Das Gesetz des Ausgleichs
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Das Gesetz des Ausgleichs

Warum wir besser gute Menschen sind

  1. 368 Seiten
  2. German
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Das Gesetz des Ausgleichs

Warum wir besser gute Menschen sind

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Über dieses Buch

Faszinierende neue Studien aus der Medizin und der Biologie belegen: Gut zu sein in einem tieferen Sinn ist die beste Therapie gegen innere Leere, Antriebslosigkeit und Depression. Es hält jung und gesund. Andersherum rächen sich böse Taten nicht erst im nächsten Leben. Sie haben physische und psychische Folgen.Doch wie erschließen wir diese Kraftquelle für uns? Wie werden wir zu den guten Menschen, für die wir uns vielleicht schon halten? Und was heißt es eigentlich, gut zu sein? Der Arzt und Theologe Prof. DDr. Johannes Huber gibt eine überraschend einfache Anleitung für ein erfülltes Leben.

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Information

Verlag
edition a
Jahr
2020
ISBN
9783990014264

TEIL 1

WIE WIR BESSERE MENSCHEN WERDEN

Die amerikanische Forscherin Laurie Santos begeisterte Millionen Menschen mit ihrem Online-Kurs über das Wesen des Wohlbehagens. Der Psychologieprofessorin der Yale University in Connecticut war aufgefallen, dass Studenten immer häufiger Angstzustände und Depressionen mit in den Hörsaal brachten. Bleiche Gesichter, fahrige Blicke, nervöse Hände. Es herrschte eine innere Unruhe, ein Gefühl der Unrast. Viele konnten sich kaum konzentrieren, waren nicht motiviert und schnell überfordert.
Vor zwei Jahren stellte Santos das Seminar Die Wissenschaft des Wohlbefindens ins Vorlesungsverzeichnis und wurde von Studierenden auf der Suche nach Zufriedenheit und Glück elektronisch überrannt. Knapp 26 Millionen Mal riefen sie den Kurs auf. Die Geheimnisse des Innenlebens und vor allem der Weg zu innerer Ausgeglichenheit weckten mehr Neugier als jede andere Vorlesung am Campus. »Wir haben hier Handlungsbedarf«, resümierte Laurie Santos.2
Die Wissenschaftlerin erfand das Rad nicht neu, sie riet zu relativ einfachen Dingen. In den Mittelpunkt stellte sie allerdings etwas, das auf den ersten Blick so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint, in der Ellbogenmentalität, Selbstdarstellung und Egozentrik auf allen Ebenen dominieren: Wer etwas Gutes für andere tut, fühlt sich auch selbst besser. Wir kennen das von den Pfadfindern. Jeden Tag eine gute Tat, und die Seele jubelt.
Das Ganze hat einen relativ einfachen menschheitsgeschichtlichen Hintergrund. Die Evolution belohnt Verhaltensweisen, die das Überleben der Spezies sichern, zum Beispiel mit Ausschüttungen des Glückshormons Dopamin. Füreinander da zu sein, gehört zu diesen Verhaltensweisen, weil der vergleichsweise schwache Mensch Herausforderungen wie Säbelzahntiger oder andere Unbilden der Urzeit nur gemeinsam meistern konnte.
