Der kunstfertige Fälscher
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Der kunstfertige Fälscher

  1. 224 Seiten
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Über dieses Buch

Maria Attanasio, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Caltagirone geboren, preisgekrönte Dichterin und Romanautorin, politisch engagierte Gymnasiallehrerin, leidenschaftliche Sizilianerin: Maria Attanasio erzählt Geschichten aus der kritisch gelebten und in Archiven, Schriften wiederentdeckten Geschichte. Sie gehört zur "sizilianischen Schule", im Verbund mit Sciascia, Camilleri, Piazzese.

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ZWEITER TEIL

Roman, das bedeutet nicht Lüge. Das Leben ist oft trügerischer als ein Roman.

P. Ciulla, Anhörung vom 23.10.1923

Fünf

»Succiu, scavàgghiu, zazzamita«14, schleudert Paolo zischelnd seinem Spiegelbild entgegen, während eine dumpfe Mitternacht seine Gedanken überschwemmt und alles unkenntlich macht. Draußen Helligkeit von vorüberratternden Straßenbahnen; Geschrei vom Fischmarkt. Staubfeines Licht dringt durch die Ritzen des Fensterladens, lässt die Augen einer Verstorbenen lebendig werden, die ihm forschend durch den Raum folgen. Er sollte ein Portrait in Öl nach diesem Foto anfertigen, aber ihre Anmaßung selbst als Tote stößt ihn ab. Alles stößt ihn ab, seit Monaten. Er versetzt dem Fensterladen einen Faustschlag: Doch der Lichtspalt erlischt nicht.
Wieder blickt er in den Spiegel: Die Verletzung auf der rechten Wange ist gänzlich vernarbt. Aber wieder beginnt das Blut zu wallen, wieder bedrängen ihn Masis aufreizende Blicke: »Komm mit zur Klippe. Lass uns zu den Felsen gehen.« Lange waren sie inmitten der Lavafelder unterwegs hinauf zu einer Grotte steil über dem Meer: immer enger aneinandergedrückt, sich immer inniger umarmend, während die Lust auf Masis Mund um sein Geschlecht wuchs.
Er bemerkte weder den Halbmond über der Silhouette Catanias mit ihren Kuppeln noch den glänzenden Streifen auf dem Meer, auch nicht die drei Männer im Rücken, die ihnen auf einmal den Weg versperrten. Dann der Schrei: »Hände weg von meinem Neffen!« Darauf ein Messerstich ins Gesicht. Einen Monat lang war er wie von Sinnen, wusste gar nichts mehr: Masi war aus dem Barbierladen, in dem er arbeitete, verschwunden; und auch der Verwandte mit dem Messer aus dem Circolo Unione. Als die Wunde sich dann langsam schloss und die Angst vor dem Skandal abebbte, kam die Anzeige bei Gericht: »Verführung und Bestechung von Minderjährigen«. Sie trug die Unterschrift von Masis Vater, den er nie kennengelernt hatte.
Eine Falle, die Verabredung mit Masi an jenem Abend — die Männer wussten genau, wo die beiden zu finden waren.
Auf hitzigen Zusammenkünften und im Riscatto hatte die linksgerichtete Jugend, Paolo an vorderster Front, den Schutzwall um De Felice Giuffrida, den jene Männer gemeinsam mit anderen üblen Gesellen bildeten, stets heftig kritisiert. Vergebens hatte Paolo vor Gericht die politische Ausrichtung des Prozesses angeprangert: Er berichtete von den fortwährenden Einschüchterungsversuchen seitens dieser Burschen — zu denen die Zeugen der Anklage gehörten — bis hin zu jenem inszenierten Zusammentreffen, das ihn politisch zum Schweigen bringen sollte. Zu achtzehn Monaten verurteilt, jedoch begnadigt, war er rasch wieder auf freiem Fuß und fand nichts als Leere um sich herum; gemieden vom eigenen Bruder, der nach seinem Ausscheiden aus der Kavallerie zu Beginn des Jahrhunderts mit seiner Ehefrau nach Catania gezogen war; im Stich gelassen von Santi, der vor Gericht zu seinen Gunsten hätte aussagen sollen, aber am Vorabend des Prozesses verschwand, um in Malta eine Stellung als Restaurator anzunehmen, die er bis dato über Monate immer wieder abgelehnt hatte.
