1 Wahn und Wirklichkeit: Zum Umgang mit Verschwörungstheorien
Die ersten Wochen und Monate der Corona-Krise haben viele Menschen als verwirrenden, beängstigenden Schockzustand erlebt. Mancher fühlte sich wie in einen Alptraum versetzt, dem man machtlos ausgeliefert ist und der einfach kein Ende nehmen will.1 Alles wirkte irreal. Wie konnte es sein, dass in so kurzer Zeit die grundlegendsten Regeln des Miteinanders überall auf der Welt aufgehoben wurden? Und das alles wegen eines Virus? War das zu glauben?
Es überrascht nicht, dass in der Krise die unterschiedlichsten Theorien und Erklärungsversuche kursieren und Millionen von Anhängern finden. Jeder versucht auf seine Weise, sich auf das hereinbrechende Chaos und die alles durchdringende Angst einen Reim machen. Ist am Ende alles geplant gewesen? Steckt Bill Gates dahinter? Wozu die Massenimpfung? Was soll die Tracing-App? Wird nun eine weltweite totalitäre Ordnung etabliert, in der die Technologiekonzerne vollständig die Macht übernehmen? Haben die USA ihren Hauptkonkurrenten China mit einer Biowaffe angegriffen? Hat China im Geheimen zurückgeschlagen? Wird die Globalisierung jetzt »abgeschaltet«, um China »den Stecker zu ziehen«? Was ist überhaupt noch wahr? Und wem kann man glauben? Der Regierung? Der ARD? Oder doch eher den »Alternativmedien«?
Angesichts solcher Fragen und Theorien wächst in der Öffentlichkeit die Sorge vor einer neuen Irrationalität. Zur Angst vor dem Virus gesellt sich die Furcht vor der Ausbreitung eines schillernden Wahns, der die Köpfe erfasst und verwirrt, besonders in Gestalt von sogenannten Verschwörungstheorien. »Die Welt scheint verrückt geworden zu sein«, konstatiert der Autor Andreas Wehr und schildert, wie er solche Theorien wahrnimmt:
»Nicht das Corona-Virus gelte es zu bekämpfen, sondern Bill Gates mit seiner Stiftung. Nicht das Fehlen eines Impfstoffs gegen die neue Krankheit COVID-19 sei das Problem, sondern Impfungen sind des Teufels. Nicht die Angriffe eines Trump auf die WHO sind verwerflich, sondern die angebliche Zusammenarbeit dieser Organisation mit Big Pharma. Nicht die nachlässige Haltung der Bundesregierung gegenüber der heraufziehenden Pandemie ist der Skandal, sondern die von ihr angeordneten Kontaktbeschränkungen, womit sie die eigene Bevölkerung in Geiselhaft genommen habe. So und ähnlich heißt es auf den Hygiene-Demonstrationen in Berlin, bei den nichtohneuns.de-Versammlungen in München, auf den Kundgebungen der Initiative Querdenken 711 in Stuttgart sowie auf Protestmärschen und Versammlungen in vielen anderen Orten des Landes. (…) Gläubige Esoteriker, unverfrorene Verschwörungsphantasten, notorische Impfgegner und Geschichtsfälscher (…) beherrschen das Feld.«2
Der Tonfall ist rau, das Thema aber alles andere als neu. Vor Verschwörungstheorien wird schon lange gewarnt, seit dem Frühjahr 2020 allerdings mit neuer Lautstärke und Vehemenz. Ganz offenkundig sind solche Ansichten aktuell zu einer großen Bedrohung geworden. Aber für wen genau? Nur für die Vernunft und die Fakten?
