Die Burnout Lüge
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Die Burnout Lüge

Was uns wirklich schwächt und wie wir stark bleiben

  1. 224 Seiten
  2. German
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Die Burnout Lüge

Was uns wirklich schwächt und wie wir stark bleiben

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Über dieses Buch

Die Art von Burnout, die unser Gesundheitssystem immer öfter diagnostiziert, gibt es in Wirklichkeit nicht. Das Phänomen Burnout ist eine Erfindung der Gesellschaft, die sich damit nicht dem wahren Problem stellen muss: Wir haben die Kontrolle und Reglementierung der Lebendigkeit auf die Spitze getrieben. Burnout-Patienten sind Vorreiter eines Systemcrashs, doch wir sehen die Warnung nicht. Die Gesundheits- und Wellnessindustrie verdient viel Geld mit der Diagnose Burnout, doch sie macht alles nur noch schlimmer. Denn Ruhe, Entspannung und Ausgliederung aus der Arbeitswelt sind der falsche Weg. Work, pray, love!, empfiehlt die renommierte Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger zur Vorsorge und Heilung: Wir müssen das, was Leben ausmacht, das Dynamische, Unvorhergesehene, Herausfordernde, wieder zulassen.

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Information

Und wo sind wir heute in unserer schönen, neuen, bunten Welt angekommen?

Unsere Kinder sind unbeherrschbare Tyrannen (so Michael Winterhoff in seinem gleichnamigen Buch) und auch sonst nicht ganz auf der Höhe. Zumindest sieht es danach aus, wenn man die europäischen Jugendgesundheitsberichte halbwegs aufmerksam zur Kenntnis nimmt, die bei bis zu 12 Prozent der Kinder Vorstufenbefunde für spätere chronische Erkrankungen in der Größenordnung von Diabetes mellitus, apoplektischem Insult oder koronarer Herzkrankheit erheben. Mit Autismus assoziierte Syndrome und Verhaltensoriginalitäten, eine deutliche Zunahme von Persönlichkeitsstörungen, allen voran jene der narzisstischen Art, kämpfen miteinander um die Spitze im Ranking. Der Rest der Jugend will in erster Linie einmal „chillen“, bevor er über das leidige Thema Arbeit nachdenkt, denn das Beispiel der Elterngeneration scheint, zumindest als durchgehendes Modell, wenig Attraktivität entfalten zu können. Es hat fast den Anschein, als wären unsere Kinder und Jugendlichen faul, fett, krank, wehleidig, persönlichkeitsgestört sowie leistungs- und verantwortungsverweigernd wie noch keine Generation vor ihnen. Doch Achtung: Die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hält uns als Gesellschaft die Auswirkungen unserer Sozialisierungsarbeit wie einen Spiegel vor Augen. Wie wir im Umgang mit unseren Kindern auftreten, mit welchen Werten, Haltungen und Überzeugungen wir also sozusagen „in den Wald rufen“, so schallt es uns als Fleisch und (Un-)Geist gewordene Realität in Gestalt der noch ungeschliffenen Lebenshaltung unserer Jugend wieder entgegen. Und die Jugend scheint die „Message“ von „Konsum macht happy“ geschnallt zu haben. Fast ist man geneigt zu sagen: Egal, zu welchem Preis, wenn man sich ansieht, dass bereits etwa ein Fünftel der Privatinsolvenzen in Österreich in die Altersgruppe 18–24 Jahre fallen. Kaum geschäftsfähig und schon im Konkurs. Dem kann man bei ungebremstem Konsumwunsch und einer hochgedrehten Begehrlichkeitsindustrie ja dann damit zu entkommen versuchen, dass man den Kriterienbaum für die Berufswahl und damit für die Tätigkeit, die einen einmal ernähren können soll, möglichst überblickbar und eindeutig gestaltet.