In den ersten Monaten nach seinem Umzug nach Catania hatte sein früherer Kommilitone ihn mitgenommen, damit er ihm beim Auffrischen der Fresken in Kirchen und Palazzi zur Hand ginge, freilich ohne dass die Gattin davon wusste, die Paolo gegenüber von Anfang an Geringschätzung und Eifersucht bekundet hatte. Geld und Ehrbarkeit, das forderte sie von Santi, und Geld und Ehrbarkeit gab er ihr und setzte dafür bei Adligen und Priestern mit Schmeicheleien und Lamentieren alle Hebel in Bewegung, um sich Aufträge zu sichern. Santi war der herrischen Ehefrau mehr und mehr hörig, und so hatte er Paolo, um ihn loszuwerden, Don Stefano vorgestellt. In dessen Werkstatt arbeitete er dann auch einige Jahre lang, fertigte geduldig, unter der Aufsicht der Tochter, einer üppigen Brünetten, Gravüren an. Sie reizte ihn immerzu mit schmachtenden Blicken, Witzen und ironischen Bemerkungen. Er reagierte mit noch vielsagenderen Blicken, gewagteren Witzen, bissigerer Ironie; all das unter dem wohlwollenden Auge des Vaters, der in Paolos außerordentlicher Geschicklichkeit als Graveur für sich eine Aussicht auf leicht verdienten Wohlstand sah.
Der erste Versuch, Geld zu fälschen, beruhte auf einer Art Wette Paolos mit sich selbst — Geduld, Perfektion, Konzentration. Aber es war auch eine Offenbarung. In Erwartung der Revolution, die so nah auch wieder nicht schien, konnte er dem Staat auf seine Weise den Krieg erklären, indem er mit seiner Kunstfertigkeit und seinem Talent das Monopol der Lira brach: Unkontrolliert vervielfältigt, konnten aus den Geldscheinen Nahrung, Kleidung und kostenlos verteilte Medikamente werden. Die Fälschung der fünfundzwanzig Lire war bald aufgedeckt — aber ohne dass man auf ihn und Don Stefanos Werkstatt gekommen wäre. Das Misslingen war nicht dem mangelnden Geschick des Künstlers geschuldet, sondern Don Stefanos Geiz und der minderen Qualität seiner Gerätschaften. Auch die Verlobung währte nicht lange; in einem intimen Moment zwischen Pressen und Walzen offenbarte Caterina einen sexuellen Heißhunger, der ihn erschreckte: ein lüsterner Spalt, darauf aus ihn zu verschlingen. Bestürzt war er zurückgewichen. Die junge Frau hatte ihn von da an nicht mehr beachtet, ja sie behauptete gar vor dem Vater, Paolo habe es ihr gegenüber an Respekt fehlen lassen. Don Stefano hatte ihn fortgejagt und ihm gedroht, er solle sich ja von der Werkstatt und der Tochter fernhalten.
Paolo war ganz zu seiner Arbeit als Fotograf zurückgekehrt, zu den Zeitungsartikeln und immer bissigeren Karikaturen, um die Klüngelei, die Kompromisse, die ideologischen Abweichungen des Bürgermeisters De Felice Giuffrida zu geißeln. Und er war zurückgekehrt zum käuflichen Sex mit sehr jungen Knaben: Blinde Begierde — stärker als Malerei und Politik — lebte jedes Mal unersättlich wieder auf.
Diese Begierde ein für alle Mal auslöschen. Verschwinden. Plötzlich bricht Lärm los. Der König zieht durch die Straßen. Getrampel von Füßen. Scharren von Pferdehufen. Fanfaren und Schreie. »Es lebe Vittorio Emanuele!«, »Es lebe Sant’Agata!«, »Es lebe De Felice, unser Vater!« skandiert die Menge laut.
Auf dem Bett liegend, betrachtet Paolo mit heiterem Sinn die tänzelnden Staubpartikel im Licht. Da erinnert er sich wieder! Der König besucht das Amphitheater! Bis zum vorigen Jahr hatte es über die Jahrtausende verborgen in Dunkelheit und Stille unter der Piazza Stesicoro gelegen; und während all dieser Zeit waren Scharen von Fußgängern darüber gegangen. Vergängliche Körper, auf die keine Auferstehung wartete. In der weißen Stille seiner Gedanken ab und zu ein dumpfer schwarzer Ton: Das halbe Röhrchen Veronal, das er mit einem Glas Anisschnaps hinunterschluckt, ist für den langen Schlaf, zu dem er sich ohne Bedauern und ohne Reue auf den Weg macht, nicht genug. Wochen, Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende zwischen Schlafen und Wachen.
Er sinkt hinab, treibt nach oben, sinkt wieder hinab, von der Macht der enger werdenden Kreise im Brunnen gepackt, über den er sich als Kind beugte und dann atemlos auf die Felder floh. Auf der Flucht vor dem finsteren Geist, der ihn hinabziehen wollte in die Tiefe.
