Thea Sternheim - Chronistin der Moderne
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Thea Sternheim - Chronistin der Moderne

Biographie

  1. 413 Seiten
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Thea Sternheim - Chronistin der Moderne

Biographie

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Über dieses Buch

Die erste Biographie von Thea Sternheim, einer unkonventionellen und herausragenden Frau des Kunst- und Kulturlebens des 20. Jahrhunderts - literarisch erzählt.Thea Sternheim stand meist im Schatten ihres Ehemanns, des umjubelten und skandalumwitterten Dramatikers Carl Sternheim. Dabei hat sie aktiv am Aufbruch der Moderne teilgenommen: als Mitarbeiterin, Muse und Mäzenin, als Sammlerin avantgardistischer Kunst von van Gogh bis Picasso, als intellektuelle Freundin zahlreicher Künstler, als Amateurfotografin berühmter Zeitgenossen, aber vor allem als hellwache Chronistin ihrer Epoche. Im Spiegel ihres Jahrhundert-Tagebuchs entfaltet sich nicht nur ein eigenständiges und unkonventionelles Frauenleben, sondern ein umfassendes Panorama der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts, das die kulturelle Blüte dieser Zeit ebenso umfasst wie die politischen Katastrophen. Vor diesem zeitgeschichtlichen Horizont erzählt Dorothea Zwirner den dramatischen Lebensweg Thea Sternheims, die in ausführlichen Zitaten zu Wort kommt.Die Biographie verläuft exzeptionell in ihrer moralischen Gradlinigkeit, ästhetischen Geschmackssicherheit und politischen Hellsichtigkeit. Zugleich ist Thea Sternheims Leben exemplarisch in ihrem weiblichen Selbstverständnis, das von Anpassung und Aufbegehren, Selbstzweifeln und Sinnsuche, Disziplin und Demut bestimmt war.Thea Sternheim (1883-1971)war von 1907 bis 1927 mit dem Schriftsteller Carl Sternheim verheiratet. Außer ihrem Jahrhundert-Tagebuch schrieb sie den Roman "Sackgassen" sowie die Erzählung "Anna", die unter dem Namen ihres Mannes erschien.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783835347717

III. Die Pariser Jahre (1932 – 1963)

Emigration nach Paris (1932–1939)
»Meine Sehnsucht ins Himmlische,
meine Lust am Schöpferischen.«

Wieder herrscht Frühling in Paris, genau wie bei Theas erster Reise 1906 mit Alfred Flechtheim, als sie noch mit Arthur verheiratet, aber längst in Carl verliebt war. Mehr als ein Vierteljahrhundert später hat Thea nicht nur ihre beiden Männer, sondern nun auch ihre deutsche Heimat früher als die meisten Emigranten aus freiem Willen und unüberwindlichem Abscheu vor dem anwachsenden Nationalsozialismus verlassen. Nichts hat sich so erfüllt wie erhofft, nur Paris ist noch immer die verheißungsvolle Stadt, die sie mit offenen Armen empfängt und für die kommenden dreißig Jahre zu ihrer Wahlheimat wird. Mit seiner liberalen Asylpraxis wird Frankreich zum Sehnsuchtsland für den größten Teil der während des Hitler-Regimes in Europa verbliebenen Flüchtlinge.[1] Von hier aus verfolgt Thea intensiv die politischen Ereignisse in Deutschland: Die Wahl Hindenburgs im April, die Abdankung Brünings als Kanzler im Mai. Thea sieht klar: »Deutschland am Gängelband eines österreichischen Anstreichers«[2], die Verwandlung Preußens zur Militärdiktatur, den Nationalsozialismus als neuen Fluch über Deutschland.[3]
Von ihren Kindern lebt Klaus bereits seit einiger Zeit hier, wenn er nicht gerade auf Reisen ist, während Mopsa und Agnes zunächst noch in Berlin bleiben, um 1933 Deutschland ebenfalls in Richtung Paris und Zürich zu verlassen. Und schließlich rückt von Paris aus auch Brüssel und damit ihr Herzenskind Herman in größere Nähe. Den jungen Mann bedrückt der notwendige Eintritt in die Fabrik seiner früh verstorbenen Eltern, weil er die unternehmerische Verantwortung scheut und sich nach einem Leben in künstlerischer Freiheit sehnt. Im Austausch über Glaubensfragen, Kunst und Literatur versucht Thea ihn zu trösten und in seiner künstlerischen Begabung zu ermutigen.
