Christof Schneck
Management-Coaching unter besonderer Berücksichtigung narzisstischer Phänomene
Viele bekannte Autoren und Management-Vordenker sprechen von einem notwendigen transformationalen Wandel, den Organisationen und ihr Management durchlaufen müssen. Es wird sogar von einer Weltwende 20121 oder einem Evolutionssprung2 gesprochen.
Fredmund Malik, ein bekannter – durchaus auch umstrittener – Management-Berater spricht davon, dass Wirtschaft und Gesellschaft durch eine der größten Transformationen gehen müssen, die es geschichtlich je gegeben hat. Für ihn ist es nicht einfach Wandel, sondern Wandel von einer neuen logischen Dimension. Es ist ein Meta- und Megawandel, der eine Umorientierung bis in die Wurzeln erfordert. Im Zentrum dieses Wandels müssen seiner Ansicht nach die Spitzenführungen stehen, denn nur diese können die nötigen Entscheidungen richtig und rechtzeitig treffen.3
Bei der Suche nach den Wurzeln ist es nach Ansicht des Autors unbedingt erforderlich, auch bisher Unbekanntes und Unbewusstes zu berücksichtigen. Unbestreitbar und zunehmend auch immer öfter hör- und lesbar ist die Tatsache, dass narzisstische Verhaltensweisen im Management – aber sicherlich auch in der Politik – weit verbreitet sind. Es erschienen nicht nur Artikel in Zeitschriften, 4 sondern auch neue Veröffentlichungen von wissenschaftlicher Seite.5 Selbst das Manager Magazin stellte in einem Titelbeitrag die Frage: Müssen die Manager auf die Couch? – und thematisierte darin die Verbindung zwischen Narzissmus und Management.6 In diesen Veröffentlichungen wurde deutlich, dass es durchaus positive narzisstische Verhaltensweisen im Management gibt, die dem Unternehmen und seiner Steuerung förderlich sind. Es gibt aber auch viele destruktive narzisstische Verhaltensweisen von Führungskräften, die Unternehmen, ihren Mitarbeitern, ihren Kunden, der Umwelt, der Gesellschaft und letztlich manchmal auch sich selbst großen Schaden zufügen.
Bei all diesen krisenhaften Entwicklungen – sicherlich nicht nur im Management – ist es nicht verwunderlich, dass vermehrt Forderungen laut werden, dass Verantwortung tragende Manager ihre Verhaltensweisen und Entscheidungen reflektieren müssen. Fredy Hausamann, ein Schweizer Management-Coach, fordert beispielsweise, dass Manager, genauso wie Unternehmen sich regelmäßig einer externen Revision oder Piloten sich einer gesundheitlichen und fachlichen Tauglichkeitsprüfung stellen, ihr Handeln regelmäßig reflektieren müssen. Personal-Governance-Coaching – als regelmäßiges Sparring mit einem professionellen Executive Coach – sollte seiner Meinung nach als Teil einer guten Corporate Governance selbstverständlich sein und zum Standard werden.7 Wolfgang Looss antwortete mir im Rahmen eines Interviews auf die Frage, wie häufig narzisstische Phänomene als Frage- und Problemstellungen in seinen Coachings auftauchen: »Es gibt wohl kaum ein Coaching im oberen Management, wo das Thema nicht hintergründig eine Rolle spielt, das ist bei der Zielgruppe gewissermaßen tautologisch. Von daher sollte jeder Coach da theoretisch einigermaßen informiert sein.«8
Klaus Eidenschink, der sich als einer der wenigen Coaches explizit in einigen Artikeln9 mit dem Thema Narzissmus im Management auseinandergesetzt hat, antwortete mir in einem ebenfalls persönlich geführten Interview auf die Frage, für wie wichtig er die Berücksichtigung narzisstischer Phänomene im Rahmen von Coaching erachte: »Die Berücksichtigung narzisstischer Phänomene im Rahmen von Coaching erachte ich als sehr wichtig. Wer dies nicht berücksichtigt, hat sein Geld nicht verdient. Allerdings werden narzisstische Phänomene explizit so gut wie gar nicht berücksichtigt. Diejenigen, die es könnten, sind im Feld nicht unterwegs.«10 Besonders bei Klaus Eidenschink wird deutlich, von welch zentraler Bedeutung eine Berücksichtigung narzisstischer Phänomene im Coaching ist.
