Systemische Wirtschaftsanalyse
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Systemische Wirtschaftsanalyse

Die Psycho-Logik der Wirtschaft: Mensch und Ökonomie in Einklang bringen

  1. 193 Seiten
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Systemische Wirtschaftsanalyse

Die Psycho-Logik der Wirtschaft: Mensch und Ökonomie in Einklang bringen

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Über dieses Buch

Nach seiner Systemischen Organisationsanalyse liefert der Autor nun die Ergänzung. Auf dem Weg zur sozialen und ökologischen Weltgesellschaft ist die Wirtschaft ein Schlüsselfaktor. Es bedarf neuer Perspektiven auf das Wirtschaftsgeschehen. Die systemische Sichtweise leistet einen solchen Überblick. Hier wird diese Perspektive anhand von zehn dynamischen Mustern zur Wirtschaftsanalyse beschrieben.Systemische Wirtschaftsanalyse zwischen persönlicher Einsicht und gesellschaftlich relevantem Handeln: Auch für die Betrachtung der Wirtschaft als Ganzes und die Offenlegung der hier wirksamen psychologischen Aspekte ist das in diesem Buch entwickelte systemische Rahmenmodell tauglich. Es wird eine systemische Perspektive anhand von zehn dynamischen Mustern zur Wirtschaftsanalyse genutzt. Der Leser erhält so Anregungen, die Wirtschaft als Systemwelt besser zu begreifen und entsprechend zu handeln.Mit umfangreichem Anhang inkl. Tipps, Tabellen, Charts und vielen anderen Tools für die praktische Arbeit.

Häufig gestellte Fragen

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Information

1. Auf dem Weg zur sozialen Weltgesellschaft

Die Utopie einer friedlichen und einer überall von mindestens bescheidenem Wohlstand bestimmten Gesellschaft scheint greifbarer als je zuvor in der Geschichte. Das Weltvermögen von geschätzt 280 Billionen Euro könnte bei 7 Milliarden Menschen auf der Welt für jeden etwa 40.000 Euro bedeuten. Zugegeben, das Geld ist derzeit etwas anders verteilt. Wie können also Wirtschaft und Wirtschaftspolitik gestaltet werden, damit sie das Leben insgesamt unterstützen? Nach allem, was wir heute wissen, erfordern gerechte Lebensbedingungen auch eine fundamentale Transformation der Lebensweise in den entwickelten Ländern. Wachstum wird anders zu definieren sein als bisher.

Das merkwürdige Versprechen

Der maßgebliche Faktor für die Verteilung der Güter ist zunächst nicht die Politik, sondern die Wirtschaft. Dort entstehen Werte, die unser Leben bestimmen. Dabei ist das Wirtschaftsgeschehen auf allen Ebenen ganz wesentlich durch Psychologie bestimmt. Selten wurde das deutlicher als am 5. Oktober 2008, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) im Fernsehen mit einem Versprechen auftraten: »Die Spareinlagen sind sicher.« Ein Versprechen, das sie eigentlich niemals hätten einhalten können. Wenn nämlich am nächsten Tag Hunderttausende Deutsche vor den Banken Schlange gestanden und ihre Sparguthaben zurückverlangt hätten, wäre die deutsche Wirtschaft zusammengebrochen. Merkel und Steinbrück beruhigten mit diesem psychologischen Trick die Öffentlichkeit.
Ängste, Drohungen, Hoffnungen und Erwartungen beeinflussen die wirtschaftlichen Einschätzungen und Aktivitäten der Menschen. Diese Stimmungen werden von den Medien verstärkt, teilweise sogar geprägt. Wie die Psychologie im Einzelnen und im System der Wirtschaft relevant ist, wird im Buch betrachtet. Daraus werden zu wichtigen Fragen alternative Perspektiven entwickelt.
Systemische Zusammenhänge bestimmen das Funktionieren von Staat und Wirtschaft als Ganzes, aber auch die Erfolgsbedingungen des Einzelnen. Es ist eben nicht mehr egal, ob in China der viel beschworene Sack Reis umfällt oder nicht. Zudem haben sich seit 1990, dem Auftreten des Internet und der Auflösung des Ostblocks, die Informationen für nahezu alle Menschen auf der Welt vervielfacht. Das tägliche Erleben emotional belastender Nachrichten von rund um den Globus lässt die Welt kleiner, zuweilen chaotischer erscheinen. Aber auch die Kontrolle der Menschen und die Transparenz ihrer Aktivitäten in Arbeit und Konsum werden in einem Ausmaß möglich wie nie zuvor. Es existieren in der Welt kaum noch Nischen für den Einzelnen. Gerade Menschen in den reichen westlichen Ländern reagieren immer häufiger mit psychischen Mustern wie Burn-out auf die Situation. In der Krise von Finanzindustrie und Staatsfinanzen sind psychologische Verknüpfungen so bestimmend wie tatsächliche faktische Zusammenhänge. Sie resultieren aus vorhandenen oder ausgeblendeten Informationen, aus dem Erleben von Ereignissen und aus dem sich daraus bildenden Vertrauen.
In dieser Situation braucht es Perspektiven auf das Wirtschaftsgeschehen, die über das Bisherige hinausgehen. Die systemische Sichtweise ist eine solche Überblicksperspektive für die Wirtschaft. Ich lege deshalb in diesem Buch das systemische Rahmenmodell zugrunde, das ich für Organisationen entwickelt habe und in dem Buch «Systemische Organisationsanalyse« beschrieben habe (Mohr 2006). In vielen Diskussionen stellte sich heraus, dass es auch für die Betrachtung der Wirtschaft als Ganzes und die Offenlegung der hier wirksamen psychologischen Aspekte tauglich ist. In dem Buch wird die systemische Perspektive anhand von zehn dynamischen Mustern zur Wirtschaftsanalyse genutzt. Vielleicht gibt es einige Anregungen, die Wirtschaft als Systemwelt ein Stück besser zu begreifen und entsprechend zu handeln.