Füreinander da zu sein, wiegt uns deshalb in einem Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit. Es lässt uns besser schlafen und senkt zum Beispiel den Spiegel des Stresshormons Cortisol in unserem Blut, mit allen damit verbundenen positiven Folgen für unsere Gesundheit. Egoisten hingegen suchen mit ihrer Scheuklappenmentalität das Glück eher, als dass sie es finden.
Laurie Santos’ Ruf nach mehr Mitmenschlichkeit als Mittel zur seelischen und letztlich auch zur körperlichen Selbsttherapie war über Kontinente hinweg zu hören, wohl auch im asiatischen Staat Bhutan. Denn bereits im Jahr 1979 ging in Bhutan aus einer 200 Jahre alten Vorgeschichte der Begriff Bruttonationalglück hervor, international bekannt als Gross National Happiness. Bhutan definierte damit den Lebensstandard in breiter, humanistischer und psychologischer Weise und stellt dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, in dem es nur um Geldflüsse geht, einen ganzheitlichen Wert gegenüber.3
Eine Staatskommission ermittelt diesen Wert regelmäßig. Wie geht es der Bevölkerung? Was bewegt die Menschen? Was beschäftigt sie? Was erfreut sie. Was macht sie trübselig? Was geht ihnen zu Herzen oder auf die Nerven?
So ein Barometer der inneren Ausgeglichenheit wäre überall auf der Welt wünschenswert. Nicht nur, um das individuelle Glück der Menschen zu mehren. In einer Welt, in der Glück einen politischen Stellenwert hat, wird aus den genannten einfachen evolutionsgeschichtlichen Gründen auch das Füreinander-da-Sein als Voraussetzung dafür unverzichtbar.
Anders ausgedrückt: Ein Staat, der seine Bürger glücklich machen will, zeigt ihnen, dass sie besser gute Menschen sind. Wenn in einem Staat viele Menschen füreinander da sind, löst das fundamentale gesellschaftliche Probleme, die mit dem Narzissmus und der Vereinzelung einhergehen.
Der Ruf nach Glück, Anstand und Moral war auch schon vor Laurie Santos’ erstaunlich erfolgreicher Initiative massentauglich, doch nicht immer ist er wie bei ihr von Wahrhaftigkeit getragen. Haltung, Ethik, Menschlichkeit. Die Schlagwörter tauchen heute in Gesprächen schnell einmal auf, doch das Gutsein in einem tiefen, evolutionären und spirituellen Sinn musste dabei vielfach dem »Gutmensch-Sein« weichen, das politisch meist linke Gruppen zu einem Dogma erhoben. Mit Verhaltensvorgaben, die teilweise nicht als wesentlich erlebbar sind, aber dennoch durch den digitalen Pranger geahndet werden, was zu einer Art modernem Tugendterror führte.
Gut zu sein, darauf sollten wir uns an dieser Stelle einigen, darf kein Trend sein, mit dem sich bestimmte Gruppen schmücken. Es muss aus uns selbst kommen. Als Entscheidung. Aus Überzeugung.
»Moralische Vollendung ist nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten«, beklagte in diesem Zusammenhang der deutsche Publizist und Philosoph Alexander Grau. »Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.«