In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass die Berücksichtigung narzisstischer Phänomene Grundlage jedes nachhaltigen und erfolgreichen Management-Coachings sein muss und gleichzeitig Voraussetzung für den von vielen Autoren postulierten transformationalen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft ist.
Um jedoch ein Management-Coaching unter besonderer Berücksichtigung narzisstischer Phänomene durchführen zu können, stellen sich mindestens drei Fragen:
1. Was ist unter Narzissmus und narzisstischen Phänomenen überhaupt zu verstehen?
2. Welche narzisstischen Phänomene im Umfeld von Management gilt es zu berücksichtigen?
3. Wie müssen diese Phänomene in einem Management-Coaching berücksichtigt werden?
Mit der ersten Frage befasst sich der nachfolgende erste Teil, der den notwendigen Überblick über Narzissmus und narzisstische Phänomene geben soll. Mit der zweiten Frage setzt sich der zweite Teil über narzisstische Phänomene und Management auseinander. Im dritten Teil wird ein Management-Coaching unter besonderer Berücksichtigung narzisstischer Phänomene skizziert.
Teil 1: Narzissmus – ein Überblick
Bevor man sich mit dem Begriff und dem Konstrukt11 des ›Narzissmus‹ auseinandersetzt, muss man sich zuerst einmal die Frage stellen, was die evolutionsbiologischen Besonderheiten des Menschen sind, die überhaupt zur Bildung eines solchen Konstrukts geführt haben. Adolf Portmann nannte den Homo Sapiens im Vergleich mit den höchstentwickelten Säugetieren eine extrauterine Frühgeburt – ein Wesen, das zu selbstständigem Leben unfähig aus dem Uterus in die Welt geboren wird. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Schwangerschaft beim Menschen insgesamt 21 Monate – also ein Jahr länger dauern müsste, um bereits bei seiner Geburt den Entwicklungsstand der übrigen höheren Säuger zu erreichen (Portmann 1956, 49). Im ersten Lebensjahr, dem extrauterinen Frühjahr, wie Portmann es nennt, muss das Kind seine Entwicklung außerhalb des Mutterschoßes unter dem Einfluss seiner Umwelt – ›im sozialen Mutterschoß‹, für die ein solches Wesen noch völlig untauglich ist, vollenden (ebd. 68). Der Mensch bedarf daher in den ersten Lebensmonaten und Jahren einer besonderen Zuwendung.
Freud formulierte diese Tatsache schon 1926 wie folgt: »Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die meisten Tiere relativ verkürzt; er wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. … Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrensituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird« (Freud 1926, 186 f).
Der Mensch ist somit aufgrund seiner evolutionären Disposition ganz besonders der Gefahr ›früher Störungen‹ in seiner psychischen Entwicklung ausgesetzt. Narzissmus kann in seiner pathologischen Ausprägung durchaus als eine frühe Störung in der Entwicklung eines Menschen bezeichnet werden.
Historische Wurzeln des Begriffs ›Narzissmus‹
In den letzten Jahren ist vom Begriff ›Narzissmus‹ ein inflationärer und häufig auch unpräziser Gebrauch gemacht worden. Er findet dabei nicht nur in der Psychoanalyse und in den verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, sondern auch im Alltag häufig Verwendung. In der psychoanalytischen Debatte über das Thema Narzissmus herrscht auch nur über zwei Punkte Einigkeit: erstens, dass das Konzept des Narzissmus zu den wichtigsten Erkenntnissen der Psychoanalyse gehört und dass es zweitens sehr verwirrend ist. Bis heute herrschen Zweifel, ob dieser Begriff überhaupt noch eine theoretisch eindeutige Trennschärfe besitzt.
