Das eigensinnige Kind
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Das eigensinnige Kind

Über unterdrĂŒckten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens – ein gesellschaftspolitischer Essay

  1. 124 Seiten
  2. German
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Das eigensinnige Kind

Über unterdrĂŒckten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens – ein gesellschaftspolitischer Essay

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Das eigensinnige Kind" ist das kĂŒrzeste MĂ€rchen in der Sammlung der BrĂŒder Grimm und zugleich eines der schrecklichsten. Es handelt vom kurzen Leben eines Kindes, dessen Eigensinn von der alleinerziehenden Mutter bis ĂŒber den Tod hinaus gebrochen wird. FĂŒr den Literaturwissenschaftler und Philosophen Wolfram Ette wird das MĂ€rchen zur ersten Station einer essayistischen Besichtigungstour, die sich fĂŒr die komplexen VerdrĂ€ngungs- und UnterdrĂŒckungsverhĂ€ltnisse im zeitgenössischen Dreieck von Kind, Familie und Gesellschaft interessiert.FĂŒr seine Galerie des Eigensinns greift Ette nicht nur auf Material aus kanonisierten KinderbĂŒchern, literarischen Klassikern und antiken Texten zurĂŒck. Ins Blickfeld geraten auch die vielfĂ€ltigen Dramen zwischen Eltern und Kindern, die der Alltag zu bieten hat, sowie die dazugehörigen beschĂ€digten LebenslĂ€ufe bis hin zum AmoklĂ€ufer. Er untersucht die unausgesprochenen gesellschaftlichen Konflikte, die sich in diesen Szenen des Eigensinns abgelagert haben, und fragt danach, welche gesellschaftlichen GewaltverhĂ€ltnisse sie spiegeln, maskieren, unterstĂŒtzen.In diesem Neben- und Übereinanderhalten von Familien- und Gesellschaftsstruktur erlĂ€utern sich beide gegenseitig und erinnern vor allem an eines: Die MikrorĂ€ume des Sozialen sind Keimzellen fĂŒr Gesellschaft. In welcher wollen wir leben und was bedeutet dies fĂŒr unser Alltags- und Familienleben?

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783963177064
Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des MĂ€rchens
Ein sehr kurzer Text
Dieses MĂ€rchen ist wie ein Faustschlag, von einer BrutalitĂ€t, der ich wenig an die Seite zu stellen wĂŒsste. Zu einem Teil verdankt sich das seiner KĂŒrze. Jedes literarische Genre lebt von einer mittleren Erwartungsdauer; die mag betrĂ€chtlich ĂŒber- oder unterschritten werden, regelt aber dennoch die Wahrnehmung der Rezipienten. In diesem MĂ€rchen aber steht nicht bloß kein Wort zu viel, sondern eher stehen etliche zu wenig. Die Geschichte hört auf, ehe sie richtig angefangen hat, die Erwartung, die durch das »Es war einmal« sich aufbaut, sinkt in sich zusammen, ehe sie sich stabilisiert hat. Dazu ist â€șDas eigensinnige Kindâ€č frei von jeder Ironie, jeder aphoristischen Zuspitzung im Sinn des â€șEr ward geboren, nahm ein Weib und starbâ€č. Es ist kein Kabarett, kein launiger Geburtstagsspruch, keine fröhliche Wissenschaft, sondern furchtbarer Ernst: die Quintessenz eines verlorenen Lebens, von dem es mehr nicht zu sagen gibt.
Die KĂŒrze des Textes reproduziert die KĂŒrze des in ihm geschilderten Lebens. Wie kurz war es? Handelt das MĂ€rchen vom Tod eines Penners oder vom Ende eines rebellierenden Jugendlichen? Schildert es die Geschichte eines Schulverweigerers oder erzĂ€hlt es vom Totschlag eines schreienden SĂ€uglings, angesichts dessen Mutter oder Vater die Nerven verloren? Wie auch immer: Das Leben, von dem hier berichtet wird, ist zu kurz.
