Aphorismen zur Lebensweisheit
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Aphorismen zur Lebensweisheit

  1. 144 Seiten
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Aphorismen zur Lebensweisheit

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In den 'Aphorismen zur Lebensweisheit' hat Schopenhauers philosophischer Stil, der auf Prägnanzund unmittelbare Verständlichkeit zielt, seine Vollendung erreicht. Auf der Grundlage seinesweltanschaulichen Pessimismus entwirft er hier eine Lehre des glücklichen Lebens, die zeigt, wieman in einer denkbar schlechten Welt 'erträglich' leben kann.

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KAPITEL V.

PARÄNESEN UND MAXIMEN.

Weniger noch, als irgendwo, bezwecke ich hier Vollständigkeit; da ich sonst die vielen, von Denkern aller Zeiten aufgestellten, zum Theil vortrefflichen Lebensregeln zu wiederholen haben würde, vom Theognis und Pseudo-Salomo an, bis auf den Rochefoucauld herab; wobei ich dann auch viele, schon breit getretene Gemeinplätze nicht würde vermeiden können. Mit der Vollständigkeit fällt aber auch die systematische Anordnung größtentheils weg. Ueber Beide tröste man sich damit, daß sie, in Dingen dieser Art, fast unausbleiblich die Langeweile in ihrem Gefolge haben. Ich habe bloß gegeben, was mir eben eingefallen ist, der Mittheilung werth schien und, so viel mir erinnerlich, noch nicht, wenigstens nicht ganz und eben so, gesagt worden ist, also eben nur eine Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde bereits von Andern Geleisteten.
Um jedoch in die große Mannigfaltigkeit der hieher gehörigen Ansichten und Rathschläge einige Ordnung zu bringen, will ich sie eintheilen in allgemeine, in solche, welche unser Verhalten gegen uns selbst, dann gegen Andere, und endlich gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffen.