Grau fand mit leiser Ironie, dass wir aufpassen sollten, keinen moralischen Kitsch zu erzeugen, nur um vor uns selbst oder in einer Blase Gleichgesinnter gut dazustehen. Rechtschaffenheit ist kein Gütesiegel, das sich jemand anheftet wie ein Autokennzeichen oder ein Namensschild. Sie ist vielmehr ein Gut, das wachsen und in uns reifen muss und so etwas wie Seelen-Selbst-Erforschung voraussetzt, für die wir uns bewusst entscheiden müssen. Denn nur Erkenntnisse machen uns weiser und bilden eine Richtschnur, die uns auch besser macht.4
Der österreichische Schriftsteller und Journalist Robert Misik konterte Alexander Grau mit einem philosophischen Gedanken, der Hoffnung macht. »Der Mensch ist ein veränderbares Tier«, lautet er. Menschen ändern sich wie die Figuren in einem Videospiel, die neue Kräfte bekommen oder Lebenspunkte verlieren, wenn sie falsch agieren, und ihr Tun wirkt immer auf sie und auf die Welt zurück.
Wir können etwas ändern, wenn wir wollen, und unser Wirken nach einem moralischen Kompass ausrichten. Allerdings reicht es dabei nicht, Worthülsen wiederzugeben, Sprachregelungen zu befolgen und Empörungsreflexe zu zeigen, die vom modernen Gutmenschen-Dogma bestimmt sind. Wir fühlen es selbst: Das wäre zu einfach.5
Wenn wir wirklich bessere Menschen werden wollen, mit allen Vorteilen, die das zum Beispiel in Laurie Santos’ Sinne haben, müssen wir in uns gehen und es so machen wie die Wiener Philharmoniker, die ihren festen Sitz im unweit von meiner Wiener Ordination gelegenen Goldenen Saal des Musikvereins haben: Wir müssen üben, üben, üben.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches war das Üben als massentaugliche menschliche Erfolgsstrategie 1.500 Jahre lang weitgehend vergessen. Erst um 1900 entdeckten wir es wieder, dank des Pädagogen und Sportfunktionärs Pierre de Coubertin, der Muskelübungen empfahl.6 Körperliche Übungen und deren sinnvolle Effekte sind selbstverständlich für uns. Im Jahr 2019 waren rund 11,7 Millionen Menschen in einem der fast 10.000 deutschen Fitnessklubs aktiv.7 In Österreich gibt es mehr als 1.200 Studios mit mehr als einer Million Mitglieder.8
Dass sich auch unser Gutsein, also unser Charakter, durch Übung stärken lässt, hat sich weit weniger gut durchgesetzt. Dies, obwohl prominente Akteure der deutschen Geistesgeschichte das regelmäßig betonten. Rudolf Steiner oder etwa Friedrich Nietzsche taten es mit ganz ähnlicher Intention. Wir müssen den Menschen dazu bringen, gut zu sein, denn nur so kann er über sich hinauswachsen, glaubten sie.
Mario Schönhart, Herausgeber des Buches Spiel mit der Wirklichkeit: Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften bezeichnete eine dementsprechende Initiative des Philosophen Peter Sloterdijk als »alternative Athletik«, die an die Stelle eines »Sklavenaufstandes in der Moral« trete.
Diesen Gedanken, der sich auch innerlich schon viel eher nachvollziehen lässt als das Gutmenschen-Dogma mit dem Tugendterror, ist allerdings kein globaler. Er ist vor allem ein europäischer, vielleicht auch einer der westlichen Welt, dem allerdings die Version Chinas zum Gutsein gegenübersteht.