Ein zweiter Grund fĂŒr die verstörende BĂŒndigkeit, mit der dieses kĂŒrzeste der Grimm’schen MĂ€rchen seine Bahn durchlĂ€uft, liegt in seiner kollektiven Verfasstheit. Das hat sich kein Einzelner ausgedacht, um eine Pointe zu landen. Die mĂŒndliche Tradierung schied vielmehr alles Unnötige aus und reduzierte den Erfahrungsgehalt auf die kĂŒrzestmögliche Form.
Nun haben Jacob und Wilhelm Grimm in den Text der ihnen mĂŒndlich mitgeteilten MĂ€rchen massiv eingegriffen. Im Einzelfall ist der Weg von der Transkription bis zur Ausgabe letzter Hand außerordentlich weit.1 Vor die historisch-dokumentarischen Interessen, die Reste einer im Volk sich selbst dichtenden Poesie zu bergen, schoben sich nach und nach kĂŒnstlerische und pĂ€dagogische Intentionen2. In gewisser Weise spiegelt der Bearbeitungsprozess, den viele MĂ€rchen durchliefen, selbst das Verschwinden der kollektiven Überlieferung, die die Grimms durch ihre SammeltĂ€tigkeit aufhalten wollten.
Dennoch ist diese Schicht in vielen Texten noch deutlich erkennbar. Das MĂ€rchen vom eigensinnigen Kind zeigt keine Spuren redaktioneller Eingriffe. Von der ersten Auflage bis zur Ausgabe letzter Hand ist es derselbe Wortlaut. Es ist ausformuliert, aber nicht auserzĂ€hlt. FĂŒr ihn scheint doch zu gelten, dass die Grimms das Endprodukt eines kollektiven Verdichtungsprozesses aufnahmen, in dessen Verlauf alles, was sich in der mĂŒndlichen ErzĂ€hlsituation nicht bewĂ€hrte, vorab aussortiert worden war.3
Gute und böse MÀrchen
In der MĂ€rchensammlung der BrĂŒder Grimm gibt es nicht wenige â€șschlimmeâ€č MĂ€rchen – mehr jedenfalls, als den meisten bewusst sein dĂŒrfte.
»Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet, das haben seine Kinder gesehen; als sie nun Nachmittag mit einander spielen wollen, hat das eine Kind zum andern gesagt: â€șdu sollst das Schweinchen und ich der Metzger seyn;â€č hat darauf ein bloß Messer genommen, und es seinem BrĂŒderchen in den Hals gestoßen. Die Mutter, welche oben in der Stube saß und ihr jĂŒngstes Kindlein in einem Zuber badete, hörte das Schreien ihres anderen Kindes, lief alsbald hinunter, und als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn, dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz. Darauf lief sie alsbald nach der Stube und wollte sehen, was ihr Kind in dem Badezuber mache, aber es war unterdessen in dem Bad ertrunken; deßwegen dann die Frau so voller Angst ward, daß sie in Verzweifelung gerieth, sich von ihrem Gesinde nicht wollte trösten lassen, sondern sich selbst erhĂ€ngte. Der Mann kam vom Felde und als er dies alles gesehen, hat er sich so betrĂŒbt, daß er kurz darauf gestorben ist.« (BrĂŒder Grimm, Kinder- und HausmĂ€rchen, Band 1, Berlin 1812, 103. Das MĂ€rchen findet sich nur in der ersten Ausgabe.)