A. ALLGEMEINE.

1) Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an, den ARISTOTELES beiläufig ausgesprochen hat, in der Nikomachäischen Ethik (VII, 12.): ο φρονιμος το αλυπον διωϰϵι, ου το ηδυ· (quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur virprudens.) Die Wahrheit desselben beruht darauf, daß aller Genuß und alles Glück negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Die Ausführung und Begründung dieses letzteren Satzes findet man in meinem Hauptwerke Bd. I, §. 58. Doch will ich denselben hier noch an einer täglich zu beobachtenden Thatsache erläutern. Wenn der ganze Leib gesund und heil ist, bis auf irgend eine kleine wunde, oder sonst schmerzende Stelle; so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins Bewußtseyn, sondern die Auf merksamkeit ist beständig auf den Schmerz der verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesammten Lebensempfindung ist aufgehoben. – Eben so, wenn alle unsere Angelegenheiten nach unserm Sinne gehn, bis auf EINE, die unsrer Absicht zuwider läuft, so kommt diese, auch wenn sie von geringer Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken häufig an sie und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach unserm Sinne gehn. – In beiden Fällen nun ist das Beeinträchtigte der Wille, ein Mal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im Streben des Menschen objektivirt, und in beiden sehn wir, daß seine Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht direkt empfunden wird, sondern höchstens auf dem Wege der Reflexion ins Bewußtseyn kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und daher sich selbst Ankündigende. Jeder Genuß besteht bloß in der Aufhebung dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer Dauer.
Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel, welche uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genüsse und Annehmlichkeiten des Lebens zu richten, sondern darauf, daß wir den zahllosen Uebeln desselben, so weit es möglich ist, entgehn. Wäre dieser Weg nicht der richtige; so müßte auch VOLTAIRE's Ausspruch, le bonheur n’est qu’un rève, et la douleur est réelle,so falsch seyn, wie er in der That wahr ist. Demnach soll auch Der, welcher das Resultat seines Lebens, in eudämonologischer Rücksicht, ziehn will, die Rechnung nicht nach den Freuden, die er genossen, sondern nach den Uebeln, denen er entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudämonologie hat mit der Belehrung anzuheben, daß ihr Name selbst ein Euphemismus ist und daß unter »glücklich leben« nur zu verstehn ist »weniger unglücklich«, also erträglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um genossen, sondern um überstanden, abgethan zu werden: dies bezeichnen auch manche Ausdrücke, wie degere vitam, vita defungi, das Italiänische si scampa cosi, das Deutsche »man muß suchen, durchzukommen«, »er wird schon durch die Welt kommen«, u. dgl. m. Ja, es ist ein Trost im Alter, daß man die Arbeit des Lebens hinter sich hat. Demnach nun hat das glückliche Loos Der, welcher sein Leben ohne übergroße Schmerzen, sowohl geistige, als körperliche, hinbringt; nicht aber Der, dem die lebhaftesten Freuden, oder die größten Genüsse zu Theil geworden. Wer nach diesen Letzteren das Glück eines Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maaßstab ergriffen. Denn die Genüsse sind und bleiben negativ: daß sie beglücken ist ein Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maaßstab des Lebensglückes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht: denn das Uebrige ist Chimäre. Hieraus nun folgt, daß man nie Genüsse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr derselben, erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Chimärisches mit einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im Gewinn, wenn man Genüsse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fällen ist es gleichgültig, ob die Schmerzen den Genüssen nachfolgen, oder vorhergehn. Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der möglichsten Schmerzlosigkeit, Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so Viele thun. Viel weniger irrt wer, mit zu finsterm Blicke, diese Welt als eine Art Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Thor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Uebel. Sollte ihm jedoch auch Dieses mißglücken; so ist es dann die Schuld des Geschicks, nicht die seiner Thorheit. So weit es ihm aber glückt, ist er nicht betrogen: denn die Uebel, denen er aus dem Wege gieng, sind höchst real. Selbst wenn er etwan ihnen zu weit aus dem Wege gegangen seyn sollte und Genüsse unnöthigerweise geopfert hätte; so ist eigentlich doch nichts verloren: denn alle Genüsse sind chimärisch, und über die Versäumniß derselben zu trauern wäre kleinlich, ja lächerlich.
Das Verkennen dieser Wahrheit, durch den Optimismus begünstigt, ist die Quelle vielen Unglücks. Während wir nämlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wünsche uns die Chimären eines Glückes vor, das gar nicht existirt, und verleiten uns sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern wir über den verlorenen schmerzlosen Zustand, der, wie ein verscherztes Paradies, hinter uns liegt, und wünschen vergeblich, das Geschehene ungeschehn machen zu können. So scheint es, als ob ein böser Dämon uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das höchste wirkliche Glück ist, stets herauslockte, durch die Gauckelbilder der Wünsche. – Unbesehens glaubt der Jüngling, die Welt sei da, um genossen zu werden, sie sei der Wohnsitz eines positiven Glückes, welches nur Die verfehlen, denen es an Geschick gebricht, sich seiner zu bemeistern. Hierin bestärken ihn Romane und Gedichte, wie auch die Gleißnerei, welche die Welt, durchgängig und überall, mit dem äußern Scheine treibt und auf die ich bald zurückkommen werde. Von nun an ist sein Leben eine, mit mehr oder weniger Ueberlegung angestellte Jagd nach dem positiven Glück, welches, als solches, aus positiven Genüssen bestehn soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, müssen in die Schanze geschlagen werden. Da führt denn diese Jagd nach einem Wilde, welches gar nicht existirt, in der Regel, zu sehr realem, positivem Unglück. Dies stellt sich ein als Schmerz, Leiden, Krankheit, Verlust, Sorge, Armuth, Schande und tausend Nöthe. Die Enttäuschung kommt zu spät. – Ist hingegen, durch Befolgung der hier in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung der Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder Noth, gerichtet; so ist das Ziel ein reales: da läßt sich etwas ausrichten, und um so mehr, je weniger dieser Plan gestört wird durch das Streben nach der Chimäre des positiven Glücks. Hiezu stimmt auch, was GÖTHE, in den Wahlverwandschaften, den für das Glück der Andern stets thätigen MITTLER sagen läßt: »Wer ein Uebel los seyn will, der weiß immer was er will: wer was besseres will, als er hat, der ist ganz staarblind.« Und dieses erinnert an den schönen französischen Ausspruch: le mieux est l’ennemi du bien. Ja, hieraus ist sogar der Grundgedanke des Kynismus abzuleiten, wie ich ihn dargelegt habe, in meinem Hauptwerke, Bd. 2. Kap. 16. Denn, was bewog die Kyniker zur Verwerfung aller Genüsse, wenn es nicht eben der Gedanke an die mit ihnen, näher oder ferner, verknüpften Schmerzen war, welchen aus dem Wege zu gehn ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener. Sie waren tief ergriffen von der Erkenntniß der Negativität des Genusses und der Positivität des Schmerzes; daher sie, konsequent, Alles thaten für die Vermeidung der Uebel, hiezu aber die völlige und absichtliche Verwerfung der Genüsse nöthig erachteten; weil sie in diesen nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern.