Ein Kreislauf und große Ziele

Gerade in der Wirtschaft sind systemische Prozesse wesentlich durch Kreisläufe geprägt. Peter Sloterdijk (2009) erzählt eine schöne Geschichte, die zunächst paradox wirkt, aber das Prinzip verdeutlicht.
Ein deutscher Tourist kommt in ein irisches Hotel und will sich einige Zimmer ansehen. Er legt dazu einen 100-Euro-Schein auf die Theke. Während er die Zimmer in Ruhe anschaut, läuft der Wirt mit dem Geld zum Metzger und bezahlt seine Schulden für Fleisch, der Metzger nimmt die 100 Euro läuft zum Bauern und bezahlt für dessen Lieferung. Der wiederum läuft zu einem Schreiner und bezahlt seine Schulden für die neuen Fenster. Der Schreiner läuft zu einer Dame, die im Ort spezielle Dienstleistungen für Männer anbietet und bezahlt seine offenen Rechnungen. Diese wiederum geht zum Hotel und gibt dem Wirt den 100-Euro-Schein für noch nicht bezahlte Zimmernutzung. Der Wirt legt den 100-Euro-Schein wieder auf die Theke. Dem deutschen Touristen haben die Zimmer nicht zugesagt, er nimmt den 100-Euro-Schein, geht von dannen und hinterlässt ein glückliches Dorf, in dem alle Schulden bezahlt sind.
So oder so ähnlich funktioniert das auch im wahren Leben. Wird der Kreislauf von Waren und Geld unterbrochen oder nur verlangsamt, wie es zum Beispiel im Jahr 2008 bei der Finanzkrise geschehen ist, werden Menschen vorsichtiger, investieren und konsumieren weniger und der gesamte Wirtschaftsprozess kommt ins Wanken.
Schaut man sich die verschiedenen Ansätze über den Sinn und die Ziele der Wirtschaft an, so finden sich zwei klassische Antworten: Erstens will Wirtschaft aus den vorhandenen Ressourcen mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen ziehen. Diese Zielsetzung wird auch als Allokation bezeichnet. Zweitens gehört nach heutiger Übereinkunft ein ausreichendes Niveau von Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für möglichst viele Menschen zur Wirtschaft.
Manchmal wird auch ein drittes Ziel, das der gerechten Verteilung der erarbeiteten Ressourcen, ergänzt. Wobei die Ökonomen hier sehr unterschiedlicher Meinung sind, ob die Wirtschaft wirklich eine gerechte Verteilung herstellen kann und soll. In der Perspektive der Wirtschaftswunderjahre war dies noch selbstverständlich. Das Thema Verteilungsgerechtigkeit ist im Zuge der neoliberalen Dominanz der 80er- und 90er-Jahre zeitweise in den Hintergrund getreten, um dann nach der Wirtschaftskrise ab 2008 wieder zu Aufmerksamkeit zu kommen. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat kürzlich rege Diskussionen durch seine These ausgelöst, dass es eine radikale Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner gebe (Piketty 2014). Seine schlichte Formel: Die Kapitalrendite, also das Einkommen aus Kapital, ist tendenziell höher als die Wachstumsrate, sprich, die Reichen bekommen vom Kuchen ein relativ größeres Stück ab.
Heute sollte man bei der Betrachtung der Wirtschaft ergänzend den Aspekt der Nachhaltigkeit, also die Berücksichtigung der langfristigen Folgen des Handelns und des Ressourcenverbrauches, erwähnen. Es ist allerdings streng genommen eine Unterfunktion der Allokation, der sinnvollen und effizienten Kombination der Ressourcen. Man muss nur die verschiedenen Naturressourcen entsprechend wertschätzen und eventuell auch finanziell bewerten.
Dabei wird die wichtigste Ressource heute oft vernachlässigt, nämlich die der menschlichen Lebenszeit und der psychohygienischen Gesundheit. Menschen werden wieder, wie es zu Beginn der Industrialisierung und dann im tayloristischen Menschenbild mit der »Klein-Klein-Optimierung« menschlicher Handgriffe gipfelnd schon einmal der Fall war, als reine Produktionsfaktoren gesehen. Anders sind die heutigen Phänomene der Arbeitsverdichtung, der Arbeitsintensität und der langen Arbeitszeiten mit entsprechenden Folgen wie Burn-out nicht zu erklären. Im 19. Jahrhundert führte der gigantische technische Fortschritt zu einer materiellen Verelendung der Menschen. Heute scheint der technische Fortschritt zu einer psychischen Verelendung mit dem Anstieg psychischer Krankheiten und der häufigen Diagnose Burn-out zu führen. Auf jeden Fall rückt die psychosoziale Gesundheit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Welle wurde bereits von dem Konjunkturforscher Nefiodow vorhergesagt (Nefiodow 1999).
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert hat durch die neuen Produktionsmittel eine Veränderung der Produktionsverhältnisse (Eigentumsstrukturen, Machtverhältnisse) gebracht, wie Marx es nannte. Die technische Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts bringt zumindest eine Veränderung der Kommunikation und der Beziehungen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Dies ist ein sehr ambitioniertes Ziel.
Psychische Gesundheit ist laut WHO ein Zustand des Wohlbefindens, in dem der einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen und fruchtbar anbieten kann, die normalen Lebensbelastungen bewältigen kann und imstande ist, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen. Dazu kann auch die Wirtschaft beitragen. Sie könnte sich sogar dazu verpflichten.