Der Mythos des Narziss
Die sprachliche Wurzel des Begriffes ›Narzissmus‹ liegt in dem griechischen Mythos des Narziss.12 Die Ursprünge des mythischen Narziss reichen weit in die griechische Geschichte zurück. Erst der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) hat in seinem Sammelwerk Metamorphosen die bis dahin überlieferten Mythen von Narziss zu einem Ganzen zusammengefasst. Im Folgenden wird die Ovidsche Version vom Narziss-Mythos in sinngemäßer und gekürzter Form wiedergegeben.13
Ovids Metamorphosen (Buch III, Vers 339–510):
Narziss war der Sohn der Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus, der einst sie im sich windenden Fluss umschlang, in seinen Wellen einschloss und vergewaltigte. Nachdem Narziss geboren war, fragte Liriope den Seher Tiresias, ob Narziss ein hohes Alter erreichen werde. Dieser sagte: »Nur, wenn er sich selbst niemals kennen gelernt haben wird.« Narziss, der schon bei seiner Geburt liebreizend war, wuchs zu einem schönen Jüngling heran, der mit 16 Jahren so schön war, dass viele Jünglinge und Mädchen ihn begehrten. Jedoch war in seiner zarten Gestalt so spröder Stolz, dass niemand ihn berühren konnte.
Die Nymphe Echo erblickte Narziss, als dieser bei der Hirsch-Jagd war. Echo, die wegen ihrer Geschwätzigkeit von der Göttin Juno mit wenig Macht über ihre Zunge bestraft worden war, konnte nicht verständlich sprechen: Von gehörten Worten konnte sie nur die letzten Worte wiedergeben. Echo sah jedoch nicht nur Narziss, der durchs abwegige Gelände streifte, auch entbrannte ihr Herz in Liebe zu ihm. Echo folgte heimlich Narziss’ Spuren. Je länger sie Narziss folgte, desto mehr wuchs ihre Liebe an. Oft wollte sie mit lieben Worten und Bitten auf ihn zukommen, doch ihre Zunge ließ dies nicht zu; sie konnte ja nur Worte wiederholen. Als Narziss sich verirrte, rief dieser: »Ist jemand hier?«, worauf Echo antwortete: »hier«. Staunend rief Narziss mit lauter Stimme »Komm!« Sich nicht täuschend von dem Widerhall sagte er, weil niemand kam: »Was fliehst du vor mir?« Vom Widerhall getäuscht, sprach er: »Lass uns hier zusammenkommen.« Echo, der nichts lieber war, antwortete: »Zusammenkommen« und trat aus dem Wald heraus, um ihre Arme um den Hals von Narziss zu legen. Dieser jedoch floh vor ihr und sagte: »Hände weg, lass die Umarmungen! Eher will ich sterben, als dir gehören.« Echo antwortete: »dir gehören«. Die verschmähte Echo versteckte sich daraufhin in den Wäldern, verbarg schamhaft ihr Gesicht im Laub und lebte in einsamen Höhlen. Durch den Liebesschmerz und Kummer verzehrte sich ihr Leib. Ihre Knochen verwandelten sich in Stein, und nur ihre Stimme blieb übrig. Verborgen in Wäldern wurde sie an keinem Berg mehr gesehen, aber alle konnten sie hören.
Ein ebenfalls von Narziss verschmähter Mann, der die Hände zum Himmel streckte, bat: »So soll es auch ihm in der Liebe ergehen, so soll auch er, was er liebt, nicht bekommen.« Die Göttin Rhamnusia, die für Rache und Groll bei Ungerechtigkeit stand, erhörte dessen Bitte und stimmte ihr zu.