Der Begriff Verschwörungstheorie besitzt eine markante Besonderheit, die selten zur Sprache kommt: Er bedeutet nicht das, was er zu meinen vorgibt. Wer den Ausdruck verwendet, der beschreibt nur selten wirklich eine Theorie über eine Verschwörung. Das wäre auch wenig spektakulär. Verschwörungen gehören zum Alltag, insbesondere in der Welt der Wirtschaft, zu sehen etwa beim Dieselskandal oder bei geheimen Preisabsprachen zwischen Unternehmen, wie sie gelegentlich von hartnäckigen Ermittlern und unabhängigen Gerichten aufgedeckt werden.3 Auch politische Verschwörungen sind nichts Ungewöhnliches, nicht nur bei Staatsstreichen oder politischen Morden, sondern auch in harmloseren Situationen, wie beim Kampf um politische Posten.4 Immer wieder verabreden sich Menschen im Geheimen zu Intrigen, um etwas zu erreichen, was sich in offener, transparenter und demokratischer Arbeit nicht durchsetzen ließe. Nichts anderes sind Verschwörungen.
Für die Justiz sind sie ein häufiges Thema. Eine Verschwörungstheorie im direkten Wortsinne ist nichts anderes als eine kriminalistische Ermittlungshypothese. Bei Polizei und Staatsanwaltschaften gehören solche Hypothesen zum nüchternen, professionellen Arbeitsalltag, sind laut einem kriminalistischen Standardlehrbuch sogar »unerlässliche Grundlage (…) zur Aufklärung und Beweisführung«.5 Anders könnte man die entsprechende Kriminalität nicht bekämpfen, denn Verbrechen, insbesondere solche, an denen mehrere Täter beteiligt sind, ereignen sich nun mal selten zufällig. Verschwörungen sollen funktionieren und werden daher geplant. Zur Art dieser Planungen müssen Ermittler Theorien aufstellen – die sich im Zuge der Untersuchungen dann entweder als falsch oder aber als belegbar erweisen können. So simpel, so banal.
Nicht zufällig bezeichnet im Englischen das Wort Verschwörung (conspiracy) die Verabredung zu einem Verbrechen. Sowohl in Großbritannien als auch in den USA wird eine Verschwörung als Straftat verfolgt.6 Daher bedeutet eine Verschwörungstheorie in diesen Ländern immer auch die Unterstellung, die Akteure seien Verbrecher, die vor Gericht gehörten. Diese strafrechtliche Dimension hat das Wort im Deutschen nicht, wenngleich der Sachverhalt in ähnlicher Weise auch in Deutschland strafbar ist. So heißt es in Paragraf 129 des Strafgesetzbuches (»Bildung krimineller Vereinigungen«), dass bestraft werde, »wer sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist«. Paragraf 30 zufolge (»Versuch der Beteiligung«) wird außerdem bestraft, »wer sich mit einem anderen verabredet, ein Verbrechen zu begehen«. Allerdings wird diese Norm im deutschen Justizalltag kaum angewandt und es kommt nur selten zu Anklagen.7
Doch diese direkte Wortbedeutung der Verschwörungstheorie als »Vermutung über eine Verabredung zu einer strafbaren Intrige« hat nur wenig damit zu tun, wie der Begriff heute tatsächlich verwendet wird. Es geht meist gar nicht um Wahr oder Falsch oder überhaupt eine ergebnisoffene Beweissuche. Vielmehr werden Verschwörungstheorien von vornherein pauschal als wahnhaft gedeutet und damit als eine Sonderkategorie dummen, unaufgeklärten, wenn nicht krankhaften Denkens. Diese Bedeutungsverschiebung ist bemerkenswert und wird selten diskutiert. In der heute üblichen Verwendung des Wortes können sich Verschwörungstheorien gar nicht als wahr oder falsch erweisen, da sie per Definition bereits vor ihrer Überprüfung falsch sind!8 Der amerikanische Medienwissenschaftler Jack Bratich schreibt:
»Verschwörungstheorien erreichen nicht die Schwelle der Akzeptanz, überhaupt auch nur überprüft zu werden und damit widerlegbar zu sein. Wenn der Geist diejenige Sphäre ist, die zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden kann, dann sind Verschwörungstheorien außerhalb dieser Sphäre. Sie sind para (griechisch: gegen) nous (den Verstand). Sie sind paranoid.«9
Wer anderen, zum Beispiel Corona-Demonstranten, die Verbreitung solcher Ansichten vorwirft, der hält sich selbst für geistig gesünder, klüger und aufgeklärter. Da Verschwörungstheorien paranoider Unsinn seien, so die Annahme, müsse man sich mit ihnen auch nicht im Detail auseinandersetzen. Das sei schon deshalb nicht angeraten, da Verschwörungstheoretiker zudem noch unbelehrbar seien, eine Diskussion mit ihnen also reine Zeitverschwendung.