Armut ist kein Rechenspiel

Der niederländische Ökonom Peter Lanjouw beschäftigt sich im Auftrag der Weltbank mit Armut und Ungleichheit in der Welt. Er hält eine Erhöhung der Armutsgrenze für nötig. Wer 1,75 Dollar oder weniger pro Tag zur Verfügung hat, soll als arm gelten. Bisher liegt die Grenze bei 1,25 Dollar pro Tag. Dies sei nicht mehr zeitgemäß, glaubt Lanjouw, weil lediglich die Veränderungen in der Berechnung der Kaufkraftparität, der so genannten PPP (Purchasing Power Parity) statistisch zu einer Halbierung der Anzahl der Armen in der Welt geführt habe. In einigen großen Schwellenländern ist die Anzahl der Menschen mit weniger als 1,25 Dollar zur täglichen Verfügung von 20 Prozent auf neun Prozent gesunken. In Indien allein ist die Zahl von 393 Millionen auf 100 Millionen Menschen gesunken. Ist aber wirklich die Armut in diesen Ländern kleiner geworden?
Die britischen Ökonomen Christopher Deeming und Bina Guhaju haben sich mit dem kleinen pazifischen Inselstaat Vanuatu beschäftigt. Dort leben 250.000 Menschen. Ein Fünftel bekommt überhaupt keinen Lohn. Der Rest lebt von Land- und Seewirtschaft. Bei einem zugerechneten Einkommen von einem Dollar pro Tag sind 5,4 Prozent der Kinder arm. Fragt man allerdings, inwiefern die Kinder ausreichend mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Obdach versorgt sind, gelten 17 Prozent der Kinder als arm (Deeming/ Guhaju, zit. nach Kaufmann: »Armut als Variable«, Frankfurter Rundschau, 18.4.2014). Insofern sagt ein Durchschnitt für den Einzelnen nicht viel aus. Solche Kennziffern sind aber für volkswirtschaftliche Einschätzungen oft ausschlaggebend und – wie man an diesen Beispielen sehen kann – leiten sie in die Irre.