Zum wichtigsten Auswahlfaktor für die Berufswahl ist folgerichtig unter jungen Menschen der Verdienst geworden. Viel Kohle soll der Job bringen und das in möglichst wenig Zeit, wenn geht. Was man dafür tun muss, solange es nicht krass anstrengend ist, rückt demgegenüber in den Hintergrund. Denkbar schlechte Karten, die wir da unserer Jugend zum Thema berufliche Sinnfindung und Befriedigung in die Hand gedrückt haben.
Eingeräumt muss hier werden, dass dies, obwohl durch eine belegbare Datenlage demonstrierbar, natürlich ein Stimmungsbild ist und nicht die allgemein gültige Charakteristik, die auf jeden jungen Menschen des neuen Jahrtausends zutrifft. Natürlich gibt es auch ungemein patente, bewusste, verantwortungsbereite, reflektierte junge Menschen, die das andere Ende des gesellschaftlichen Gummibands in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und Ernsthaftigkeit repräsentieren. Diese Exemplare sind in der Lage, weitaus reifere und tiefer gehende Überlegungen zu produzieren, was die gegenwärtige gesellschaftliche Problematik betrifft, als dies die noch obrigkeitsgläubig dressierte und in ihrer Jugend noch nicht ausreichend gehäutete Vorgeneration vermochte.
Doch glaubt man der, nicht nur hinter vorgehaltener Hand geäußerten, Einschätzung von Lehrern, die im täglichen Nahkampferleben als pädagogische Wärter querschnittsmäßig durch das Lebensfeld unserer Kinder und Jugendlichen waten, so war Klassenführung noch nie zuvor ein derartig harter Knochenjob. Und würde man das, was sie nach dem Kampfeinsatz Klassenzimmer beim Pausengespräch im Lehrerzimmer so äußern, für bare Münze nehmen, so müsste man ernsthaft ins Grübeln kommen – nicht nur über die Berufsgruppe der Lehrer, wie es gerade modern ist. Faktum scheint zu sein, dass die Gruppe jener, die bereit sind, ihr Leben in friedlicher Symbiose mit ihrer Spielkonsole, einem Kühlschrank, ihrem Handy, dem Bankomaten, ein paar Pizzakartons und Shoppingtouren zu fristen und dabei unter Umgehung jeder sonstigen Beschäftigung oder gar Anforderung und einer damit verbundenen Sinnfindung ihre Zeit im wahrsten Sinn des Wortes zu „verspielen“, im stetigen Zunehmen begriffen ist.
Solange das Handy Saft hat und man den ganzen Tag „Bildchen streamen“ kann, „likes“ verschicken oder aber für eigenes Gepostetes einsammeln und sich damit in einem oberflächlichen sozialen Netzwerk „Geborgenheit“ vorgaukeln kann, geht alles gut. Aber wehe, man muss sich mal in einer „nicht netzabgedeckten Zone“ bewegen. Damit kann man im Handumdrehen Studiendesigns zu Panikattacken bei Jugendlichen generieren. Ob es damit zu tun hat, dass im Zeitalter der ornamentalen Bildkultur – dem sich richtig visionäre, tief schürfende Medien ja schon vor längerem vorausschauend verschrieben haben – mehr als zwanzig Prozent unserer Jugendlichen bereits funktionelle Analphabeten sind, bleibt derzeit noch unbeantwortet.
Klar ist allerdings, dass für diese große Bevölkerungsgruppe jeder Text kyrillisch anmutet. Das bleibt natürlich für die davon Betroffenen, die nach einem stark behinderten Bildungsgang nur in minderqualifizierten Berufssegmenten, von denen es zunehmend weniger gibt, Unterschlupf finden können, nicht ohne Konsequenz. Das Ganze wird auch damit nicht besser, dass es ihnen selbst zumeist gar nicht aufzufallen vermag. Beim Thema eigenständige Meinungsbildung sind nämlich jene, die selbst kaum mehr sinnerfassend und mit ausreichender Konzentrationsfähigkeit einen Text von mehr als einem Absatz lesen können, ziemlich amputiert. Denn gerade die tiefer gehende, unterschiedliche Standpunkte ausführende und abwägende Auseinandersetzung mit einem Thema braucht in umfassender Form das geschriebene Wort und nicht das in der Talkshow inszenierte Statement nach Opportunitätskriterien oder die Arena-Atmosphäre von miteinander medienwirksam ringenden Kontrahenten.