Allerdings könne man solche Theorien, so die Kritiker, auch nicht bloß als lächerliche Kuriositäten abtun. Besonders in Krisenzeiten seien sie brandgefährlich. Sie führten dann zu einem allgemeinen Misstrauen und Zweifel an den guten Absichten der Regierung und überhaupt der Eliten. Wenn dieses Misstrauen gegenüber den Oberen immer weiter befeuert werde und irgendwann überkoche, dann gerate das Land aus dem Gleichgewicht und drohe im Chaos zu versinken.
Aus diesem Grund müsse man diejenigen Menschen, die noch für rationale Argumente zugänglich seien, nachdrücklich über die Gefahren aufklären, die Übrigen aber, die schon zu weit abgedriftet seien, energisch bekämpfen und aus dem öffentlichen Debattenraum verbannen, damit ihr »Gift« nicht weiter zerstörerisch auf die Gesellschaft einwirken könne.
Die hier skizzierte Haltung ist weit verbreitet, besonders unter Intellektuellen und Meinungsführern. Sie fußt auf einigen Grundannahmen, die selten offen benannt werden:
- Die herrschende Ordnung ist im Grunde eine gute Ordnung.
- Andersdenkende sind oft dümmer.
- Menschen bedürfen der Lenkung, besonders bei ihrer Meinungsbildung.
An diesen Annahmen, die tief in die Verschwörungstheorie-Debatte eingewoben sind – so tief, dass sie vielen Menschen nicht mehr bewusst zu sein scheinen –, fällt vor allem eines auf: ihre autoritäre und obrigkeitsstaatliche Prägung. Liberal, pluralistisch und demokratisch wäre eigentlich die genau entgegengesetzte Haltung:
- Die herrschende Ordnung ist in Zweifel zu ziehen.
- Andersdenkende könnten klüger sein. Sie sind zu respektieren und auf Augenhöhe zu behandeln.
- Menschen sollten sich ihres Verstandes ohne fremde Anleitung bedienen.
Die Debatte über Verschwörungstheorien ist aus diesem Grund immer auch eine Debatte über das eigene Menschenbild und Politikverständnis. Die große Gegenthese der Verschwörungstheorie-Warner lautet, dass politische Verschwörungen grundsätzlich unplausibel seien, dass niemand sich verschwöre und fast alles entweder Zufall oder Ergebnis chaotischer, nicht steuerbarer Prozesse sei. Man könnte die Anhänger dieser Sichtweise daher auch als »Zufallstheoretiker« bezeichnen, soweit sie versuchen, den Lauf der Welt ohne verdeckte Planungen hinter den Kulissen zu erklären.
Auffällig ist, dass diese Zufallstheoretiker den Verschwörungstheoretikern im Denken viel näherstehen, als sie glauben. Denn die pauschale Ablehnung von Verschwörungstheorien ist, wie im vorigen Kapitel schon angesprochen, dem grundsätzlichen Glauben an Verschwörungstheorien strukturell ähnlich. Beide Denkarten sind zwei Seiten einer Medaille, sind Ausdruck desselben Wunsches nach Eindeutigkeit.