Eines Tages ließ sich Narziss, von der Anstrengung der Jagd und durch die Hitze erschöpft, am Ufer einer Quelle nieder. Die Quelle war klar wie Silber und von der Natur bislang unberührt geblieben. Und als er seine Begierde nach Wasser zu stillen versuchte, wuchs ein Begehren in ihm gegenüber dem, was er in einer Welle sah: Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Schließlich stellte Narziss fest, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hatte: »Ich bin es selbst! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide.« Von Schmerz geplagt und der Erkenntnis über die Ausweglosigkeit seiner Situation gab Narziss sich mit schwindenden Kräften seinen Tränen hin, die sein Spiegelbild im Wasser trübten. Sobald er dieses im wieder beruhigten Wasser erblickte, konnte er es nicht länger ertragen: »Wie gelbes Wachs an einem schwachen Feuer und wie der morgendliche Raureif an der warmen Sonne schmilzt, so schwindet er dahin, von Liebe ausgezehrt, und langsam nagt an ihm ein verborgenes Feuer.« Echo, die den sterbenden Narziss erblickte, wurde trotz ihres Grolls auf den Jüngling vom Schmerz erfasst und echote dessen letzte Worte: »Lebe wohl!« An jener Stelle, an dem der Körper von Narziss verging, wuchs eine Blume, die safrangelb in der Mitte und von weißen Blütenblättern umsäumt war – die Narzisse.
Autoren sehen in diesem Mythos die Themen Spiegelung und (Ich-)Identität, Täuschung und Trugbild, (Selbst-)Erkenntnis und Tod, Begehren und Ablehnung, maßlose Fremd- und heillose Selbstliebe sowie das Motiv der Blume (vgl. Renger 2002, 1).
Bärbel Wardetzki, eine bekannte Autorin und Psychotherapeutin – speziell zum weiblichen Narzissmus – interpretiert den Mythos des Narziss aus der Beziehungsperspektive zu Vater und Mutter. Für sie hat Narziss einen unerreichbaren Vater, der als Flussgott dem wässrigen, immer im Fließen begriffenen Element entstammt. Er ist dadurch ungreifbar, bezieht nicht Stellung und ist gewalttätig. Seine Mutter, die junge leichtfüßige Nymphe, bietet ihrer Ansicht nach nur wenig umsorgende Mütterlichkeit und idealisiert den Sohn entweder oder macht ihn zum Partnerersatz. Er ist ihrer Launenhaftigkeit und Unbeständigkeit ausgeliefert. Ihrer Interpretation folgend ist eine mangelhafte Bindung die Grundlage der Beziehungsstörung und des Identitätsverlustes des Narziss. Seine Beziehungen bestehen für Wardetzki hauptsächlich auf Bewunderung und Äußerlichkeiten. Ihnen fehlt ihrer Ansicht nach die Tiefe, die Narziss durch die Ablehnung jeglicher Liebe und Nähe selbst verhindert. Er zieht sich stattdessen – in narzisstischer Manier – auf sich selbst zurück (vgl. Wardetzki 2010, 36).
Freud erwähnte den Begriff ›Narzissmus‹ erstmals am 10. November 1909 auf einem Vortragsabend der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Er postulierte, dass der Narzissmus ein notwendiges Entwicklungsstadium des Übergangs vom Autoerotismus zur Objektliebe sei.14 Erst 1931 beschrieb Freud den ›narzisstischen Charaktertypus‹: »bei dem das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung gerichtet ist, der unabhängig und wenig eingeschüchtert ist. Dem Ich ist ein großes Maß an Aggression verfügbar, das sich in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im Liebesleben wird das Lieben vor dem Geliebt Werden bevorzugt. Menschen dieses Typus imponieren den anderen als ›Persönlichkeiten‹, sind besonders geeignet, anderen als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu übernehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das Bestehende zu schädigen« (Freud 1931, 511). Diese Beschreibung wird allgemein als die erste grundlegende Definition der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung angesehen.
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