MĂ€rchen wie dieses hat die sanfte PĂ€dagogik nach 1968 aus unserem GedĂ€chtnis entfernt; in der Furcht, sie könnten die Kinder traumatisieren oder ihnen zum schlechten Vorbild dienen. Doch auch die kanonischen MĂ€rchen werden zensiert. Dass die böse Mutter am Ende von â€șSneewittchenâ€č in glĂŒhende Pantoffeln gesteckt wird und darin tanzen muss, bis sie tot umfĂ€llt, weiß kaum ein Kind mehr, und wenn ja, dann nicht aus den bearbeiteten Fassungen, die in den Regalen der Kinderzimmer stehen, nicht aus den MĂ€rchentheaterinszenierungen der KindergĂ€rten und der StĂ€dtischen BĂŒhnen in der Weihnachtszeit. Dass HĂ€nsel und Gretel am Ende nur zum Vater zurĂŒckkehren, weil die Mutter in der Zwischenzeit gestorben ist (was die beunruhigende Frage nach dem VerhĂ€ltnis von Mutter und Hexe, Verstoßen- und Gegessenwerden, aufwirft), ist zur Angelegenheit der MĂ€rchenforscher geworden.4
Die hinter solchen Flurbereinigungen stehende PĂ€dagogik betrachtet die heranwachsenden Kinder im Prinzip als Container, die mit möglichst vielen guten und möglichst wenigen schlimmen Erfahrungen aufzufĂŒllen seien. Sie gedieh auf dem Boden einer sozialstaatlichen Friedensordnung, die die Schrecken der Wirklichkeit ein wenig zurĂŒckdrĂ€ngte und ihre Bearbeitung ĂŒberflĂŒssig erscheinen ließ. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, da diese Ordnung zerfĂ€llt, da die Mafia den Sozialstaat ersetzt, neue Kriege heraufziehen und die Zukunft der menschlichen Gattung in Frage steht, erscheint diese PĂ€dagogik anachronistisch. Ballerspiele ersetzen die mit viel gutem Willen desinfizierten Geschichten. Sie sind die wahren, wenn auch nicht legitimen Nachfolger der brutalen, bösen und pessimistischen MĂ€rchen aus der Sammlung der GebrĂŒder Grimm.
Freilich ĂŒberwiegen in den â€șKinder- und HausmĂ€rchenâ€č die Geschichten, die Hoffnung machen. Unter ihnen lassen sich – idealtypisch – zwei Linien unterscheiden. Die erste wird durch die MĂ€rchen reprĂ€sentiert, die von psychischen Konflikten handeln und in denen – im weitesten Sinne – ein Entwicklungsprozess im Zentrum steht: â€șSneewittchenâ€č oder â€șRapunzelâ€č etwa gehören zu diesem Typus. In der zweiten Linie haben sich historische Erfahrungen niedergeschlagen. Sie wurzeln hĂ€ufig in der frĂŒhen Neuzeit, reichen aber in EinzelfĂ€llen sehr viel weiter zurĂŒck. Es geht hier freilich nicht – oder nur höchst selten – um ein Entweder-Oder: beide Linien ĂŒberkreuzen und ĂŒberschneiden sich hĂ€ufig in den einzelnen MĂ€rchen.
Jedenfalls werden in beiden Linien die Geschichten der â€șKleinenâ€č, der Erniedrigten, Umhergetriebenen und Verachteten erzĂ€hlt – der DĂ€umlinge und Dummlinge, also der schwarzen Schafe der Familie; der aus Lohn und Brot geworfenen, durchs Land irrenden Soldaten, die nichts verstehen außer dem Kriegshandwerk; der von ihrem Grund und Boden getrennten, in eine hochspezialisierte TĂ€tigkeit gezwungenen ehemaligen Bauern –, die aufgrund ihres Urvertrauens in die Welt – aufgrund der Tatsache also, dass sie der Welt vertrauen, ohne sie zu kennen – gegen alle Wahrscheinlichkeit Karriere machen, zu Reichtum kommen, die schöne Königstochter heiraten usf.
Viele der Grimm’schen MĂ€rchen reflektieren historisch das Ende der germanischen Familien- und Gemeindeordnung. Der mittelalterliche Feudalismus hatte sie ĂŒberformt, aber nicht zerstört.5 Die neuzeitlichen VerhĂ€ltnisse – in Deutschland die Zerstörung der Familien durch den DreißigjĂ€hrigen Krieg, dann die Entstehung einer geldvermittelten Marktwirtschaft, deren AbsurditĂ€t in einigen MĂ€rchen wie â€șHans im GlĂŒckâ€č mit erheiterndem Befremden dargestellt wird – gehen ihr nun ans Leben. Wenn in diesen MĂ€rchen die ZurĂŒckgesetzten ihr GlĂŒck machen, dann artikuliert sich darin ein spezifischer Widerstand gegen diese historischen Zumutungen.
