Goldene Hände
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Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung

  1. 152 Seiten
  2. German
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Goldene Hände

Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung

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Über dieses Buch

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.Die Berufsbildung hat ein großes Reservoir an Begabungs- und Talentreserven, die sie nicht ausreichend nutzt. Sie muss deshalb ihren Blick neu ausrichten, weg von der alleinigen Konzentration auf Defizite und Schwächen, hin zur Integration von Potenzialen und Stärken. Dies erfordert einen Perspektivenwechsel, der sich stärker auf Elemente der praktischen Intelligenz konzentriert. Margrit Stamm zeigt, durch welche Ansatzpunkte eine so verstandene Könnerschaft erreicht werden kann.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783035504286

Kapitel 1
Herausforderungen für die Berufsbildung

Aktuell fällt die Berufsbildung durch mindestens drei Merkmale auf. Das erste Merkmal ist die ihr immer wieder zugeschriebene Qualität. So attestierte ihr die OECD-Studie «Learning for jobs» im Jahr 2009 «beeindruckende Qualitäten», weshalb sie «stolz auf ihr hochqualifiziertes Berufsbildungssystem» sein dürfe.[1] In der Tat gibt es wenig Vergleichbares, das überall und in allen Medien so präsent ist. Auch in der Bevölkerung besteht die weitgehend einhellige Überzeugung, dass das Schweizer Berufsbildungssystem eine hervorragende Einrichtung ist. Solche Komplimente kommen nicht einfach aus dem hohlen Bauch, sondern sind ein Hinweis darauf, wie fundiert die Berufsbildung aufgestellt ist.
Das zweite Merkmal betrifft die eigenartige Polarisierung zwischen Selbstüberschätzung – die Alt-Nationalrätin Josiane Aubert hat diese einmal eine «nationale Idealisierung der Berufsbildung» genannt – und wiederkehrenden Klagen. Diese bauen oft auf einer Schwarz-Weiss-Malerei auf und lassen ein gewisses Mass an Selbstkritik vermissen. Einerseits wird die Berufsbildung spätestens seit den SwissSkills 2014 auch als Exportschlager und Garant gegen Jugendarbeitslosigkeit[2] hochgelobt, andererseits aber als System mit zu vielen Lehrabbrüchen und zu wenig fähigen Auszubildenden kritisiert. Damit einher geht das dritte Merkmal: die Tatsache, dass von vielen Eltern und nicht selten auch von Lehrpersonen die Berufslehre im Vergleich zum gymnasialen Weg noch immer als minderwertig angesehen wird, als zwar für schulschwächere Jugendliche angemessen, aber nicht für begabte.
Mit Sicherheit wird die Berufsbildung in den kommenden Jahren mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert werden. Dabei wird es darauf ankommen, ob man diese im positiven Sinn als halbvolles oder negativ als halbleeres Glas ins Auge fasst. Unsere Forschungsstudien unterstützen die positive Sichtweise, und zwar in den folgenden vier Bereichen:
Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe
Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses
Frühe Elternarbeit als Werbung für die Berufsbildung
Könnerschaft durch Praktische Intelligenz
Solche Klagen lassen sich folglich auch als Schutzbehauptungen von Betrieben interpretieren, die sich nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Trotzdem ist der Unmut so intensiv geworden, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen und sich fragen muss, was denn zu tun ist. Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt? Dies greift wahrscheinlich zu kurz. Sollen die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbildungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung fatal.
Sicher ist, dass die stete Kritik an der fehlenden Ausbildungsreife der Jugendlichen in Zeiten des Lehrlingsmangels keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufsbildung hat. Weil die Akademisierung einerseits (immer mehr wollen in eine Fachmittelschule, etwas mehr ans Gymnasium) und die Demographie (sinkende Geburtenzahlen) für die nächste Zeit keine Trendwende prognostizieren, wird sich das duale System verändern müssen und sich den Realschülern, aber auch den Jugendlichen im Übergangssystem, verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die bisher eher gemieden wurde. Es braucht eine Überwindung des Tunnelblicks auf die anforderungshöchste Bildungsstufe. Damit einhergehend muss ein selbstkritischer Blick auf die Bildungsverordnungen geworfen werden und geprüft werden, inwiefern schulische Anforderungen unnötig hoch angesetzt werden. Manche Bildungsinhalte könnten wahrscheinlich auch erst in der Höheren Berufsbildung vermittelt werden.

Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

Im Allgemeinen nimmt man viel zu wenig zur Kenntnis, wie heterogen die Berufsbildung heute geworden ist. Es gibt Berufsausbildungen mit hohen Anforderungen, solche mit hohem Sozialprestige und meist auch hohen qualifikatorischen Anforderungen, andererseits solche mit relativ geringem Qualifikationsprofil und nicht selten auch geringem Sozialprestige. Unser Berufsbildungssystem muss diese ganze Bandbreite abdecken und dabei einen bemerkenswerten Spagat bewältigen:
Es muss auch für leistungsstarke, gut qualifizierte Jugendliche, die eine anspruchsvolle Berufsausbildung absolvieren wollen, attraktiv bleiben. Deshalb müssen solchen Jugendlichen früh schon Wege bis zur Hochschulreife aufgezeigt werden und auch vorgeebnet bekommen.
Gleichzeitig muss es den Fachkräftenachwuchs auch aus der Population leistungsschwacher Jugendlicher erschliessen, denen bislang «fehlende Ausbildungsreife» attestiert worden ist und die aus verschiedensten Gründen im Übergangssystem gelandet sind. Bis 2020 sollen 95 Prozent aller 25-Jährigen über einen nachobligatorischen Abschluss verfügen.[3]
Die berufliche Grundbildung hat in den letzten Jahren mit grossem Aufwand viel unternommen, um leistungsschwächere Jugendliche auf dem Weg in die Sekundarstufe II zu unterstützen. Dies ist richtig und wichtig, sollten doch viele junge Menschen mit möglichst ausreichender Bildung in die Arbeitswelt und damit in die Gesellschaft integriert werden können. Integration ist deshalb das Herzstück vieler Bemühungen und Aktivitäten. Allerdings sollten Prioritäten und Perspektiven richtig gesetzt werden. Dies bedeutet erstens, dass sich der Blick nicht zu sehr auf die Integrationsförderung dieser leistungsschwächeren Gruppe beschränken darf, sondern verstärkt auch auf die Potenziale aller Auszubildenden gerichtet werden muss. Zweitens, dass Auszubildende mit Talent und Potenzial viel systematischer als bis anhin gesucht und gefördert werden sollten. Berufsbildung, Wirtschaft und Industrie, und damit unsere Volkswirtschaft, brauchen beides: ein breites, sorgfältiges Bildungsangebot für die sogenannt Leistungsschwachen, aber auch die systematische und selbstverständliche Förderung jener am «oberen Ende der Skala» – und zwar ohne, dass dabei von «elitärem Gehabe» gesprochen wird, wie dies so oft der Fall ist.
Natürlich kann man einwenden, dass in den letzten Jahren das Verständnis für dieses Segment deutlich gewachsen ist und auch hervorragende Projekte lanciert und etabliert worden sind (man denke an die «Talent- und Innovationsförderung in der Berufsbildung», das Label «Bildungspartner von SJf – for talents», das Projekt «Junior Car Crack» des Auto Gewerbe Verbands der Sektion beider Basel oder das Projekt Talentförderung in der Berufsbildung des Kantons Zürich (usw.). In der Tat sind dies gute Beispiele, doch finden sie viel zu wenig systematische Nachahmer. Deshalb bleiben sie selektiv, weil nicht alle Auszubildenden die gleichen Chancen zur Potenzialentfaltung erhalten. Der Kanton bzw. der Wohn- und Ausbildungsort haben darüber einen zu grossen Einfluss. Eine systematisierte Begabungs- und Talentförderung ist deshalb eine grosse Herausforderung.
Potenzialförderung ist eine gesetzlich verankerte Pflicht
Dass Stichworte wie Talente, Begabungen, Expertise, Leistungsexzellenz – oder wie immer man Potenziale nennen will – Eingang in den Berufsbildungsdiskurs gefunden haben, ist glücklicherweise auch eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes. Die in Art. 18 und Art. 21b festgehaltene Förderung von leistungsstarken Berufslernenden weist der Ausbildung des Nachwuchses eine grundlegende Bedeutung und den Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben eine spezifische Verantwortung und damit einhergehend eine entsprechende Innovationsbereitschaft zu. Berufliche Begabten- und Talentförderung ist damit zu einer wichtigen, berufspädagogischen Aufgabe geworden. Auch der Bundesrat hat verschiedentlich von der Ausschöpfung der Begabtenreserve in der Schweizer Berufsbildung gesprochen.