Der Zwang zum Gutsein

Uns Europäern gesteht unser Weltbild die einmalige Chance zu, Emotionen zügeln zu lernen, weniger durch äußeren Zwang als aus innerer Überzeugung. Wir können sozusagen aus freien Stücken von Henkern zu Denkern wachsen. Wir können uns, ausgehend von dem, was wir bei unserer Geburt und unserer Sozialisierung mitbekommen haben, selbst weiter sozialisieren und damit unseren Charakter individuell bilden.
In China funktioniert das anders. China hat ein System geschaffen, das den äußeren Zwang kultiviert. Sei es durch den Staatsapparat, sei es durch die Unerbittlichkeit des Internets und der digitalen Überwachungsmöglichkeiten.9
So läuft, während ich das hier schreibe, seit zwei Wochen in China die sogenannte Leerer-Teller-Kampagne, und wir Europäer können nur staunen, wie rasch es ihr offenbar gelingt, neue Verhaltensstandards zu setzen. Staatschef Xi Jinping hatte die Lebensmittelverschwendung im Lande (sicher nicht zu Unrecht) als schockierend bezeichnet und einen sparsameren Umgang mit dem Essen angemahnt. »Sorgt für ein gesellschaftliches Klima, in dem Verschwendung als beschämend gilt und Sparsamkeit als lobenswert«, sagte er.
In vielen Restaurants, in denen es bis dahin als Zeichen der Gastfreundschaft und der Großzügigkeit galt, viel mehr zu bestellen, als die Eingeladenen essen können, ist jetzt die »N-1«-Regel in Kraft. Für sechs Gäste dürfen höchstens fünf Gerichte bestellt werden. Eine Kellnerin wird als »Essensverschwendungsaufseherin« abgestellt, die sicherstellt, dass an keinem Tisch etwas übrig bleibt.
Manche Gaststätten beurteilen ihr Bedienungspersonal schon danach, ob sie es schaffen, Gästen von zu großen Bestellungen abzuraten. Andere bestrafen gleich die Gäste selbst, wenn sie nicht aufgegessen haben. Einen besonders innovativen Ansatz entwickelte dabei ein Restaurant in Changsha, das seine Kunden ermunterte, sich vor der Essensbestellung zu wiegen. Das Gewicht wurde in eine spezielle App eingespeist, die den Kunden dann eine individuell angepasste Bestellempfehlung aussprach. Nach einem Shitstorm sah sich das Restaurant allerdings veranlasst, die Waagen wieder beiseitezuschaffen.
Das Servicepersonal der Hochgeschwindigkeitszüge gibt inzwischen kleinere Portionen aus, zum selben Preis allerdings. Sogenannte »Mukbang«-Videos, eine aus Südkorea importierte, rätselhaft populäre Mode, die einsame Esser beim Vertilgen unfassbarer Fleischmengen zeigen, wurden verboten. Stattdessen sind jetzt einige der Protagonisten solcher Videos dabei zu beobachten, wie sie sich mit betont bescheidenen Menüs begnügen.
Die Kampagne schuf auch einen neuen Online-Trend bei Essens-Postings. Die Fotos zeigen nicht nur wie bisher das Essen selbst, sondern auch die leeren Teller danach.
Das der Kampagne zugrunde liegende Problem ist real. Die chinesische Sektion des WWF schätzt, dass in China 17 bis 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich weggeworfen werden. 38 Prozent des in Restaurants bestellten Essens wird entsorgt. Trotzdem macht die kollektive Erinnerung an die Zeiten Mao Zedongs, als Sparsamkeitskampagnen häufig waren und oft mit Hungersnöten einhergingen, manche Chinesen auch misstrauisch. Andere sehen die Kampagne im Zusammenhang mit Staatschef Xi Jinpings Programm, China inmitten von Handelskrieg, Corona und Flutkatastrophen autarker zu machen. Selbst beim »leeren Teller«, schrieb die Parteizeitung Renmin Ribao, gehe es letztlich um die Staatssicherheit.10
Das ist eben der große kulturelle Unterschied zwischen beiden Kontinenten: In Europa können wir unser individuelles moralisches Korsett entwickeln und freiwillig gute Menschen sein (und damit in Steiners und Nietzsches Sinn über uns hinauswachsen), die Chinesen müssen bloß staatliche Regeln befolgen, um als gut zu gelten. Für kleinste Fehler wie das Überschreiten einer Straße bei Rot bekommen sie soziale Strafpunkte, die sie klassifizieren. Wer keine oder wenige Strafpunkte hat, steht in der sozialen Hierarchie weit oben und gewinnt. Wer viele hat, stürzt ab und verliert.11