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Abb. 30: Maria van Rysselberghe, »La Petite Dame«
Außer den Kindern zählen die bereits seit zehn Jahren in Paris lebenden Masereels zu Theas ältesten Freunden, während André Gide auch generationsmäßig zu einem ihrer engsten Freunde wird. In der Rue Vaneau im 7. Arrondissement, wo Gide zusammen mit seinem Freund Marc Allégret Tür an Tür mit der belgischen Schriftstellerin Maria van Rysselberghe lebt, verkehrt die intellektuelle Elite von Paris. »La Petite Dame« (Abb. 30), wie die Frau des belgischen Malers Théo van Rysselberghe von jedermann genannt wird, ist die Vertraute, Chronistin und inoffizielle Schwiegermutter des homosexuellen Gide, der mit ihrer Tochter Elisabeth Herbart ein uneheliches Kind namens Catherine hat.[4] Im weltoffenen »Vaneau« trifft Thea den deutsch-französischen Schriftsteller Jean Schlumberger, der zusammen mit Gide die elitär-avantgardistische Literaturzeitschrift Nouvelle Revue Française gegründet hat, den Philosophen und Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen aus Berlin, die Schriftstellerin und Gide-Übersetzerin Dorothy Bussy mit ihrem Mann Simon Albert Bussy und der Tochter Jane-Simone Bussy, die beide malen. Anders als viele Schicksalsgenossen bewegt sich Thea genauso selbstverständlich unter den französischen Intellektuellen und Künstlerfreunden wie zwischen den nach Paris strömenden Emigranten. Mehr noch, sie ist die »Eternelle Entremetteuse«, die ewige Kupplerin, wie Gide seine Freundin auf Grund ihres Hangs und ihrer Begabung, geistige Anregungen zu liefern und künstlerische Kontakte zu stiften, liebevoll nennt.[5]
Das Hotel Atala in der Rue Chateaubriand nah den Champs-Élysées wird für eineinhalb Jahre zu Theas Bleibe. Das Restaurant Washington gleich um die Ecke oder das Antoine an der Seine zählen zu ihren Stammlokalen, in denen sie sich mit ihren Kindern oder Freunden zum Mittagessen trifft. Abends sind es die einschlägigen Restaurants und Kaffeehäuser am Boulevard St. Germain, das Café de Flore und das Les Deux Magots, das die Künstler, Intellektuellen und Emigranten gerne frequentieren, die Coupole am Montparnasse oder die kleinen Lokale auf dem Montmartre. Neben den täglichen Restaurantbesuchen sorgen wöchentliche Kinobesuche für Abwechslung in dem monotonen und tristen Alltag, in dem sich kein regelmäßiger Arbeitsrhythmus einstellen will.
Erst nach Monaten nimmt Thea endlich die Arbeit an ihrem Roman wieder auf. Über zehn Jahre schleppt sie sich schon mit diesem Unterfangen, das doch ihr eigentlicher Herzenswunsch ist, immer wieder unterbrochen durch die Wechselfälle ihres Lebens. In dem zwischen 1910 und 1920 in den Metropolen Brüssel und Paris angesiedelten Entwicklungsroman tauchen sie alle auf, die großen Themen ihres Lebens: die innere Zerrissenheit zwischen radikaler Leidenschaft, demütiger Anpassung und scharfsinniger Daseinsfreude verkörpert von den drei Frauenfiguren Anna, Nadja und Marie, die Liebe zur Literatur insbesondere Flauberts, die Anna mit dem Antiquar Maldeghem teilt wie bald auch die Problematik in der Ehe mit ihm, und schließlich der tiefe Glaube und Hang zur mittelalterlichen Mystik, der Anna mit dem Gelehrten Durtin verbindet – all diese Motive und Figuren münden vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges in ihren jeweiligen »Sackgassen« der Enttäuschung, Einsamkeit oder des Todes.[6]
Mit dem rechtzeitigen Entschluss zur Emigration ist Thea der tödlichen Sackgasse des Dritten Reichs entkommen. Im Oktober 1932 muss sie noch einmal nach Berlin, um nachzuweisen, dass sie keine Auslandsdeutsche ist. Sie reist über Belgien, wo sie Herman nach langer Trennung wiedersieht, der ihr seine neuesten Ölbilder zeigt. In Berlin kommt es zum Wiedersehen und Abschied von ihren russischen Freunden, von Benn, Flechtheims, Pfemferts, Agnes und Goldschmidt.