Somit hat die Berufsbildung eine gesetzlich verankerte Pflicht, Potenziale zu fördern. Diese Pflicht wird vor allem deshalb eine Herausforderung, weil Begabungen und Talente nicht per se an guten Schulnoten und hohen Schulabschlüssen erkennbar sind, sondern spezifisch gesucht, erkannt, anerkannt und gefördert werden müssen. Dies ist insofern bedeutsam, als es viele an sich begabte Jugendliche gibt, die aufgrund ihrer Schulmüdigkeit nicht automatisch den gymnasialen Weg wählen. Solche «Aussteiger» sind in den letzten Jahren eher zahlreicher geworden. Sie gehören häufig nicht zu den sehr guten, sondern erstaunlich oft zu den mittelmässigen oder schlechten Schülerinnen und Schülern, zu den «Minderleistern», die signifikant schlechtere Schulleistungen erbringen, als man dies von ihnen aufgrund ihres intellektuellen Potenzials eigentlich erwarten würde.[4]
An der achten nationalen Lehrstellenkonferenz am 23. November 2012 in Martigny wurden bildungspolitische Massnahmen beschlossen, welche für die Ausschöpfung von Begabungsreserven bedeutsam sind: die Entdeckung des Potenzials von jungen Migrantinnen und Migranten, die Motivierung junger Frauen für technische Berufe sowie die Nachholbildung für Menschen mit praktischer Erfahrung aber ohne Berufsabschluss. Solche Massnahmen lassen sich auch mit unseren Forschungsstudien legitimieren.
Die Defizitorientierung dominiert
In der Praxis sieht es allerdings etwas anders aus. Folgt man unseren empirischen Daten, so setzen heute noch relativ wenige Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe die Idee systematischer Talentförderung, in die Praxis um. Eine grosse Mehrheit orientiert sich nach wie vor am Ungenügen der Jugendlichen respektive an deren Leistungsschwächen. Ein Umdenken in den Köpfen ist deshalb für die Berufsbildung die grösste zukünftige Herausforderung. Dabei versteht sich von selbst, dass man nicht von der Qualität der beruflichen Ausbildung sprechen, gleichzeitig jedoch vor allem nur das Negative im Blick haben und die fehlenden leistungsstarken Jugendlichen beklagen kann.
Die Sicherung von Könnerschaft im Berufshandwerk ist heute wichtiger denn je. Deshalb darf der Königsweg der Begabten- und Talentförderung nicht weiterhin in erster Linie Akademia heissen. Die letzten Jahre haben nämlich mehr als deutlich gezeigt, dass die Berufsbildung immer stärker in Gefahr gerät, zum Durchgangsstadium von Akademikerkarrieren zu werden und schulisch qualifizierte Jugendliche nach der Berufsausbildung in ein Fachhochschulstudium abwandern. Die Höhere Berufsbildung ist dabei eindeutig ins Hintertreffen gelangt. Zukünftig wird es infolgedessen eine zentrale Herausforderung sein, die Berufsausbildung nicht nur als Zubringerin für die Fachhochschulen, sondern ebenso als Garantin der Entdeckung beruflich-praktischer Reserven und der Förderung der beruflichen Qualität in der Höheren Berufsbildung zu verstehen.
Deshalb sind gerade den Schulabgängern aus Real- und Sekundarschulen spezifische berufliche Qualifikationschancen zu ermöglichen. Obwohl sie aufgrund ihrer fachorientierten Begabungsprofile nicht in den akademischen Weg der Berufsmatura einmünden können, verfügen viele von ihnen über beträchtliche berufspraktische Talente. Gleiches gilt oft auch für benachteiligte Migrantinnen und Migranten. Mit Blick auf beide Gruppen dominieren allerdings Klagen über ihre mangelnde Ausbildungsreife sowie ihre Tendenz zu Lehrabbrüchen und damit zu fehlenden Berufsabschlüssen. Eine Folge dieser Defizitperspektive ist die Tatsache, dass Potenziale bei solchen Jugendlichen gar nicht vermutet, deshalb nicht erwartet und auch nicht gesucht werden.
Angesichts der aktuellen Entwicklung ist anzunehmen, dass Wirtschaft und Industrie zukünftig mehr denn je auf die Möglichkeit angewiesen sein werden, fachlich begabte Mitarbeitende rekrutieren zu können, die das handwerkliche Metier beherrschen und die berufliche Ausbildung nicht lediglich als Durchgangsstadium zur Fachhochschule nutzen, um dann einen anderen Beruf zu ergreifen. Ob sie Abgänger von Real- oder Sekundarschulen sind, dürfte deshalb eine unbedeutende Rolle spielen. Wesentlich ist ihr Können, das sie in der beruflichen Ausbildung haben entwickeln und unter Beweis stellen können.

Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

Unglaublich, aber wahr: In der beruflichen Grundbildung dominierten bis vor ein paar Jahren noch die Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierenden fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Denn unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Ausbildungsplätze stellen sowohl für das unternehmerische Wachstum der Betriebe als auch für die Nachwuchssicherung eine ernstzunehmende Problematik dar. Um neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses zu entwickeln, bedarf es zunächst eines differenzierteren Blicks auf die Hintergründe.
Die Berufsbildung als System zweiter Klasse?
Die aktuelle Situation ist eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demographischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 weiter sinken. Dazu kommt die Tatsache, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren müssen, diese auch bestehen. Anzunehmen ist jedoch, dass das Interesse an der akademischen Ausbildung auch in Zukunft ungebrochen sein und die Berufsbildung für viele lediglich die zweite Wahl bleiben wird. Deshalb ist ebenso davon auszugehen, dass ohne wirksame Massnahmen die absoluten Zahlen der leistungsstarken Auszubildenden, welche in die Berufsbildung eintreten, weiter sinken dürften.
Einer der Gründe liegt darin, dass Eltern heute einen enormen Drang nach hoher Bildung haben. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, setzt alles daran, dass die Kinder mindestens den gleichen Status erreichen oder, besser noch, ihn übertreffen. Und wer zu den Bildungsaufsteigern gehört, die in bessere Positionen gerutscht sind als die eigenen Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Dieser Tunnelblick hat dazu geführt, dass bei vielen Familien die Berufsbildung als System zweiter Klasse gilt.
Verborgenes Potenzial finden
Gerade, wenn es um leistungsstarke Auszubildende geht, hat sich die Berufsbildung bisher vor allem auf Jugendliche mit guten Schulnoten aus anforderungshohen Schulniveaus konzentriert. Das ist allerdings eine einseitige Strategie, weil sie verhindert, Potenziale jenseits guter Schulleistungen und Schulabschlüsse zu entdecken. Solche Potenziale sind jedoch sowohl aus einer individuellen Perspektive (die optimale Leistungsförderung jeder einzelnen Person, ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer sozialen Herkunft) als auch einer gesellschaftlichen Perspektive (Minimierung des Nachwuchs- und Fachkräftemangels) von zentraler Bedeutung für die Qualität und Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems. Es ist deshalb einseitig, wenn nicht gar falsch, den Mangel an Auszubildenden in den verschiedenen Sparten lediglich mit mehr und immer ausgefalleneren PR-Massnahmen bekämpfen zu wollen. Es braucht andere und neue Rekrutierungs- und Selektionsstrategien, welche verborgenes Potenzial sichtbar machen.
Betriebe werden sich darauf einstellen müssen, ihren Fachkräftenachwuchs auch aus den leistungsmässig schwächeren Segmenten und ebenfalls aus Jugendlichen des Übergangssystems zu rekrutieren. Gerade für KMUs erwächst daraus eine grosse Herausforderung. Sie müssen ihre Ausbildung variabler und flexibler gestalten und sich viel mehr auf Unterschiede in der Vorbildung einstellen. Allenfalls brauchen sie dafür Unterstützung.
Das Übergangssystem als neue Bildungskategorie
Der Begriff «Übergangslösung» ist wenig schmeichelhaft und meint eigentlich die Warteschlange, die sich beim Eintritt in die berufliche Ausbildung gebildet hat. Damit werden alle Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obligatorischer Schulzeit und einer Berufslehre bzw. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-pair-Stelle oder ein Praktikum. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule – Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Heute absolvieren mehr als ein Viertel der Jugendlichen ein oder mehrere Brückenangebote. Sie werden also häufig von einer Massnahme zur nächsten geschickt. Und dies in einer Zeit, in der mehr als 8 000 Lehrstellen nicht besetzt werden können. Offenbar gibt es Fehlanreize im System, sodass die Warteschlange zu einer veritablen Bildungskategorie und zu einem Massenphänomen geworden ist, das für viele mit wenig beruflichen Perspektiven, hoher Arbeitsmarktunsicherheit und erschwerter beruflicher Identitätsbildung verbunden ist. Denn Jugendliche nehmen im Durchschnitt zwei Jahre – im Kanton Genf sogar drei Jahre – Brückenangebote in Anspruch. Wenn sie somit...

Inhaltsverzeichnis

  1. Goldene Hände
  2. Vorwort
  3. Einleitung:  Jammern ist passé
  4. Kapitel 1  Herausforderungen für die Berufsbildung
  5. Kapitel 2  Talente  
  6. Kapitel 3  Lehrstellenmarketing  
  7. Kapitel 4  Attraktivität  
  8. Kapitel 5  Praktische Intelligenz  
  9. Kapitel 6  Unausgeschöpfte Talentreserven  
  10. Literatur