Wieder treibt er nach oben: Das ferne Stimmengewirr außerhalb seines Körpers wird zu einem immer rascheren Hämmern an der Tür; zu einer Stimme, die durch die dichte Hülle seiner Sinne dringt, in den Halbschlaf seiner Gedanken; die Stimme gelangt an sein Ohr. »Ich bin’s, Masi! Mach mir auf!«
Mit einem Schlag war Paolo hellwach. »Was führt ihn wohl hierher?«, dachte er bestürzt, wieder klarer im Kopf. Stocksteif, wie aus Holz, rollte er aus dem Bett auf den Fußboden und tastete sich, auf die Möbel gestützt, bis zur Tür. Öffnete sie. Und fiel, wie tot, vor Masis entsetzten Augen zu Boden.
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Einen Monat später saßen Paolo und Masi im überfüllten Zug nach Rom und folgten von ihren Fensterplätzen aus dem vorüberziehenden Blau des Meeres von Neapel. In Rom dann der Zug nach Paris. Eine Reise, von der er mit Santi geträumt hatte, auch mit Turi, eine Reise zur Weltausstellung anlässlich des hundertsten Jahrestags der Revolution. Aber Paris war ein abstrakter Wunsch nach Kunst und Freiheit geblieben, der ihn ein Jahr zuvor mit dem Jubel über die nun anerkannte Unschuld von Dreyfus immer drängender ergriffen hatte: die Trinkgläser immer wieder gefüllt und die Marseillaise bis zum Morgengrauen mit den Kameraden auf den Straßen von Catania geschmettert; das heftige Verlangen, in Frankreich zu sein.
Dann, während er den dösenden Masi betrachtete, der sich mit hängendem Kopf gegen die Rückenlehne schmiegte, dachte er an die schlummernden Leben, verborgen in jedem Bewusstsein, die die Menschen an ihren Arbeitsplätzen, auf den Straßen und Cafés mit sich herumtragen; eine bloße Geste, eine kleine Veränderung der Alltagsgewohnheiten würden genügen, um sie aufzuwecken und von dem Leben, das sie leben, wegzuführen, hin zu dem anderen, dem erträumten. Stattdessen harren sie aus, aus Feigheit, ohne Ziel und niedergeschlagen, in dem Schicksal genannten Leben: das manchmal scheitert, wie das seine gescheitert war. Bis Masi unerwartet an seine Tür gehämmert hatte.
Er erinnerte sich weder an das Hämmern noch an die beschwerliche Kutschfahrt zum Hospital durch die Straßen, wo sich die Bürger aus der Stadt und der Provinz drängten, um den König zu sehen.
Nach fünf Tagen war er aus dem Koma erwacht und fühlte sich wie neugeboren, und es gelang ihm, die abgerissenen Verbindungen zu seiner Kunst, die er in den zehn Jahren in Catania aus dem Blick verloren hatte, wieder aufzunehmen; das bedeutete, Grenzen zu überschreiten, nach anderen Formen zu suchen, mit verschiedenen Malstilen zu experimentieren, um an das Reale heranzureichen, das er mithilfe der Fotografie jahrelang zu dechiffrieren versucht hatte: Einzelheit um Einzelheit eines geformten Äußeren, aber der strahlende oder auch mit Sorgenfalten überzogene Kern des Daseins blieb nach wie vor unerreichbar. Manchmal, nach dem Orgasmus — um die Momente der Erfüllung festzuhalten, die ohne Form und ohne Gedächtnis verloren wären — glitt er mit seinem Penis über den ganzen Körper des Jungen; ein erregendes erotisches Spiel für den Partner, für ihn aber ein Festhalten, Erinnern, Fixieren des Vergänglichen, auf immer eingeschrieben in der Dunkelkammer des Bewusstseins, über das er dann nach Belieben verfügen und es befragen konnte. Alles auf Anfang, mit vierzig. In Paris, gemeinsam mit Masi, der inzwischen einundzwanzig Jahre alt und ohne familiäre Bindungen war; seine Familie war bei einem Brandanschlag — eine Vergeltungsaktion — ausgelöscht worden, während er es mit Freunden in der Osteria hoch hergehen ließ.
»Ich wollte das nicht, mit der Anzeige gegen dich habe ich nichts zu tun. Was hätte ich denn tun können? Hätte ich Nein sagen sollen zu meinem Vater und seinen Freunden?«, hatte der Junge zu ihm gesagt. Paolo dachte, er hätte sich widersetzen müssen, Nein sagen, aber sicher. Doch er schwieg.
»Ohne ihn wäre ich schon tot«, schloss er bei sich, voller Zärtlichkeit für den Jungen, der, nunmehr ohne Eltern und mittellos, sich ihm anvertraut hatte wie einem Vater, einem Liebhaber mit mehr Erfahrung. Einem Wissenden.