Dafür wird aber alles besser lenk- und steuerbar, zumindest solange ein „satter, konsumbeschäftigter Zustand“ erhaltbar ist: Denn wer Sprache nicht in differenzierter Form zu gebrauchen erlernt, der hat früher oder später auch ein Problem mit differenziertem eigenen Denken. Das Beziehen einer eigenen, selbstständig erarbeiteten Haltung gestaltet sich unerreichbar, da schon der Bereich der Feinwahrnehmung des eigenen Selbst in Ermangelung der dafür vorhandenen Begriffe nur mangelhaft ausgebildet ist. Wie also soll ich über ein Problem nachdenken, wenn mir letztendlich die Worte dafür fehlen, es nuanciert benennen zu können, ja wenn mir sogar die Begriffe dafür fehlen, meine eigenen Gedanken zu denken?
Die Folgen lassen sich am Beispiel eines zwölfjährigen Patienten von mir ermessen, dessen Eigenwahrnehmung so mangelhaft ausgebildet war, dass er nur mehr zwischen „cool und shit“ zu unterscheiden vermochte. Das führte dazu, dass er – ohne sich durch eine tiefere Konsequenz-Überlegung aufgehalten zu fühlen – kurz entschlossen den Zopf der vor ihm sitzenden Mitschülerin anzündete, um in den angenehmen, sprich angereizten „coolen“ Zustand zu gelangen.
Stellen wir diese sich entwickelnde Form potentialreduzierter Auseinandersetzung in Rechnung, wird öffentliche Meinungsbildung damit immer mehr zu einer Frage des „Vordenkens“ und damit der Mediendurchdringungsquote, sprich zu einer Frage der eingesetzten Finanzmittel, mittels derer sich all jene Bildchen erzeugen lassen, die uns auf allen Wahrnehmungskanälen möglichst multimodal „vollstreamen“.
Der, der zahlt, bestimmt zunehmend die gültige Wahrheit. Dass hierbei andere als dem Gemeinwohl zuträgliche Motive im Spiel sein könnten, würden nicht einmal jene, die kaum mehr lesen können, bezweifeln. Aber um herauszufinden, wo es wirklich krass ist und wo es nur um den verzeihbaren Versuch geht, ein bisschen die Rendite anzuheben, fehlen ihnen die notwendige Ausdauer und die Basiskompetenzen. Ein schleichender Prozess der Entkulturalisierung, wie er sich bei der vergleichenden Analyse von Struktur, Satzaufbau und Wortschatz von Deutschaufsätzen über die Jahrzehnte in der Einengung der Begriffsvielfalt und Simplifizierung im Satzbau von Generation zu Generation widerspiegelt. Nicht umsonst nennen sich „Lesen und Schreiben“ übrigens Kulturkompetenzen.
Aber da diese ganze Entwicklung ja auch feine, sprich angenehme, das Ego des einzelnen Konsumenten aufwertende und beschmeichelnde Komponenten hat, fühlen wir uns alle wohl in diesem weichen, warmen, geregelten, vorgedachten Konsumkokon, der uns noch dazu das Gefühl von persönlicher Wahlfreiheit vermittelt. So gerne wollen wir glauben, dass alles gut ist und nichts in unserem Leben schief gehen kann, solange wir angebotsgemäß „anderen unsere Sorgen überlassen haben“, wie eine bekannte Versicherungsfirma in ihrer Werbung erklärt. Anderen, die uns auch gleich vor unseren hartherzigen, uns schon heute nicht einmal ein Tortenstück gönnenden Kindern bewahren werden, wie uns eine andere Werbung derselben Firma vor Augen führt. Weiteren Werbebotschaften nach sollen wir uns als „Wunder Mensch“ versichern und das richtige, rechtsdrehende Joghurt mit dem so gesund klingenden Lactobazillus täglich durch unsere Eingeweide jagen.