Vom Überleben zum Gemeinwohl

Die Zwecke des Wirtschaftens korrespondieren mit einer Grundtendenz, die für Systeme generell gilt, nämlich dem Überlebenswillen. Diese wesentliche Grundlage des Lebens und Wirtschaftens ist auch den meisten wirtschaftstheoretischen Konzepten immanent. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Überlebensprinzip im Sinne von Mehr an Materiellem heute für viele Menschen in den reichen Ländern wirklich noch eine erforderliche Maxime ist. Oder ist diese Orientierung lediglich ein Relikt der Vergangenheit? Psychologisch gesehen werden solche »mentalen Ladenhüter« oft unreflektiert beibehalten. Der Gedanke »Es ist nicht genug da«, beherrscht die Menschen seit Generationen, unabhängig davon, ob dies tatsächlich Realität ist. Dahinter steckt eine evolutionsgeschichtlich erlebte und damit im kollektiven Unbewussten der Menschen, wie C. G. Jung es nannte, vorhandene Reaktion. Der Wettbewerb um eine marginale Verbesserung auf schon hohem Niveau wird innerlich als Existenzbedrohung erlebt. Zieht man die Aufmerksamkeitsebenen des systemischen Modells heran, befindet man sich auf der transgenerationalen Ebene (siehe Kapitel »Aufmerksamkeit«) (Mohr 2014).
Politisch kann man das in der Wirtschaft herrschende sogenannte Knappheitsparadigma als Ideologie bezeichnen. Marxisten deuten es als den ständigen Zwang des Kapitals, sich selbst zu vermehren. Allerdings war – und manchmal gilt das sicher auch heute noch – das Knappheitserleben zunächst durchaus etwas Positives. Not macht erfinderisch, vermeldet ein Sprichwort. In der Psychologie spricht die Transaktionsanalytikerin Fanita English von einem Überlebenstrieb, den Menschen zuerst und meist mit archaischen Reaktionen bedienen, ehe sie vom Gestaltungstrieb geleitet werden (English 2004), der sicher ganz andere Lösungen produzieren kann. In lebensbedrohlichen Situationen schalten Menschen auf den »survival mode« (Überlebensmodus) (Brom 2014). Erlebte Knappheit scheint in den Menschen sehr tief verankert zu sein, weshalb man von einem Paradigma sprechen kann. So muss es heute bei der Knappheit nicht immer um Materielles gehen. Oft ist aber eine vermeintliche, »gefühlte« Knappheit ausschlaggebend, um so zu reagieren, als ginge es ums Überleben.
Dies soll nicht bedeuten, dass alle im Wohlstand leben, aber das Knappheitsempfinden hält von der Bereitschaft zu gerechter Verteilung ab. In der Verhaltensökonomie vielfach nachgewiesen ist der sogenannte Besitztumseffekt (Endowment-Effect). Er besagt, dass niemand einen einmal erreichten Besitz, egal auf welchem Niveau, wieder aufgegeben will. Der Besitztumseffekt bedeutet, dass es uns Angst macht, wenn wir etwas verlieren. Studien in der Verhaltensökonomie haben gezeigt: Die emotionale Reaktion zum Verlust von 1000 Euro ist bedeutend stärker als die zum Gewinn von 1000 Euro. Entsprechend leiden betuchtere Leute unter diesem Effekt sogar relativ mehr als arme. Der Besitztumseffekt wirkt rein psychologisch, unabhängig vom tatsächlichen Vermögen. Das gelebte Knappheitsparadigma des »Es ist nie genug« ist eher ein Gewohnheitsmuster als eine reale Erfahrung, geschweige denn eine Notwendigkeit. Aber auch in einer Wohlstandsgesellschaft wird der Besitztumseffekt nun zum Thema, wenn etwa aufgrund der Klimaveränderungen notwendige Einschränkungen auf die Menschen zukommen.
Als Fazit lässt sich zum Knappheitserleben sagen, dass über seine Wirkung mehr Bewusstheit entstehen und dass es relativiert werden muss. Es gilt, wirkliche Knappheit von psychologisch verursachter zu unterscheiden.
Ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu: Ökonomie verbinden die meisten Menschen auch mit Finanzgrößen wie Gewinn und Rendite. Schaut man in die europäischen Verfassungen, so ist der eigentliche Zweck des Wirtschaftens aber nicht der Gewinn. Der Österreicher Christian Felber weist darauf hin (Felber 2009), dass in diesen grundsätzlichen Regelwerken der Menschen durchaus von einem anderen Ziel des Wirtschaftens die Rede ist, nämlich vom Gemeinwohl. Finanzielle Kriterien und Gewinnorientierung sind nur die Mittel. In der Verfassung des Freistaates Bayern, Art 151,1 steht beispielsweise: »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.«
In der Realität sind viele Entscheider allerdings im Knappheitsparadigma gefangen. Sie huldigen einer angeblich notwendigen Wachstumsideologie. Diese trägt dann heute oft sportliche Züge, die auf der finanziellen Ebene in Wettläufen zu EBIT, EBITDA, Gewinn je Aktie und Return of Investment gipfeln. Eine ganze Industrie von Analysten, Maklern und mit diesen verbundenen Medien unterstützt diese Denkweise.