In Arkadien geboren, wie Schiller sagt, sind wir freilich Alle: d. h. wir treten in die Welt, voll Ansprüche auf Glück und Genuß, und hegen die thörichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, daß nichts UNSER ist, sondern Alles SEIN, indem es ein unbestrittenes Recht hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb und auf Weib und Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja, auf die Nase mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit, die Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realität haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion, noch Erwartung bedürfen. Fruchtet nun die Lehre; so hören wir auf, nach Glück und Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige, erträgliche Existenz ist und beschränken unsre Ansprüche auf diese, um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man, nicht verlange, sehr glücklich zu seyn. Dies hatte auch Göthe's Jugendfreund MERCK erkannt, da er schrieb: »die garstige Prätension an Glückseligkeit, und zwar an das Maaß, das wir uns träumen, verdirbt Alles auf dieser Welt. Wer sich davon los machen kann und nichts begehrt, als was er vor sich hat, kann sich durchschlagen« (Briefe an und von Merck, S. 100). Demnach ist es gerathen, seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u. s. f. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und Ringen nach Glück, Glanz und Genuß es ist, was die großen Unglücksfälle herbeizieht. Aber schon darum ist Jenes weise und rathsam, weil sehr unglücklich zu seyn gar leicht ist; sehr glücklich hingegen, nicht etwan schwer, sondern ganz unmöglich. Mit großem Rechte also singt der Dichter der Lebensweisheit:
Auream quisquis mediocritatem
Diligit, tutus caret obsoleti
Sordibus tecti, caret invidenda
Sobrius aula.
Saevius ventis agitatur ingens
Pinus: et celsae graviore casu
Decidunt turres: feriuntque summos
Fulgura montes.
Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten besonders erschwert, ist die schon oben erwähnte Gleißnerei der Welt, welche man daher der Jugend früh aufdecken sollte. Die allermeisten Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration, und das Wesen der Sache fehlt. Z. B. bewimpelte und bekränzte Schiffe, Kanonenschüsse, Illuminationen, Pauken und Trompeten, Jauchzen und Schreien u. s. w., dies Alles ist das Aushängeschild, die Andeutung, die Hieroglyphe der FREUDE: aber die Freude ist daselbst meistens nicht zu finden: sie allein hat beim Feste abgesagt. Wo sie sich wirklich einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet, von selbst und sans façon, ja, still herangeschlichen. Bei allen jenen Dingen hingegen ist auch der Zweck bloß, Andere glauben zu machen, hier wäre die Freude eingekehrt: dieser Schein, im Kopfe Anderer, ist die Absicht. Eben so nun fer ner sind viele geladene Gäste, in Feierkleidern, unter festlichem Empfange, das Aushängeschild der edelen, erhöhten Geselligkeit: aber statt ihrer ist, in der Regel, nur Zwang, Pein und Langeweile gekommen: denn schon wo viele Gäste sind, ist viel Pack, – und hätten sie auch sämmtlich Sterne auf der Brust. Die wirklich gute Gesellschaft nämlich ist, überall und nothwendig, sehr klein. Ueberhaupt aber tragen glänzende, rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar einen Mißton im Innern; schon weil sie dem Elend und der Dürftigkeit unsers Daseyns laut widersprechen, und der Kontrast erhöht die Wahrheit. Jedoch von außen gesehn wirkt jenes Alles: und Das war der Zweck. Ganz allerliebst sagt daher CHAMFORT: la société, les cercles, les salons, ce qu’on appelle Ie monde, est une pièce misérable, un mauvais opéra, sans intérêt, qui se soutient un peu par les machines, les costumes, et les décorations. – Desgleichen sind nun auch Akademien und philosophische Katheder das Aushängeschild, der äußere Schein der WEISHEIT: aber auch sie hat meistens abgesagt und ist ganz wo anders zu finden. – Glockengebimmel, Priesterkostüme, fromme Gebärden und fratzenhaftes Thun ist das Aushängeschild, der falsche Schein der Andacht, u. s.w. – So ist denn fast Alles in der Welt hohle Nüsse zu nennen, der Kern ist an sich selten, und noch seltener steckt er in der Schaale. Er ist ganz wo anders zu suchen und wird meistens nur zufällig gefunden.
2) Man hüte sich, das Glück seines Lebens, mittelst vieler Erfordernisse zu demselben, auf ein BREITES FUNDAMENT zu bauen: denn auf einem solchen stehend stürzt es am leichtesten ein, weil es viel mehr Unfällen Gelegenheit darbietet und diese nicht ausbleiben. Das Gebäude unsers Glückes verhält sich also, in dieser Hinsicht, umgekehrt wie alle anderen, als welche auf breitem Fundament am festesten stehn. Seine Ansprüche, im Verhältniß zu seinen Mitteln jeder Art, möglichst niedrig zu stellen, ist demnach der sicherste Weg, großem Unglück zu entgehn.
3) Ueberhaupt ist es eine der größten und häufigsten Thorheiten, daß man WEITLÄUFTIGE ANSTALTEN zum Leben macht, in welcher Art auch immer dies geschehe. Bei solchen nämlich ist zuvörderst auf ein ganzes und volles Menschenleben gerechnet; welches jedoch sehr Wenige erreichen. Sodann fällt es, selbst wenn sie so lange leben, doch für die gemachten Pläne zu kurz aus; da deren Ausführung immer sehr viel mehr Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie alle menschlichen Dinge, dem Mißlingen, den Hindernissen so vielfach ausgesetzt, daß sie sehr selten zum Ziele gebracht werden. Endlich, wenn zuletzt auch Alles erreicht wird, so waren die Umwandlungen, welche die Zeit an UNS SELBST hervorbringt, außer Acht und Rech nung gelassen; also nicht bedacht worden, daß weder zum Leisten, noch zum Genießen, unsere Fähigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten. Daher kommt es, daß wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn endlich erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, daß wir mit den Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche derweilen unvermerkt uns die Kräfte zur Ausführung desselben rauben. So geschieht es denn oft, daß der mit so langer Mühe und vieler Gefahr erworbene Ruhm uns nicht mehr genießbar ist und wir für Andere gearbeitet haben; oder auch, daß wir den durch vieljähriges Treiben und Trachten endlich erreichten Posten auszufüllen nicht mehr im Stande sind: die Dinge sind zu spät für uns gekommen. Oder auch umgekehrt, wir kommen zu spät mit den Dingen; da nämlich, wo es sich um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der Zeit hat sich geändert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an den Sachen keinen Antheil nimmt; Andere sind, auf kürzeren Wegen, uns zuvorgekommen u. s. f. Alles unter dieser Nummer Angeführte hat Horaz im Sinne, wenn er sagt:
quid aeternis minorem
Consiliis animum fatigas?
Der Anlaß zu diesem häufigen Mißgriff ist die unvermeidliche optische Täuschung des geistigen Auges, vermöge welcher das Leben, vom Eingange aus gesehn, endlos, aber wenn man vom Ende der Bahn zurückblickt, sehr kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes: denn ohne sie käme schwerlich etwas Großes zu Stande.
Ueberhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem, indem er vorwärts schreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen, als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er sich nähert. Besonders geht es mit unsern Wünschen so. Oft finden wir etwas ganz Anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir Genuß, Glück, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntniß, – ein bleibendes wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren. Dies ist auch der Gedanke, welcher im Wilheim Meister als Grundbaß durchgeht, indem dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch höherer Art ist, als alle übrigen, sogar die von Walter Scott, als welche sämmtlich nur ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der ethischen Seite auffassen. Ebenfalls in der Zauberflöte, dieser grottesken, aber bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke, in großen und groben Zügen, wie die der Theaterdeko rationen sind, symbolisirt; sogar würde er es vollkommen seyn, wenn, am Schlüsse, der Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zurückgebracht, statt ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte; hingegen seinem nothwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine Papagena würde. – Vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe: sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten zu vertauschen, und sagen endlich mit Petrarka:
Altro diletto, che 'mparar, non provo.
Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaaßen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich giebt. – Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie den Alchemisten, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver, Porzellan, Arzeneien, ja, Naturgesetze entdeckten.

