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Als ich mit vierzig zur Universität zurückkehrte, überkam mich sogleich wieder die ganze bedrückende Melancholie der studentischen Existenz. Während der Zug in den Bahnhof einfuhr, drängte sich mir, bevor noch das örtliche Klima Zeit hatte, der Gesundheit zu schaden, ehe akademische Kontakte den Geist beunruhigen konnten, eine unmittelbarere Niedergeschlagenheit auf, deren sehniger Griff mich mit einem Schlag in die Jugendzeit zurückversetzte. Symptome der Depression, die uns in allen Stätten unserer Jugend bedrohend begegnen, stellten sich jetzt, in dieser Zeit, ohnehin leicht ein, und ich nahm sie hin als verzögerte Folgen der letzten sechs Jahre. Es war seltsam, wie fern mir nun aber auch die jüngste Vergangenheit lag, wie die Armee jetzt in meinem Bewusstsein die gleiche stilisierte Form angenommen hatte wie – um einen anderen Triumphfries zu beschwören – die Legionäre auf der Trajanssäule, exerzierend, schwitzend bei ihrem antiken Drill, stumme Kolonnen bei ewiger Parade zu tonloser militärischer Musik. Dennoch, nicht alle Schatten aus jener Zeit waren gebannt. Nur eine Woche zuvor hatte der Schirm des Khaki-képi eines französischen Generals, der allzu plötzlich aus dem Winterdunst der Piccadilly aufgetaucht war, meine rechte Hand durch bedingten Reflex dazu veranlasst, zur Vorbereitung eines nicht länger angebrachten militärischen Grußes aus meiner Manteltasche zu zucken, der Geste eines Deserteurs ähnlich, der sich so fast selbst verraten hätte. Solche Bodensätze der Erfahrung waren unvermeidlich.
In der Zwischenzeit hatte ich in einem Versuch, so etwas wie eine persönliche Identität zurückzugewinnen, wie immer verschwommen sie auch sein mochte, überkommene Strukturen meiner Existenz mühsam zusammengestückelt. Selbst wenn es sich – wie einige vermuteten – nur um eine vorübergehende Pause in den Militäraktionen handelte, so war diese deshalb nicht weniger willkommen, obwohl es jetzt an der Stimmung der Zeit nach dem früheren Konflikt – wie sie von dem Liedfetzen zusammengefasst wurde, den Ted Jeavons gerne summte, wenn er in schlechter Form war – völlig fehlte:
»Après la guerre,
Kommen nur schöne Tage daher.«
Das nahm mir allerdings nicht die Vorfreude darauf, mich in den folgenden paar Wochen in gewisse Briefe und Dokumente zu vertiefen, die hier in den Bibliotheken lagerten. Die Einsamkeit würde nach den Gedrängtheiten während der Kriegszeit ein Luxus sein, archaische Folianten eine beruhigende Droge. Nach dem Krieg verspürte ich einerseits ein leidenschaftliches Verlangen, ganz viel Arbeit auf mich zu nehmen, aber andererseits auch den Wunsch, nie mehr wieder irgendetwas zu tun. Es war dies ein Geisteszustand, den Robert Burton – über den ich ein Buch zu schreiben gedachte – sehr wohl verstanden hätte. Unentschlossenheit fand er interessant als eine der Myriaden Formen der Melancholie, obwohl er sich natürlich hauptsächlich mit »einem chronischen und anhaltenden Leiden, einem festsitzenden Körpersaft« befasste und nicht mit einer bloß vorübergehenden Depression oder nervösen Unruhe. Dennoch, der Nachkriegsmelancholie hätte er vielleicht in seinem großen Werk doch ein kurzes Unterkapitel gewidmet:
DIE ANATOMIE DER MELANCHOLIE
Was sie ist, mit all ihren Arten, Ursachen, Symptomen,
Anzeichen und mehreren Heilmitteln gegen sie. In drei Hauptabteilungen mit mehreren Unterabteilungen, Kapiteln und Unterkapiteln philosophisch, medizinisch und historisch offengelegt und seziert von Democritus Junior. Mit einem satirischen Vorwort, das in die folgende Abhandlung einführt. Anno Dom. 1622
Die Titelseite zeigte nicht nur ein Porträt von Burton selbst mit Halskrause und Scheitelkäppchen, sondern auch Figuren, die sein Thema illustrierten: Liebeswahnsinn, Hypochondrie, religiöse Melancholie. Die Embleme der Eifersucht und der Einsamkeit waren ebenfalls dort abgebildet, zusammen mit jenen beiden wirkungsvollsten Heilmitteln gegen Melancholie und Wahnsinn, Borretsch und Nieswurz. Burton war lange schon einer meiner Lieblingsautoren gewesen. Eine Studie über ihn würde eine Abwechslung zum Schreiben von Romanen bedeuten. Das Buch sollte den Titel »Borretsch und Nieswurz« tragen.