Wenn uns dann im Brustton geübter Sprecherstimmen noch täglich vermittelt wird, „Nimm dir, was du brauchst, nur das Beste ist gut genug für dich“, so ist auch dem größten Miesepeter angesichts dieser narzisstischen Aufwertung klar, dass, den Kauf des so beworbenen Produkts vorausgesetzt, er in der besten aller Welten angekommen sein muss. Egal, wie er sich fühlen mag.
Wie ist nun der aktuelle sozialpsychologische Status der reichen Technologiegesellschaften zu sehen? Sind wir wirklich alle so glücklich, nutzen wir unsere errungene Wahlfreiheit, ohne an der Wahlverantwortung zu scheitern, und in welchen Zusammenhang ist die in den Medien reflektierte, grassierende Burnout-Epidemie dazuzusetzen?
Die letzten zwanzig Jahre, jene nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Sturz der letzten autokratischen Regime Europas, sind sozialpsychologisch gesehen mit einer Entfesselung des Egos, einem Narzissmus-Boom einhergegangen. Ein interessantes Phänomen, dem es sich lohnt, unter das Mäntelchen zu blicken. Dem renommierten Time Magazine war diese Ego-Gesellschaft erst vor wenigen Monaten die Cover Story wert, als es von der „ME ME ME“-Generation berichtete und Lebensstil und Wertewelt der sogenannten „Millennials“ beschrieb, jener nach 1980 geborenen Generation, die von Hochtechnologie und digitaler Selbstdarstellung geprägt wird und die das Steuerruder der Gesellschaft in absehbarer Zeit in ihre Hände nehmen muss.
Was hat – neben der rasanten Technologieentwicklung, mit deren atemberaubender Geschwindigkeit nur flexible User Schritt zu halten vermögen – die Gestaltung dieses neuen so selbstzentrierten Menschenbilds, das in scheinbar paradoxer Weise so häufig ins Burnout führt, in den letzten Jahrzehnten befördert?
Als das am meisten einschneidende Ereignis der letzten Jahrzehnte, das unser kollektives Selbstbewusstsein und Selbstbild in seinen unbewussten fundamentalen Schichten wohl am stärksten geprägt hat, muss retrospektiv die Aufhebung der alten globalen Polarisierung zwischen Ost und West und damit einhergehend die Entscheidung des Kampfes zwischen „Gut und Böse“ gesehen werden. Welch Jubel und freudige Ekstase hatte doch die gesamte, sich als zivilisiert ansprechende Welt ergriffen, als kein Sperrfeuer mehr das Überklettern der Mauer zu vereiteln versuchte, als die Bulldozer kamen und mit ihnen die Souvenirjäger, die die Revolution auch gleich als kommerzialisierbar erkannt hatten. Die Befreiung des Ostens wurde zum Symbol des befreiten Menschen, dem es aus seiner Position der Ohnmacht gegen die böse Staatsgewalt heraus gelungen war, die Unterdrückung durch ein autoritäres Regime triumphierend zu durchbrechen.