Das Ende der Entwicklung?

Existiert Wirtschaften auch jenseits des Kapitalismus? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat schon 1992 mit The end of history die bestehende als die endgültige Gesellschaft ausgerufen (Fukuyama 1992). Ernest Mandel dagegen läutete schon in der 1970ern den »Spätkapitalismus« ein (Mandel 1973). Er wollte damit sagen, dass an der Theorie des historischen Materialismus von Marx und Engels, nach der der Kapitalismus notwendigerweise von etwas anderem, nämlich dem Sozialismus abgelöst werde, doch etwas dran sei. Mittlerweile ist zumindest der real existierende Sozialismus untergegangen und wir müssten uns im Spät-Spätkapitalismus befinden. Es gab aber schon vor und immer neben der jeweils aktuellen Form des Kapitalismus ein Wirtschaften neben dem Wirtschaften. Man kann auch aus der Geschichte lernen, dass sich darüber hinausgehende, neue Aspekte des Wirtschaftens entwickeln können. Entsprechend kommt die Kritik an Francis Fukuyama etwa von Slavoj Zizek (Living in the end times, Zizek 2011), dem slowenischen Psychoanalytiker und sogar ehemaligen Präsidentschaftskandidaten in seinem Land: Wirtschaften muss nicht einseitig durch die bisherigen, im Moment wesentlich kapitalistisch geprägten Mechanismen bestimmt sein. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass es das auch gar nicht ist. Nachdem Anfang der 1990er-Jahre die real existierende Planwirtschaft aufgegeben wurde und seit 2008 der Finanzkapitalismus vorerst zu Ende war, könnte sich der Aufmerksamkeitsfokus eigentlich neu orientieren und sich eine neue Wirtschaftsform etablieren.
Alternative Bezugsrahmen wie die solidarische Ökonomie, die Gemeinwohlökonomie (Felber 2010), die feministische Ökonomie (Biesecker et al. 2000) oder auch die Überflusskritik (Paesch 2011) und die Gemeingütertheorie (Ostrom 2011) zeigen neue Töne. Der österreichische Attac-Mitbegründer Christian Felber zeigt mit seinem gemeinwohlökonomischen Konzept die Breite der Wirtschaftsziele auf und wird im Folgenden an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen. Die Bremer Wirtschaftsprofessorin Adelheid Biesecker betont den Fürsorgeaspekt, der für Menschen und Natur am Anfang der ökonomischen Überlegungen stehen sollte. Fürsorge wird traditionell als eher weibliches Prinzip gesehen, ist a...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Der Autor
  3. Haupttitel
  4. Impressum
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Vorwort des Reihenherausgebers: Systemische Wirtschaftsanalyse zwischen persönlicher Einsicht und gesellschaftlich relevantem Handeln (Bernd Schmid)
  7. Vorwort
  8. 1. Auf dem Weg zur sozialen Weltgesellschaft
  9. 2. Aufmerksamkeit – Die Konstruktion der Wirklichkeit
  10. 3. Rollen – Notwendige Institution oder Machtverschleierung?
  11. 4. Beziehungen – Ohne dich bin ich nichts
  12. 5. Kommunikation – aber bitte liquide bleiben
  13. 6. Problemlösung – Das Leben ist ein Problem
  14. 7. Erfolg – Das Elixier des Lebens?
  15. 8. Gleichgewicht – Wie läuft es eigentlich langfristig?
  16. 9. Rekursivität – Das Modell der russischen Puppe
  17. 10. Äußere Pulsation – Wer soll wie dabei sein?
  18. 11. Innere Pulsation – Inklusion weitergedacht
  19. 12. Ausblick
  20. Anhang: Arbeitsmaterialien
  21. Literatur
  22. Verzeichnis der Exkurse und Abbildungen
  23. Weitere Bücher