B. UNSER VERHALTEN GEGEN UNS SELBST BETREFFEND.

4) Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude aufführen hilft, den Plan des Ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat; so verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und individueller dieser ist; desto mehr ist es nöthig und wohlthätig, daß der verkleinerte Grundriß desselben, der Plan, ihm bisweilen vor die Augen komme. Freilich gehört auch dazu, daß er einen kleinen Anfang in dem gnwöx σαυτον gemacht habe, also wisse, war er eigentlich, hauptsächlich und vor allem Andern will, was also für sein Glück das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem einnimmt; wie auch, daß er erkenne, welche, im Ganzen, sein Beruf, seine Rolle und sein Verhältniß zur Welt sei. Ist nun dieses bedeutender und grandioser Art; so wird der Anblick des Planes seines Lebens, im verjüngten Maaßstabe, ihn, mehr als irgend et...

Inhaltsverzeichnis

  1. Aphorismen zur Lebensweisheit
  2. DIE WICHTIGSTEN LEBENSDATEN
  3. EINLEITUNG
  4. KAPITEL I.    GRUNDEINTHEILUNG.
  5. KAPITEL II.    VON DEM, WAS EINER IST.
  6. KAPITEL III.    VON DEM, WAS EINER HAT
  7. KAPITEL IV.   VON DEM, WAS EINER VORSTELLT
  8. KAPITEL V.    PARÄNESEN UND MAXIMEN.
  9. KAPITEL VI. VOM UNTERSCHIEDE DER LEBENSALTER.