Zurück in Paris, verfolgt Thea die Entwicklung in Deutschland mit fassungsloser Verzweiflung, neben der es kaum noch Trost und Raum für andere Themen gibt. Sie liest täglich mehrere Zeitungen, deren Berichterstattung sie leidenschaftlich kommentiert, wird aber auch von ihren Freunden aus Deutschland und den mehr und mehr nach Paris strömenden Emigranten über deren tragische Einzelschicksale informiert.
Am Abend des 30. Januar 1933 notiert Thea: »Die Abendzeitungen: Hitler Reichskanzler. Diese geistige Erniedrigung fehlt noch zu allen voraufgegangenen. Sie fehlt noch! Ich gehe heim. Erbreche.«[7] Genau wie beim Kriegsausbruch 1914 und bei der Wahl Hindenburgs 1925 rebelliert Theas Magen angesichts der einschneidenden Ereignisse, deren inneren Zusammenhang sie im Nationalismus und Chauvinismus ausmacht.
Keinen Monat später verbreitet sich die nächste Schlagzeile wie ein Lauffeuer: »In Berlin ist in der vergangenen Nacht ein Teil des Reichstagsgebäudes abgebrannt. Ich brauch keine Details zu lesen, um nicht genau zu wissen, dass dies der wahrscheinlich kühl beabsichtigte Auftakt zum faszistischen Terror ist …«[8] Zu willkommen erscheint die Brandstiftung, um nicht eine Beteiligung der Nationalsozialisten nahezulegen. Und tatsächlich lässt der durch die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat« legalisierte Terror nicht lange auf sich warten:
»Ausnahmezustand, Mord und Totschlag in Deutschland. Ein Fluch lastet auf dieser Nation. […] Jedenfalls nimmt der austro-bajovarische Anstreicher von dem Henkersknecht Goering frischfröhlich unterstützt, den Irrsinn eines holländischen Maurergesellen zum Anlass, an die zweihundert kommunistische Führer einzusperren, verbietet die sozialistische, einen Teil der Zentrumspresse …«[9]
Mit willkürlichen Verhaftungen und Einschränkung der Pressefreiheit schreitet der Prozess der Machtergreifung unaufhaltsam voran und lässt Thea über die Reichstagswahl im März verzweifeln: »Nationalsozialistischer Wahlsieg. Er war erwartet und trotzdem laufen mir vor Depit die Tränen herunter.«[10] Trotz Terror und Willkür weigert sich Thea, die Mitverantwortung der Bevölkerung, sei es aus Opportunismus, Verführung oder Feigheit, zu leugnen:
»Sicher sind bei der vor sich gehenden Machtergreifung die Beweggründe der besitzenden Klasse noch abstossender, noch gemeiner als die der durch Hunger und Borniertheit verführten Massen, obwohl mein Mitleid für die Verführten und Verhetzten immer mehr nachlässt. Wenn die bitteren Erfahrungen des Krieges noch immer nicht genügten, was ist denn überhaupt imstande, die Rinde der bodenlosen deutschen Borniertheit zu durchstossen? So wie sie Wilhelm nachliefen laufen sie jetzt dem österreichischen Kleinbürger nach. Je intensiver der Leithammel missduftet, umso inbrünstiger folgt die Herde.«[11]
In diesen aufgeheizten Märztagen 1933 muss Thea noch einmal über Brüssel und München nach Berlin zurückkehren, um ihr zurückgelassenes Hypothekenvermögen zu retten. Der sie betreuende jüdische Anwalt ist jedoch bereits verhaftet, wie sich auch Pfemferts nur in letzter Minute durch Flucht nach Karlsbad der Verhaftung entziehen konnten. Zum Mittagessen bei Flechtheims rät Thea dringend, die noch verbliebenen Bilder von Picasso in die Schweiz zu schaffen, und wundert sich über »die Vertrauensseligkeit des vom nationalen Mob so scharf aufs Korn genommenen deutschen Juden, der seine Hoffnung auf Recht und Gesittung nicht aufgibt.«[12] Im Telefongespräch mit Benn fällt Thea bereits »die Feierlichkeit seiner Aussprüche auf. Beinahe fürchte ich vor solchem heiligen Ernst, es möchte doch irgend eine Saite seines Herzens unter dem Anschlag des wiedererwachenden Vaterlands hoffnungsvoll mitgebebt haben.«[13] Ihr Instinkt täuscht sie nicht.