So wunderbar es anmutet, wenn Terror, Angst und die Macht einer Nomenklatura demontiert werden und so sehr man andererseits gegenüber der nachfolgenden Verteilungsgerechtigkeit bei der neuen marktwirtschaftlichen Aufstellung der betroffenen Länder seine Bedenken hegen kann, muss man gleichzeitig auch attestieren, dass ein derartiger Umbruch in unserem organisierten Weltgefüge nicht ohne tiefendynamische Auswirkungen für uns selbst bleiben konnte. Vor allem, da sich doch augenscheinlich der westliche Lebensstil durch den Ablauf der Geschichte als der letztendlich ideologisch überlegene erwiesen hatte. Haben wir nicht alle damals ein tiefes Bestätigungsgefühl für unseren Lebensstil, unsere Werte und damit für die zu Grunde liegenden Überzeugungen erlebt? Das Gute und Richtige, sprich die Wertehaltung des Westens und sein Wirtschaftssystem hatten über das Böse und Falsche, sprich das Systemselbstverständnis autokratischer, Menschenrechte verachtender Regime und die entsprechend unproduktive Planwirtschaft gesiegt. Es ist zutiefst befriedigend, auf der Seite der „Gewinner“ zu stehen, jener, denen die Geschichte Recht gibt, wenngleich dies vielleicht auch nur für den Moment der aktuellen Entwicklung gilt.
Das hat uns sogar so großzügig gemacht, dass in Deutschland den „Ossis“ gleich einmal ein „Begrüßungsgeld“ in die Hand gedrückt wurde, damit sie sich endlich etwas Schönes kaufen können, damit sie also die wichtigste Spielregel, nämlich zu konsumieren, gleich zu Beginn richtig auf die Reihe kriegen. Eigentlich hätten wir sie ja auch ins Theater oder zu Konzerten einladen, oder die Pforten unserer Museen öffnen können, statt die in unseren Shoppingtempeln. Der Triumph des Westens über den Osten stand also auch gleichzeitig für die Überlegenheit des Kapitalismus und materialistischen Konsumismus gegenüber der Planwirtschaft des Kommunismus. Diese Rechnung ist einfach und hat eine für jeden leicht nachvollziehbare und überprüfbare Legitimation. Drüben im bleiblauen Werktätigenparadies war alles desolat, stumpf, düster und gebückt – herüben herrschte strahlender Sonnenschein. Und wenn nicht dieser, so jede Menge künstlicher Beleuchtung und ein riesiges Warenangebot für jeden Geschmack. In der sich daraus ergebenden und dem Selbstbild des Westens schmeichelnden Verkürzung bedeutete dies: Unser Weg ist der richtige. Kapitalismus und Konsum sind gut, ja lebenszentral. Gleichzeitig stellte sich ein Grundmisstrauen jeder Autorität gegenüber ein, die zunehmend unter den Verdacht geriet, willkürlich zu sein und damit zum Gegenstand von nicht nur lautstarker sondern auch grundsätzlicher und bisweilen bis ins Skurrile gesteigerter Hinterfragung sowie nachfolgender Demontage wurde.
Noch nie zuvor hatte sich zum Beispiel ein Radiosender erdreistet, Schüler aufzufordern, während der Sendung anzurufen, um vom besten Streich, den sie ihrem Lehrer gespielt haben, publikumswirksam und unter kommentatorischem Schulterklopfen zu berichten. Auch das Feld der „demokratischen Evaluierung“ mittels Radiobefragung, das häufig mehr den Charakter der Verhöhnung von traditionellen Autoritäten annimmt und über das ausgeschlachtete Beispiel eines versagenden Mitglieds einer Berufsgruppe einen gesamten Berufsstand mit Misstrauen oder Abwertung belegt, wurde entdeckt.
Der Einzelne, das Individuum, ausgerüstet mit seinem Anspruch, alles selbst wählen, beurteilen und entscheiden zu können, begann zunehmend als Regelfall ins Zentrum zu treten. Nicht mühselig erworbenes Fach- oder über Jahre aufgebautes Erfahrungswissen ist heute die Grundlage, um sich als moderner Mensch in einem Fachbereich oder Thema für befähigt zu halten, eine Meinung abzugeben, sondern die Kompetenz wird quasi ab origine reklamiert, alleine das spontane Interesse am Thema genügt als Legitimation. Dass damit nicht unbedingt die Besten ihres Faches Anerkennung erfahren, sondern vielfach die Dienstleistungsorientiertesten, muss als logische Konsequenz dieser gesellschaftlichen Disney-Land-Diktatur gesehen werden und betrifft weite Bereiche eines immer komplexer werdenden Lebensumfelds.