Jedoch scheint der Eigensinn, von dem in unserem MĂ€rchen die Rede ist, eines historischen Kontextes nicht zu bedĂŒrfen. Das Dorf mit der Mutter, der anonym belassenen Gemeinde und dem strafenden Gott ĂŒber allem steht außer der Zeit. Eine, wie es scheint, ĂŒberhistorische Familiensituation wird hier entworfen: Welche, wenn nicht eine psychoanalytische Interpretation, wĂ€re hier am Platz? Zweifellos rĂŒckt dieser Aspekt durch den stark verdichteten Charakter des MĂ€rchens in den Vordergrund; das historisch Passagere, so die Annahme, wurde in diesem Fall durch den Überlieferungsprozess ausgeschaltet. Dennoch wirkt Geschichte wie ferner SchlachtenlĂ€rm in das Gebilde hinein. Wie in vielen anderen MĂ€rchen gibt es nur einen Elternteil – der Tod vieler MĂŒtter bei der Geburt oder im Wochenbett, der Tod der VĂ€ter im Krieg waren die GrĂŒnde fĂŒr die BeschĂ€digung vieler Familien. Die SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit der das hier wie anderswo ohne jede BegrĂŒndungspflicht festgehalten wird, lĂ€sst erkennen, dass es sich um weit verbreitete Erfahrungen gehandelt haben muss.
Wie Kette und Schuss ungleicher StĂ€rke sind das historische und das psychologische Moment in â€șDas eigensinnige Kindâ€č verwoben. Zu den MĂ€rchen, die gut enden, verhĂ€lt es sich wie eine Hohlform, eine Transzendentalie des gesellschaftlichen Drucks, dem die Menschen ausgesetzt sind und waren. Es ist das tausendfache Schicksal des niedergeschlagenen Eigensinns der ZurĂŒckgebliebenen. Dieses Schicksal steht hinter jedem der MĂ€rchen, die wir so gerne hören, weil in ihnen den Schwachen einmal GlĂŒck und Gelingen beschieden ist. Jeder von den Eltern gering geschĂ€tzte Dummling, der die ĂŒberhebliche Prinzessin zur Frau bekommt, jeder vagabundierende Landsknecht, der zu nie versiegendem Reichtum gelangt, trĂ€gt die Last der Vielen, denen es misslang und die von der Geschichte verschluckt wurden. â€șDas eigensinnige Kindâ€č beschreibt die Regel, die schönen MĂ€rchen erzĂ€hlen von Ausnahmen.
Das Meretlein
1
Gottfried Kellers Geschichte von der kleinen Meret, die er auf den ersten Blick unverbunden mit dem Rest der Handlung in den â€șGrĂŒnen Heinrichâ€č eingeschleust hat, ist eine erste systematische AuserzĂ€hlung des MĂ€rchens vom eigensinnigen Kinde.6 Ohne dass dieses genannt wĂŒrde, scheint Kellers Text doch bis in die Details aus den Mechanismen und TriebkrĂ€ften organisiert, die dem Grimm’schen MĂ€rchen zugrunde liegen.
Dabei ist die Rahmung eine ganz andere. ZunĂ€chst erzĂ€hlt Heinrich Lee, der ErzĂ€hler dieses Romans, von seinem eigenen Eigensinn. Dieser Eigensinn wurde nicht restlos unterdrĂŒckt, ihm wurde erlaubt, sich in gewissem Umfang auszuleben. Es wird davon erzĂ€hlt, dass es Heinrich unmöglich war, ein Tischgebet zu sprechen. Seine Hemmung scheint dabei weniger den Inhalt des christlichen Glaubens als das laute Sprechen, seinen Vollzug in einem aktuell oder potenziell öffentlichen Raum zum Gegenstand zu haben. »Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.« Die Mutter nimmt ihm daraufhin das Essen fort. »Nun sollst du nicht essen, bis du gebetest hast!« Heinrich bleibt bei seiner Weigerung, er kann das Tischgebet nicht sprechen und zieht sich »in große[r] Traurigkeit [
], die mit einigem Trotze vermischt war«, zurĂŒck. Am Ende gibt die Mutter nach: »[A]ls jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein StĂ€ubchen darin wĂ€re, wieder herein und sagte: â€șDa kannst du essen, du eigensinniges Kind!â€č, worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und TrĂ€nen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken lieĂŸÂ«.
