettbewerbsfähigkeit der Einzelnen sowie des Standortes Schweiz und im Auffangen oder Verhindern sozialer Notlagen begründet liegt. Auf der anderen Seite konzentrieren sich pädagogische Ansätze von Validierungs- und Anerkennungsverfahren auf die Konzeption von Lernanlässen, die von einzelnen Personen durchlaufen werden können, und von Messverfahren, die es dann erlauben, ihre non-formal oder informell erworbenen Kompetenzen nachzuweisen. Diese Verfahren orientieren sich nicht selten an Bildungsstandards und Qualifikationsrahmen sowie am Gedanken des informellen und lebenslangen Lernens. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind auch der gegenwärtig geführte Kompetenzdiskurs sowie Konzeptionen zur Sichtbarmachung bzw. Bilanzierung von Kompetenzen. Diese Blickwinkel sollen in den folgenden Kapiteln aufgegriffen werden. Es handelt sich dabei einerseits um theoretische Perspektiven und andererseits um Erfordernisse aus der Praxis. Beide stellen die Grundlagen sowie die Begründungsstrukturen von Validierungs- und Anerkennungsverfahren dar. Ebenfalls in diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob und wie die Qualifikationsrahmen des Berufsbildungssystems und des Hochschulbereichs für Validierungs- und Anerkennungsverfahren in der Schweiz genutzt werden können.