Für den selbstbestimmten modernen, konsumverliebten Menschen ist heute „nix fix“ aber alles möglich. Wir sind im Zeitalter des narzisstischen Individualismus, der narzisstischen Selbstinszenierungskultur angekommen. Jeder ist sein persönliches Kunstwerk, seine private Selbstinstallation und damit „art in progress“. Und jeder will jederzeit seine Richtung oder die Idee seiner Selbsterschöpfung verändern können, das jeweils gerade Interessante, Reizvolle in sein persönliches Mickey-Maus-Leben hineinpacken. Maximale Wahlfreiheit für die Entfaltung des individuellen Potenzials unter Nachreihung gemeinschaftlicher Interessen ist angesagt. Was schert mich, was ein anderer will? Was schert es mich, welche Konsequenzen meine Wünsche für diesen anderen haben? Die Ich-AG entwickelt sich mehr und mehr zum Normalhabitus unserer Menschwerdung. Das Menschenbild ist somit zu einem autopoietischen geworden – einem mich selbst und aus mir heraus erschaffenden. Über mir, außerhalb von mir will ich keine Grenze, keine Beschränkung mehr erleben müssen. Ich akzeptiere keine gestaltende, höhere Kraft, die auf mein Leben einwirkt, außer mir selbst.
Dass dieser krasse Verlust von Demut, Akzeptanz meiner Position und Einbindung in das Gesamtgebilde der Welt mit seinen Steuermechanismen, von Umwelt bis zu zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht ohne Friktionen und Enttäuschungen abgehen kann, liegt eigentlich auf der Hand. Wenn ich mein Leben als eine selbstdesignte, hochinteraktive Soap aufsetze, in der ich Hauptdarsteller bin und für die ich auch jede Folge mit entsprechendem Applaus für mich selbst schreiben möchte, wenn ich Beziehung als Eventkultur lebe, die mich bestätigen soll; wenn ich mir als Spezies kollektiv mit gigantischen, hypertrophen Bauprojekten unter Umgehung jeglicher ökologischer Bedenken und unter Beiziehung wirtschaftlicher Rechtfertigung Denkmäler meiner Selbstverliebtheit setze, so wird es im doch ressourcenlimitierten Raum in absehbarer Zeit sehr eng.
Ich finde mich dann am Ende, wie es die zahlreichen Beispiele der „Lebensenttäuschten“, für die dieses Konzept nicht aufgeht, demonstrieren, mit unliebsamen realen Sachzwängen konfrontiert. Und dennoch schallt der Tenor „Das Maß der Dinge will ich sein“ weiter laut durch unsere Gesellschaft und wird unseren Kindern, kaum dass sie ihren Hintern der Schwerkraft erfolgreich entziehen können, als Richtschnur vorgehalten. Auch hier unterstreicht die Datenlage zu den „Millennials“, die wie erwähnt in absehbarer Zeit das Gesellschaftsruder in die Hand nehmen sollen, die beschriebene Entwicklung: Das amerikanische National Institute of Health bescheinigt heutigen jungen Erwachsenen in ihren Zwanzigern eine dreimal so hohe Rate an narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, wie sie für heute 65-jährige erhebbar ist. Das lässt nichts Gutes ahnen, stellt man sie sich als zukünftige Führungskräfte, Entscheidungsträger oder auch nur als Gegenüber in alltäglichen Lebenssituationen vor. Diesen Sachverhalt beschreibt auch eine andere Studie an College-Studenten, der zufolge bereits im Jahr 2009 58 Prozent von ihnen höhere Punktewerte für narzisstische Persönlichkeitszüge im Verhältnis zu einer Studie von 1982 erreichten. „Millennials“ sind so von sich überzeugt und eingenommen, dass nicht nur 40 Prozent der Meinung sind, sie sollten jedes zweite Jahr unabhängig von ihrer tatsächlich messbaren Leistung befördert werden, eben einfach so, sondern 60 Prozent von ihnen auch gemäß der „National Study of Youth and Religion“ mit blauäugigem Augenaufschlag der Überzeugung anhängen, dass es keiner äußeren handlungsanleitenden und Orientierung spendenden Moral bedürfe, weil sie in jeder Situation sowieso richtig handeln würden.