Die chinesische Variante von Amazon heißt Alibaba und zählt zu den zehn erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Alibaba verkauft nicht nur Güter, sondern übt auch einen unsichtbaren Zwang aus, der dem Staat helfen soll, die Menschen zu erziehen. Es ist wie bei der Dressur eines Hundes.
Die entscheidenden Projekte dabei heißen Himmelsnetz und Adleraugen. Die schönen Worte bezeichnen ein lückenloses Überwachungssystem durch sechshundert Millionen intelligente Kameras. Diese Augen spähen 24 Stunden durch die Straßen und Gassen, sie erkennen Gesichter und errechnen Wege, speichern Gewohnheiten und melden Verfehlungen aller Art. Die Chinesen müssen sich benehmen, und es ist keine Frage ihres freien Willens, gut zu sein oder besser zu werden. Der Staat regelt das mit elektronischer Präzision und kompromissloser Härte.
Alibaba hat dabei in Kooperation mit der Regierung einen smarten Dienst in die Welt gesetzt: Sesame Credit. Der Handelsriese verleiht Geld und das System überwacht, wie verlässlich die Kreditnehmer eingegangenen Verpflichtungen nachkommen. Wieder gibt es Gut-oder Schlechtpunkte und gleichzeitig prüft Sesame Credit im Hintergrund die Vertrauenswürdigkeit aller Kunden. Wohnt sie oder er allein oder mit Familie? Wie oft wechselt jemand die Adresse? Aus solchen Daten generiert Sesame Credit dann Urteile darüber, ob jemand vertrauenswürdig oder etwa unstet ist.
Dazu kommen Detailfragen und Analysen. Was kauft jemand? Windeln? Hervorragend, ein Hausmann oder eine Hausfrau. Gut. Videospiele? Verdächtig. Schlecht. Alkohol? Alles klar. Tabletten in der Online-Apotheke? Welche denn? Kauft er Bücher? Romane oder politische Bücher? Streamt er amerikanische Serien? Ist jemand Romantiker? Kauft er oder sie Blumen, Parfüms, Gutscheine oder Schmuck? Schaut er oder sie Pornos? Inwieweit sind über jemanden ausreichend Daten vorhanden, und wenn nicht, warum nicht? Was hat er oder sie zu verbergen? Nimmt dieser Mensch die Annehmlichkeiten der Digitalisierung an oder weigert er sich, elektronisch zu kooperieren? Was macht er beruflich? Schreibt er einen Blog? Ist er öffentlich präsent? Übt er womöglich Systemkritik? Oder treibt jemand aus seiner Familie oder aus seinem Freundeskreis etwas, das verdächtig sein könnte?
Ob damit gute Menschen oder nur gehorsame erzeugt werden, ist allerdings fraglich. Denn Gewalttaten sind in China, wie neueste Zahlen zeigen, keine Seltenheit. So etwa ist dort Gewalt gegen Ärzte ein verbreitetes Problem, für das es sogar einen eigenen Begriff gibt: Yinao. Zu den Ursachen zählen mangelndes Vertrauen in das Gesundheitssystem, die Annahme, ein verstorbener Angehöriger sei nicht gut genug versorgt worden, aber teils auch der Versuch, Entschädigungszahlungen zu erpressen.12
Das ist der zentrale ethische Unterschied zwischen Europa und China. Gut sein gemäß einer eigenen besseren Vision von sich selbst und durch eigene Erkenntnis versus gut sein nach einem staatlichen Muster mit staatlichem Zwang.
Was funktioniert besser? Was lässt mehr Menschen über sich hinauswachsen? Was macht die Individuen und den Staat, den sie bilden, stärker? Was davon führt im besten Fall zu nachhaltiger Stärke und was nur zu hohler Dominanz? Wir werden alle noch erleben, wie sich der Wettbewerb zwischen dem europäischen und dem chinesischen Weltbild weiterentwickeln wird.

Der dringende Bedarf an besseren Menschen

Europa war immer überzeugt, dass der Mensch aus freien Stücken ein Athlet im Gutsein werden kann. »Du musst dein Leben ändern«, das war bereits vor Jahrzehnten das ethische Postulat des bereits genannten Philosophen Peter Sloterdijk, der damit den Schlussvers des 1908 in Paris entstandenen Sonetts Rainer Maria Rilkes Archaischer Torso Apollos zitierte.13 Die Übung darin b...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Was Sie erwartet
  7. TEIL 1 - Wie wir bessere Menschen werden
  8. TEIL 2 - Gut sein lohnt sich
  9. TEIL 3 - Die Anatomie der Ethik
  10. EPILOG - Der Kardinal, der Kanzler und das ewige Leben
  11. ANMERKUNG
  12. NACHWORT VON PETER SLOTERDIJK - Von der Unwahrscheinlichkeit des Menschen
  13. QUELLEN
  14. Leseempfehlungen