Am Tag des Ermächtigungsgesetzes kehrt Thea unverrichteter Dinge über Brüssel zurück, wo sie wochenlang auf die Verlängerung ihres Passes warten muss. Mit Entsetzen liest sie über die ansteigende Judenhetze in Deutschland und erhält Nachricht über das Aufführungsverbot von Gides Stück Oedipus, das der Verleger Martin Mörike mit tiefer Resignation kommentiert: »Deutschland hat allem Anschein nun aufgehört, ein Kultur- und Rechtsstaat zu sein u. ist in Gefahr in völlige Barbarei zu versinken. Ich sehe in jeder Beziehung ganz düster in die Zukunft. Ein Teil der Bevölkerung ist kurzerhand entrechtet.«[14]
Auch in ihren Kindern findet sie wenig Hilfe und Trost, im Gegenteil sorgen die beiden jüngeren in ihrer Ziellosigkeit für immer neue Sorgen und Skandale. Klaus, der nicht unbegabt ist, aber nur sporadisch an einem Roman arbeitet, begibt sich im Januar zu einer Entziehungskur nach Arosa. Im Mai und im Juli unternimmt er ebenfalls Versuche, das restliche Vermögen aus Berlin zu retten, wo nichts als militärische Aufmärsche das Straßenbild bestimmen. Zwar kehrt er unversehrt, aber auch unverrichteter Dinge zurück. In seiner schwachen und unpolitischen Haltung versteht er sich so weit über Wasser zu halten, dass er sich ständig auf Reisen befindet, wenn er sich nicht gerade einer erneuten Entziehungskur unterziehen muss. Immer wieder bekennt er in ergreifender Weise seine grenzenlose Liebe zur Mutter, die mit seinem Alltagsverhalten nur schwer mithalten kann. Als einzigem und jüngsten der drei Kinder, das ohne Unterbrechung bei ihr aufgewachsen ist, noch dazu als Junge, kann er letztlich auf Theas bedingungslose Liebe und Nachgiebigkeit zählen. Demgegenüber entwickelt sich das Verhältnis zu Mopsa zu einer regelrechten Hassliebe von tragischem Ausmaß. Mit derselben Begabung zu schonungsloser Selbstanalyse ausgestattet und einer an Masochismus grenzenden Wahrheitsliebe, kann keine der anderen etwas vormachen. Und doch sind Manipulationen und Vorwürfe an der Tagesordnung. Mopsas Drogensucht, Disziplinlosigkeit und der Vergeudung ihrer Talente stehen Theas Härte, Selbstgerechtigkeit und »Walzenhaftigkeit« als Vorwurf gegenüber. Wo jedoch die Tochter in destruktiver Introspektion und Drogenabhängigkeit stagniert, folgt die Mutter mit ungeheurer Disziplin ihrem Lebensprinzip im Streben nach spiritueller Welterkenntnis und geistiger Entwicklung. Dass Mopsas Hassliebe letztlich in der Schuld und Sühne gegenüber dem Kind ihrer verhängnisvollen Affäre wurzelt, ihrer Verantwortung und Abwesenheit als Mutter, bleibt für Thea die nahezu undenkbare und unaussprechliche Ursünde ihres Lebens.