Gleichzeitig bleiben diese „selbstsicheren“ Jungen wie noch keine Generation vor ihnen substantielle, sprich an die Wirtschaftsleistung der Elterngeneration angebundene Nesthocker, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein größerer Teil der 18-bis 29-Jährigen weiter bei ihren Eltern leben, statt mit einem Partner zusammenzuziehen. Eine weitere Form der „Millennials“ das Leben anzulegen, ist die des Hybriderwachsenen oder auch JoJo-Erwachsenen, der sich immer nur periodisch für die eigene Wirtschaftsleistung zuständig fühlt und in härteren Zeiten auf eine Grundversorgung durch die Altvorderen zurückgreift. Erwachsensein auf Probe, mit Rückgabegarantie sozusagen. Im Gegenzug löst die Aussicht, einmal im Job Verantwortung tragen zu müssen, zunehmend weniger Begehrlichkeit aus. 1992 strebten noch 80 Prozent der unter 23-Jährigen einen späteren Job mit größerer Verantwortung an. Zehn Jahre später, also 2002, waren es nur mehr 60 Prozent.
Das, was das Blut des Millennials wirklich in Wallung zu versetzen vermag, ist hingegen die digitale Selbstdarstellung mittels sozialer Netzwerke und Plattformen, also zum unermüdlichen Chronisten des eigenen Lebens zu werden und hierbei Bestätigung und „likes“ im virtuellen Raum einzusammeln. Man kreist als normaler Betriebsmodus beständig um sich selbst. Entsprechend ist es auch gar nicht mehr anders zu erwarten, dass, wie in der letzten Jugendwertestudie zu Tage gefördert, Sek...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Meine eigene Geschichte mit Burnout
  7. Burnout - aber wovon reden wir hier eigentlich wirklich? Der apokalyptische Reiter am Horizont
  8. Process in progress
  9. Wenn der Vorhang fällt
  10. Wer einmal auf die schiefe Bahn kommt, wird immer schneller
  11. Interdependenz - das dynamische „misfit“
  12. Die Mär vom schlechten Menschenmaterial und der miesen Organisationskultur
  13. Der Eisberg taucht auf
  14. Gesellschaft des Sinnverlusts - Gesellschaft der Entfremdung - Burnout-Gesellschaft
  15. Wer nicht mitspielen kann, wird vom Spielfeld geschickt. Ein Leben im Hinterhof
  16. Das Geschäft mit der Angst
  17. Wenn aus einem potentiellen „Burnout-Fall“ ein Systemkritiker mit Stil wird
  18. Und wo sind wir heute in unserer schönen, neuen, bunten Welt angekommen?
  19. Das falsche Konzept der Menschwerdung als wahrer Hintergrund: Menschwerdung über Angst, Kontrolle und Machtgier
  20. Was wirklich hilft und was es Zeit ist zu tun. Menschwerdung über Mut, Vertrauen und Kooperation
  21. Wie wir das leben können, was wir sind und trotzdem nicht verhungern
  22. Love - Work - Pray oder: Was der Mensch neben Selbstbewusstsein zum sinnerfüllten Leben braucht
  23. Love: Liebe ist kein Gefühl sondern eine Haltung
  24. Work: Eine neue Art von Arbeitsbegriff und Unternehmenskultur
  25. Pray: Sich aufgehoben fühlen, ganz ohne Kontrolle
  26. Nachwort