2.1 Informelles und non-formales Lernen

«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» – Sprichwörter zeichnen sich im Allgemeinen dadurch aus, dass sie in wenigen Worten Ratschläge für die Lebensführung geben. Wir haben viele solche Zitate verinnerlicht, ohne sie zu hinterfragen, und können sie zu gegebener Zeit abrufen und uns daran orientieren. So auch beim Hänschen-Zitat: Es verweist auf zwei Zustände, nämlich auf den Lern- und auf den Verwertungszustand. Im Lernzustand steckt gleichzeitig ein pädagogischer Appell: Hänschen muss in der Schule alles lernen, was er fürs spätere Leben braucht, muss sich also entsprechend anstrengen und die Zeit nutzen, denn danach ist es zu spät, das Lernen wird nach dem Ende der Schulzeit nicht mehr möglich sein. Nach der Schulzeit wird das während der Kindheit und Jugend Erlernte produktiv im Arbeitsprozess umgesetzt bzw. verwertet (Gonon 2017).
Das Hänschen-Zitat hatte bis in die Industriegesellschaft vor dem Hintergrund der Gestaltung von Lebensläufen durchaus seine Berechtigung, und zwar insbesondere dann, wenn man den Lebenslauf als eine Abfolge von strukturierten Ordnungsmechanismen versteht. Gesellschaften unterscheiden sich demnach dadurch, wie sie den Lebenslauf gliedern, welche Rahmenbedingungen sie dabei setzen und welche Lebensführungen sie als erstrebenswert festlegen (Kohli 2006: 159). Innerhalb dieser Rahmenbedingungen entfalten die einzelnen Individuen ihre Lebensführung, wobei gerade in der vorindustriellen Gesellschaft dieses Korsett eng geschnürt war und für mehr oder weniger alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Art und Weise Geltung hatte. Im Wesentlichen war das Leben unterteilt in die Phasen Kindheit und Jugend, Erwachsenenalter und Ruhestand. In der Kindheits- und Jugendphase beziehnungsweisw in der «Hänschen-Phase» bestand die Aufgabe darin, sich zu bilden bzw. eine Ausbildung zu absolvieren, während im Erwachsenenalter beziehnungsweise im «Hans-Alter» die Erwerbsarbeit und die Familie im Zentrum standen. Das Lernen hatte in dieser Phase keine Bedeutung mehr oder spielte zumindest nur noch eine untergeordnete Rolle. Dasselbe gilt auch für den Ruhestand. Der Übergang von der einen in die nächste Lebensphase war klar gekennzeichnet, beispielsweise durch den Beschäftigungsbeginn oder den Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
Abbildung 1: Lernen im Drei-Phasen-Modell der Industriegesellschaft
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Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kraus 2008: 20
Mit dem technischen und sozialen Wandel hin zur postindustriellen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte vollzog sich allerdings ein Prozess, der tief greifende Veränderungen des Lernverständnisses mit sich brachte und dem Hänschen-Zitat die Grundlage entzog. So haben gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen in den vergangenen Jahren zu sozialen Erodierungsprozessen geführt, welche die traditionellen, vorstrukturierten Lebensläufe aufgeweicht und zu individualisierten Biografien (Beck 2016; Beck/Giddens/Lash 1996) und zu entstandardisierten Lebensläufen geführt haben. Die rund um die Erwerbsarbeit entfalteten Normalbiografien befinden sich nunmehr in einem Auflösungsprozess, da die Abfolge von Lern- und Vorbereitungsphase, Aktivitätsphase und Ruhephase nur noch auf eine geringe Zahl von vorwiegend männlichen Lebensläufen zutrifft. Beschäftigungsbeginn und Beschäftigungsende sind nicht mehr eindeutig definiert, sondern treten in der Regel im Laufe einer Beschäftigungsbiografie mehrmals auf. Dies führt zu immer neuen Statuspassagen, die zu sozialen Risikolagen und kritischen Lebensereignissen werden können (Kraus 2008: 22). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Austritt aus der Erwerbstätigkeit unfreiwillig erfolgt und der oder die Betroffene keine Qualifikationen vorlegen kann, die ihn oder sie für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit legitimieren würde. Dem Lernen kommt deshalb eine entscheidende Rolle zu, wird es doch zum ständigen Begleiter jedes Einzelnen, indem es die Beschäftigungsfähigkeit erhöhen, ein gewisses Mass an Schutz vor Arbeitslosigkeit in Aussicht stellen und einen reibungslosen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit ermöglichen kann. Voraussetzung dafür ist allerdings eine permanente Lernbereitschaft.
Abbildung 2: Entstandardisierung des Lebenslaufs in der postindustriellen Gesellschaft
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Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kraus 2008: 22
Grundsätzlich bildet der berufsqualifizierende Abschluss, der im Jugend- oder Erwachsenenalter erworben wird, die Grundlage für das daran anschliessende Lernen. Bis zu diesem Zeitpunkt findet das Lernen in formalisierten Arrangements statt, also in einem «Lernprozess, der in einem organisierten und strukturierten, speziell dem Lernen dienenden Kontext stattfindet, und typischerweise zum Erwerb einer Qualifikation, in der Regel in Form eines Zeugnisses oder eines Befähigungsnachweises, führt; hierzu gehören Systeme der allgemeinen Bildung, der beruflichen Erstausbildung und der Hochschulbildung» (Rat der Europäischen Union 2012: 5). Das Bundesgesetz über die Weiterbildung (WeBiG 2014) hat diese Definition weitgehend übernommen und auf die Schweiz übertragen:
«formale Bildung: staatlich geregelte Bildung, die:
1.in der obligatorischen Schule stattfindet, oder
2.zu einem der folgenden Abschlüsse führt:
zu einem Abschluss der Sekundarstufe II, zu einem Abschluss der höheren Berufsbildung oder zu einem akademischen Grad,
zu einem Abschluss, der Voraussetzung für eine staatlich reglementierte berufliche Tätigkeit bildet» (Art. 3 Abs. b WeBiG).
Gemäss dem Hänschen-Sprichwort hätte mit diesem formalen Lernen, das vorwiegend in der Kindheit und Jugend stattfindet, das Lernen als solches ein Ende. Die erwähnten gesellschaftlichen Entwicklungen bedingen nun aber ein Fortschreiben der persönlichen und beruflichen Entwicklung, wobei andere Aneignungsformen wichtig werden, da das formale Lernen im Erwachsenenalter nur noch in wenigen Fällen möglich ist, etwa wenn Erwachsene eine Ausbildung im formalen Bildungssystem nachholen. Ansonsten erfolgt das Lernen im Erwachsenenalter und während der Erwerbstätigkeit nach anderen Prinzipien und Logiken.
Erste Ansätze ausserschulischen Lernens reichen in die vorindustrielle Zeit zurück und sind einerseits auf kirchlicher Seite zu finden, die bereits im 17. Jahrhundert Lesekurse für Erwachsene organisierte, um diese zu befähigen, die Bibel eigenständig zu lesen. Andererseits wurden im Laufe der Jahrhunderte sowohl karitative als auch interessengebundene Gesellschafte...

Inhaltsverzeichnis

  1. Validieren und anerkennen
  2. Anerkennung und Validierung als erwachsenenpädagogische Handlungspraxis
  3. Literatur
  4. 1 Einleitung
  5. 2 Grundlagen und Begründungsstrukturen
  6. 3 Begriffe und Konzepte
  7. 4 Systematisierung von Validierungs- und Anerkennungsverfahren
  8. 5 Methoden zur Validierung und Anerkennung von Bildungsleistungen
  9. 6 Beurteilung und Bewertung
  10. 7 Die Entstehung von Anerkennungs- und Validierungsverfahren
  11. 8 Verfahren auf der Sekundarstufe II
  12. 9 Verfahren auf der Tertiärstufe B (höhere Berufsbildung)
  13. 10 Verfahren auf der Tertiärstufe A (Hochschulen)
  14. 11 Verfahren in der Weiterbildung
  15. 12 Schlussbetrachtung
  16. Abkürzungsverzeichnis
  17. Literatur
  18. Herausgeberin und Autor