Als die trostlose Umgebung des Bahnhof den Gebäuden der Colleges wich, wandten sich meine vielleicht banalen, doch ausgesprochen burtonesquen Tagträume der relativ großen Anzahl von Personen zu, die ich in einem früheren Stadium meines Lebens sowohl hier als auch anderswo ziemlich gut gekannt hatte, die aber jetzt entweder tot oder übergeschnappt waren oder sich in Existenzformen zurückgezogen hatten, die zu teilen sie – oder ich – keinen Wunsch verspürten. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass auch ohne kosmische Umwälzungen nach der halben Lebensstrecke eine gewisse Umorientierung stattzufinden hat – eine These, die durch die Autobiografien bestätigt wurde, die nun in Mengen eintrafen (jeweils drei oder vier in regelmäßigen Abständen), um in einer der Wochenzeitschriften rezensiert zu werden. In diesem Augenblick beschwerten mehrere dieser Bände meine Tasche. Ihnen würde ich mich in den Pausen während meiner Beschäftigung mit dem siebzehnten Jahrhundert widmen müssen: »In Lethe nicht gereinigt« … »Ein Börsenmakler in Sandalen« … »Ein langsamer Starter« … »Nie gerastet, nie gerostet« … – Chroniken individueller Schicksale, im Großen und Ganzen nur wenig fesselnd, außer insofern, als jedes Menschen individuelle Geschichte ihre fesselnden Aspekte hat, obwohl der wesentliche Wendepunkt von den meisten Autobiografen gewöhnlich entweder ausgelassen oder verschleiert wird.
Doch fast alle offenbarten, wenn auch nicht in jedem Fall explizit, eine ähnliche Neuorientierung im Alter von etwa Mitte vierzig; und deren Beschreibungen bestärkten ganz allgemein die Anzeichen, die sich bereits fühlbar angesammelt hatten, dass Freundschaften, wenn überhaupt ein Bedürfnis nach einer Form von ihnen, wie sie in der Vergangenheit existiert hatten, bestand, an diesem Meilenstein größtenteils neu geschlossen werden mussten. Diese Umstellung mochte die Beständigkeit und sogar die Qualität verbessern, sie führte aber gewiss zu einem Verlust an Intimität, zumindest an jener Art von Intimität, die so tröstlich in der Jugend ist, obwohl vielleicht zu verletzlich, um der stetig wachsenden Selbstgewissheit späterer Jahre widerstehen zu können.
Ich wohnte in meinem alten College. Das Gebäude sah noch genauso aus wie früher. Nur ein einziger Pförtner hatte Dienst in dem Häuschen. Es war ein unvertrautes Gesicht. Nachdem er lange die Liste studiert hatte, wies er auf einen entfernten Treppeneingang zu den mir zugewiesenen Zimmern. Die traditionelle Atmosphäre, in prekärer Balance zwischen einem lax geführten Internat und einem zwielichtigen, auch Schlafgelegenheiten bietenden Club, neigte sich jetzt entschieden der des ersteren Typs von Institution zu. Die Zimmer, eiskalt wie in alten Zeiten, gehörten augenscheinlich einem ziemlich karg lebenden jungen Mann, dessen einziges Bild eine ungerahmte Fotografie einer Hockeymannschaft war. Sie stand wellig auf dem Kaminsims. Auf dem Bücherregal eine Menge wirtschaftswissenschaftlicher Werke, die begrenzt wurde von St. John Clarkes »Aus Staub du bist«, einem ziemlich abstrusen Roman über die Französische Revolution, den kritisch neu zu bewerten vielleicht ein Vergnügen sein würde. Ich ging hinüber ins Schlafzimmer. Hier tat sich eine Krise auf. Das Bett war unbezogen. Nur eine düster stimmende, fleckige blaugraue Matratze lag, dreifach gefaltet, auf den rostigen Drahtspiralen des Rahmens. Zurück zum Pförtnerhäuschen, wo ich einer fundamentalen Diskussion über die unvorstellbaren Schwierigkeiten ausgesetzt wurde, dem Mangel an Bettzeug zu dieser Stunde abzuhelfen. Später dann versammelten sich einige Zombie-ähnliche Gestalten im Speisesaal, um ein angemessen Zombie-gedeihliches Mahl einzunehmen.
Dies war der Anfang einer Reihe von Tagen, die durch die Routine bestimmt waren. Tagsüber arbeitete ich in der Bibliothek, und abends wertete ich meine Notizen aus. Die Monotonie wirkte beruhigend. Man glich sich unmittelbar jenen anderen trüben, körperlosen, unnahbaren, auf ihr jeweils eigenes rätselhaftes Interessensgebiet konzentrierten Wesen an, die in der vorlesungsfreien Zeit durch die kopfsteingepflasterten Gassen und gotischen Torbögen einer Universität huschen. Es war das, was Burton selbst »ein stilles, im Sitzen verbrachtes, einsames, privates Leben« nannte, und unter der Woche war es genau das Richtige für mich. An den Wochenenden fuhr ich zurück nach London. Einmal kam Killick, einst ein kräftig gebauter, Rugby spielender Philosophieprofessor an meinem College, mit einem Stoß Bücher unter dem Arm ächzend und mit hochrotem Kopf die Straße heraufgeeilt, und ich sprach ihn an. Ich erklärte ihm, wer ich sei. Killick lud mich geistesabwesend zum Abendessen ein. Als ich in der darauffolgenden Woche zu ihm ging, wurde mir mitgeteilt, dass Professor Killick nac...