Nur in Herman findet Thea phasenweise den Seelenverwandten, mit dem sie sich in dem von Selbstzweifeln gehemmten Schaffensdrang verbunden fühlt. In ihren Briefen findet ein intensiver Austausch über die jeweilige Lektüre statt, allen voran die der Franzosen, über Montaigne und Voltaire, Flaubert und Stendhal, Nietzsches Einfluss auf Gide, aber auch Célines heftig umstrittenen Erfolgsroman Voyage au but de la nuit (1932).[15] Seine unerschrockene Reise ans Ende der Nacht bringt die tiefsten Dunkelheiten der Grande Nation ans Licht, ihren Patriotismus, Militarismus und ihre Kolonialherrlichkeit. Célines Maxime der ungeschminkten Wahrheit ist auch Theas Maxime:
»Wissen, wie scheusslich das Scheussliche, wie gemein das Gemeine ist! Nur nicht verschleiern, nicht fälschen, keine heroïsche Geste, wo nur der Vomitus am Platze ist. Schickt diesen Céline schnell nach Russland, Italien und Deutschland, nachdem er das eigene Vaterland mit solch offenen Augen bereiste.«[16]
Offenen Auges wird Thea von den politischen und privaten Katastrophen zermürbt. Sie leidet unter Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit, nächtlichen Angstzuständen und diversen Krankheiten, die in ihrer extremen Ausprägung die Kehrseite ihrer Aufnahme- und Freundschaftsfähigkeit sind.
Einige von ihren alten Freunden trifft Thea in Paris wieder, darunter auch Annette Kolb, die als engagierte Pazifistin ebenfalls 1933 emigriert, nachdem ihre Bücher geächtet und verbrannt worden sind. Am liebsten würde sie mit Thea zusammenziehen, wäre da nicht trotz der langjährigen Vertrautheit Theas Widerwillen gegen Annettes Altjüngferlichkeit und ihr Verhaftetsein im großbürgerlichen Anspruch, der sich in dünkelhafter Überheblichkeit gepaart mit geiziger Kleinlichkeit niederschlägt. Geradezu boshaft, egozentrisch und hexenhaft erscheint ihr der »minutiös kalkulierte Elitarismus«,[17] der von einer »Anämie des Herzens«[18] zeugt. Für das autobiographische Sittengemälde des Münchner Großbürgertums, das Kolb in ihrem Erfolgsroman Die Schaukel (1934) zeichnet, kann Thea nur wenig Begeisterung aufbringen.
Zum immer größer werdenden Kreis der Emigranten, mit denen sich Thea anfreundet, gehören auch Max Ernst und dessen junge Frau Marie-Berthe (Abb. 31). In ihrer großen Sympathie für den blonden Rheinländer mit den blauen Augen, den sie bereits 1929 in Berlin bei seiner Ausstellung in der Galerie Flechtheim kennengelernt hatte, begeistert sie sich für seine aktuelle Produktion der überwucherten Städte- und Waldbilder. Unter all den surrealistischen Künstlern, André Breton, Paul Éluard, Salvador Dalí, Tristan Tzara, René Crevel, ist er ihr der liebste, nicht nur auf Grund der Heimatverbundenheit im Exil, sondern auch wegen ihrer gemeinsamen Vorliebe für Grünewald, Bosch und Brueghel. Seine »seltsame Mischung von Können, Verspieltheit und Traum«[19] fasziniert Thea, die sich bei einem von zahlreichen Abendessen und Atelierbesuchen in der Rue de Plantes in Montrouge besonders für sein Bild Joie de Vivre (1936) begeistert (Abb. 32). Geradezu ansteckend wirkt die Lebensfreude der satten Grüntöne, die sie in dem schönen luftigen Atelier mit dem riesigen Balkon und dem endlosen Ausblick über Paris entdeckt. Wenn sie nur nicht so gierig und gefräßig wäre. Denn im dschungelartigen Dickicht lauert stets die Gefahr des politischen und emotionalen Chaos, in das sich auch Max Ernst und Marie-Berthe zunehmend verstricken. Trotz aller Tröstungs- und Vermittlungsversuche kann Thea in der Ehekrise der b...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. I. Kindheit, Jugend und erste Ehe (1883–1906)
  7. II. Zweite Ehe mit Carl Sternheim (1907–1927) und die Berliner Jahre (1927–1932)
  8. III. Die Pariser Jahre (1932–1963)
  9. IV. Letzte Lebensjahre in Basel (1963–1971)
  10. Anmerkungen
  11. Benutzte Quellen mit Abkürzungen
  12. Bildnachweis
  13. Register
  14. Dank