In dieser Sehnsucht nach Eindeutigkeit liegt ein großes Missverständnis. Die Welt ist weder eindeutig geplant noch eindeutig chaotisch, sondern ein schillerndes, undurchschaubar vielschichtiges, nie völlig begreifbares Geflecht aus ständig neu entstehenden und sich wieder lösenden Allianzen, aus Interessengegensätzen und Übereinstimmungen, aus strategischen Plänen und misslichen (oder auch glücklichen) Zufällen. Zu diesem Geflecht gehören Zufälle und Verschwörungen.
Geheime Intrigen sind auch nicht immer große »Weltverschwörungen«. Manchmal dauern sie bloß einige Tage und haben ein konkretes, leicht erreichbares Ziel. Manchmal währen sie aber auch Jahrzehnte, ohne aufgedeckt zu werden.10 Verschwörungen sind nicht immer erfolgreich – viele scheitern. Scheitern sie aber nicht, und das ist ein springender Punkt, dann bleiben sie naturgemäß geheim und damit unsichtbar. Deshalb, und auch wenn es banal klingen mag: Wer ehrlich an Erkenntnis interessiert ist, der sollte bei jeder Verschwörungstheorie immer wieder genau auf die Fakten schauen. Es ist nicht nur unklug, sondern regelrecht dumm, etwas von vornherein ungeprüft auszuschließen, weil es nicht in das eigene Weltbild passt und Überzeugungen in Frage stellt, denen man sich verbunden fühlt.
Ein komplexes Ereignis wie die Corona-Krise lässt sich kaum oder nur oberflächlich fassen, solange man sich und anderen das verschwörungstheoretische Denken von vornherein verbietet. Denn die Zufallstheoretiker zeichnet oft eine spezielle Denkschwäche aus: Sie tendieren dazu, das Gegebene als erwiesen hinzunehmen und die Oberfläche für die Wahrheit zu halten – »Alles ist, wie es scheint«. Was akzeptierte Autoritäten wie Minister, Leitmedien oder staatlich geprüfte Professoren verkünden, das nehmen sie eher für bare Münze, als es anzuzweifeln. Daher können sie von diesen Autoritäten auch leichter betrogen werden – leichter vor allem, als sie selbst es glauben.
Ein bekanntes Beispiel ist die New York Times-Journalistin Judith Miller (sie wird in Kapitel 3 noch einmal auftauchen), die in ihrer Arbeit immer wieder ungeprüft Informationen veröffentlichte, die ihr Geheimdienste zugetragen hatten, und die eine wichtige Rolle im Vorfeld des Irakkrieges von 2003 spielte. Ganz offen bekannte sie ihre Überzeugung, dass es gar nicht ihre Aufgabe sei, solche Interna aus Regierungskreisen zu hinterfragen – schließlich könne sie selbst ja »kein unabhängiger Geheimdienst sein«, sei also auf die Behörden angewiesen. Ihre Aufgabe sei es einfach, den Lesern zu berichten, welche Gedanken innerhalb der Regierung zirkulieren würden.11
Diese Art von Vertrauen, die man auch als eine Mischung aus Bequemlichkeit und Opportunismus bezeichnen könnte, ist in den großen Medien weit verbreitet, auch wenn wenige das so offen einräumen wie Judith Miller.
Das verschwörungstheoretische Denken ist neugieriger, misstrauischer: Es schaut hinter die Dinge, will mehr erfahren, vermutet Täuschungen, gerade auch vonseiten der Autoritäten. Eine Schwäche dieses Denkens liegt in seiner Übertreibung von Kausalitäten. Es neigt dazu, Dinge ursächlich miteinander zu verkoppeln, die vielleicht bloß lose verbunden sind. Eine andere Schwäche des verschwörungstheoretischen Denkens liegt in seiner Negativität. Wo die Zufallstheoretiker in einer relativ heilen Welt leben (die sie sich nicht kaputt machen lassen wollen), stehen die Verschwörungstheoretiker oft nur einen Schritt vor der Apokalypse – und sind daher chronisch depressiv, missmutig und alarmistisch.
Vielleicht besteht der Ausweg in einer Synthese, einer Verbindung aus beiden Denkarten, in der die hartnäckige, kri...