2
Die Geschichte vom kleinen Meretlein, die sich daran anschließt, ist dazu im Kontrast entworfen. Der ErzĂ€hler gibt vor, er habe sie der Chronik des Pfarrhauses in seinem Heimatdorf entnommen, wo sich die Geschichte etwa 100 Jahre vor der Zeit, von der er erzĂ€hlt, zugetragen habe.
Zu dem damaligen Pfarrer sei nĂ€mlich ein kleines MĂ€dchen von sieben Jahren geschickt worden, Meret geheißen, das »eine hartnĂ€ckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die GebetbĂŒcher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hĂŒllte, wenn man ihm vorbetete, und klĂ€glich zu schreien anfing, wenn man es in die dĂŒstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fĂŒrchten vorgab«. Der Pfarrer, ein »dumpfer, harter Mann«, der wegen seiner StrengglĂ€ubigkeit bekannt war, möge es in seine Obhut nehmen und dafĂŒr sorgen, dass dieses Kind sich bessere. Vorher dĂŒrfe es nicht zu seinen Eltern zurĂŒckkehren. Es ist also derselbe Ausgangspunkt: ein Kind, das nicht in der Lage ist, den öffentlichen Erfordernissen der christlichen Religion zu entsprechen. Ob es glĂ€ubig ist oder nicht, lĂ€sst sich nicht sagen. Es ist jedenfalls nicht in der Lage, seinen Glauben zu demonstrieren.
Hinter dieser Geschichte steckt aber noch eine andere. Wir erfahren, dass die kleine Meret aus einer ersten, unglĂŒcklichen Ehe stammt, nach deren Auflösung sie nun bei der Mutter lebt. Letztere will die Tochter offenkundig loswerden und schickt sie zum Pfarrer. Das Kind erinnert sie an ihren ersten Mann. Von dessen Vater schreibt sie (in dieser Sache gewiss nicht unparteiisch), er sei ein »gottloser WĂŒtherich und schlimmer Cavalier« gewesen, dessen SĂŒnden nun auf die Kleine ĂŒbergegangen seien. Meret ist ein Vaterkind, das nach der Trennung beim falschen Elternteil geblieben ist.
DarĂŒber hinaus ist das MĂ€dchen schön – verfĂŒhrerisch schön. So lautet die Fama des Dorfes: »Besonders hĂ€tte es erwachsene Mannspersonen verfĂŒhrt und es ihnen angetan, wenn es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse HĂ€ndel angefangen hĂ€tten.« Diese Anziehungskraft fĂ€llt dem ErzĂ€hler auch beim Betrachten des Bildes auf, das die Mutter beim Pfarrer bestellt hatte, dann aber doch nicht zu sich nach Hause nehmen wollte. »Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas FrĂŒhreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkĂŒrliche Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen, ihm schmeicheln und es liebkosen zu dĂŒrfen.« Auch durch den Bericht des Pfarrers lĂ€uft ein libidinöser Unterstrom. So muss er sich gegen die ĂŒbergriffige Teilnahme des Schulmeisters am Meretlein zur Wehr setzen. »Kam ein großer, starker Schlingel, der junge MĂŒllerhans, und richtete mir HĂ€ndel an von wegen der Meret, welche er alltĂ€glich schreien und heulen zu hören vorgegeben, und disputirte ich mit demselben, als auch der junge Schulmeister, der Tropf, herankam und drohete, mich zu verklagen, und fiel ĂŒber die schlimme Creatur her, herzete und kĂŒssete sie etc. etc.« Man fragt sich, was das »etcetera« hier meint.7
Vielleicht ist auch dies der Mutter ein Dorn im Auge. Wie in â€șSneewittchenâ€č schickt sie das Kind in dem Moment fort, in dem es zur Frau erwacht und eine mögliche erotische Konkurrenz darstellen könnte. Und wie in ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Kapitel 1: Zur Form und Überlieferung des MĂ€rchens
  3. Kapitel 2: Niederschlagung
  4. Kapitel 3: Subversion
  5. Kapitel 4: Ambivalenz
  6. Kapitel 5: Amok
  7. Zwischenbemerkung: Vormoderne und Nachmoderne
  8. Kapitel 6: Diffusion
  9. Kapitel 7: Narrative der Indifferenz
  10. Endnoten