Sechs

Wäre Paolo Ciulla im Sommer 1907 statt nach Paris nach Dresden oder Berlin gegangen und hätte Zugang gefunden zu den Malern der Brücke, die dem Namen ihrer Gruppierung entsprechend nach einer neuen Verbindung zwischen Kunst und Leben suchten und die Malerei als Schlachtfeld, den Pinsel als Schwertspitze einsetzten; wäre das geschehen, dann hätte er in der Verzerrung einer entzauberten Gegenständlichkeit unmittelbar den expressiven Weg gefunden, nach dem er suchte, um die willkürlich angelegte Ordnung außer Kraft zu setzen: die lähmende Schönheit der Form, in der er zwangsläufig verfangen blieb.
Obwohl es ihm durchaus schon gelungen war, seine Malerei zu befreien, etwa nach dem Tod der Eltern bei den Portraits, die nun so fern waren wie seine zwanzig Jahre, spürte er, wie der schöne Schein im Einklang mit seinen Empfindungen wiederkehrte — in der Liebe, der Nostalgie und dem Erbarmen — und die Stacheln des E...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Wie alles kam oder vom traurigen Ende der Lira.
  6. PRÄAMBEL: Eine Straße zwischen den Lavafeldern
  7. ERSTER TEIL: Der Künstler schließt mit euch einen Pakt: findet sein Konterfei.
  8. ZWEITER TEIL: Roman, das bedeutet nicht Lüge. Das Leben ist oft trügerischer als ein Roman.
  9. DRITTER TEIL: Vorsitzender: »Ich habe verstanden, jede Farbe …« Ciulla: »… jede Farbe hat ihren … Geschmack.«
  10. EPILOG: Die Mutter des Faschismus gebiert stets neue Kinder.
  11. Anmerkungen
  12. Kleines Glossar in alphabetischer Reihenfolge
  13. Große und kleine Fälschungen und ein falscher und ein echter Prozess
  14. Impressum