"Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..."
eBook - ePub

"Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..."

Lebensgeschichten aus Deutschland

  1. 385 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

"Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..."

Lebensgeschichten aus Deutschland

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Ich bin noch nie einem Juden begegnet …": Diesen Satz haben die meisten der rund 200.000 Jüdinnen und Juden, die heute in Deutschland leben, schon einmal gehört. Höchste Zeit also, mehr über den Reichtum und die Vielfalt jüdischen Lebens hierzulande zu erfahren.Gerhard Haase-Hindenberg erzählt die Geschichten der Kinder und Enkel von Shoah-Überlebenden, von Juden, die aus Russland, Israel und Amerika nach Deutschland gezogen sind, von der jiddischen Mamme und queeren Jüdinnen und Juden ebenso wie von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen zum Judentum konvertierten.Ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen und ihre Gefährdung durch den ansteigenden Antisemitismus verwebt Haase-Hindenberg gekonnt mit Erklärungen über jüdische Geschichte, Glaubenspraxis und Symbole. Wer den Menschen in den einfühlsamen Porträts nahegekommen ist, wird nicht mehr behaupten: "Ich bin noch nie einem Juden begegnet."

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu "Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..." von Gerhard Haase-Hindenberg im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Theologie & Religion & Religiöse Biographien. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2021
ISBN
9783896845924
Aus aller Welt
Es ist eine dieser Irrationalismen der Geschichte, dass seit Jahrzehnten viele Juden ausgerechnet jenes Land zum Lebensmittelpunkt wählen, in welchem einst Männer wie Himmler, Heydrich und Eichmann deren »Endlösung« in Angriff nahmen. Einige kehrten in den ersten Nachkriegsjahren aus dem Exil dorthin zurück, wo sie einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verlebt hatten. Andere gingen nach Versteck oder Lagerhaft gar nicht erst fort. Oder es sind die Kinder und Enkel der einstigen Emigranten, die ihr Geburtsland verließen, um sich hierzulande auf Spurensuche zu begeben. Seit einigen Jahren entdecken auch viele amerikanische Juden ihre Leidenschaft für das alte Europa und wiederum nicht wenige für »good old Germany«. Seither erscheinen jüdische Amerikaner nicht gerade in riesigen Scharen, aber auch nicht in einer zu vernachlässigenden Zahl. Das hat sehr verschiedene Gründe. In der Kunst beispielsweise ist das hierzulande vorhandene Subventionswesen ein solcher. Andere sind von der langen europäischen Geschichte fasziniert, die sich in der Kaiserpfalz in Goslar, im Dresdner Zwinger und an anderen Orten architektonisch manifestiert. Israelis zieht es überwiegend nach Berlin und sie sind dort nicht zuletzt bei Start-ups und in der Kunstszene längst ein unübersehbares Faktum.
Seit 1991 kamen Zehntausende von Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als sogenannte Kontingentflüchtlinge in alle Teile Deutschlands. Sie stellen mit Abstand die Majorität der jüdischen Zuwanderung. Für die Jüdischen Gemeinden hierzulande war das eine gewaltige Herausforderung und ist mittlerweile eine riesige Chance für ein aufblühendes Gemeindeleben. Wer aber sind diese Menschen, in deren sowjetischen Pässen als Nationalität »Jude« eingetragen war?
Im Jahr 1959 lebten auf dem Gebiet der Sowjetunion rund 2,2 Million Juden. Die damaligen Behörden hätten deren Zahl sicher noch präziser benennen können, denn wenn in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken auf etwas Verlass gewesen ist, so war es die Bevölkerungsstatistik. Auch die exakte Anzahl der Kasachen, Baschkiren oder der Krimtataren war statistisch erfasst, schließlich war das Land ein Vielvölkerstaat und die jeweilige Nationalität stand im Pass – so eben auch bei den Juden. Nach sowjetischem Verständnis waren sie nämlich eine Nationalität und es wurde seit Lenins Zeiten alles unternommen, sie als religiöse Schicksalsgemeinschaft zu zerschlagen. Genau zu einer Schicksalsgemeinschaft aber waren die Juden in der wechselvollen russischen Geschichte immer mehr geworden.
Niemand weiß genau, woher die Juden einstmals in diese Gegenden gekommen waren. Es gibt Legenden, die in ihnen die Nachfahren der zehn verlorenen Stämme Israels sehen, welche seit der Eroberung des Nordreiches durch die Assyrer im Jahr 722/21 v. d. Z. als verschollen gelten. Kurz danach seien sie angeblich im Gebiet des heutigen Armenien und Georgien aufgetaucht. Das kann natürlich sein, denn irgendwo müssen die zehn Stämme Israels ja schließlich geblieben sein, seriöse wissenschaftliche Belege gibt es dafür aber nicht. Andere Legenden bringen deren Ansiedlung erst 136 Jahre später mit dem babylonischen Exil in Verbindung. Gesicherte Hinweise hingegen gibt es, bezeugt in Form von Ruinen, Aufzeichnungen und Grabinschriften, für die Präsenz jüdischer Gemeinden während der hellenistischen Periode in den griechischen Kolonien am Schwarzen Meer. Später kamen auch verfolgte Juden aus dem Byzantinischen Reich in diese Gegend. Von da an füllt die Geschichte der russischen und der Kiewer Juden und deren gesellschaftliche Probleme ganze Bibliotheken historischer Institute. Da wird vom Siedlungsverbot für Juden im russischen Kerngebiet zur Zeit des Moskauer Großfürstentums berichtet, von Zwangstaufen und Pogromen im Zarenreich von Iwan IV., dem antisemitischen Pamphlet »Das Protokoll der Weisen von Zion« und dem Befehl von Kaiserin Elisabeth Petrowna im Jahr 1742, alle in ihrem Reich lebenden Juden zu verbannen. Nachhaltig scheint dieser Befehl nicht gewesen zu sein, denn 200 Jahre später lebten eben 2,2 Millionen Sowjetbürger mit dem Nationalitätsvermerk Jude im Pass auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs.
Als im Oktober / November 1917 die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) gegen die postzaristische Regierung von Alexander Kerenski geputscht und dies der Welt propagandistisch als »Große Sozialistische Oktoberrevolution« verkauft hat, gehörten zu Lenins Mitstreitern eine ganze Reihe von jüdischen Intellektuellen. Sie hatten sich der bolschewistischen Bewegung schon früh angeschlossen, auch weil sie in ihr die Chance einer gesellschaftlichen Gleichstellung für die Juden sahen. Dieses Ziel aber war bereits durch die Februarrevolution von 1917 erreicht worden. Nur wenige Tage nach der Abdankung des Zaren wurden alle antijüdischen Restriktionen aufgehoben – mehr als 140 Statuten im Umfang von über 1000 Seiten wurden über Nacht null und nichtig. Der Petrograder Sowjet berief aus diesem Anlass am 24. März 1917, am Vorabend des Pessachfests, eine Feierstunde ein. Ein jüdischer Delegierter hielt eine Ansprache, in der er den eben vollzogenen Akt mit der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei verglich. Bedeutete der Putsch Lenins nun die endgültige gesellschaftliche Gleichstellung der Juden und das Ende des Antisemitismus im sowjetischen Machtbereich? Formal gesehen war das so, de facto aber sah es anders aus, wie die Einwanderer aus dem einstigen sowjetischen Machtbereich zu berichten wissen. Sie kamen 70 Jahre später als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland und ihre Geschichte lautet so: Nach dem Fall der Berliner Mauer sind es ausgerechnet die beiden letzten DDR-Regierungen unter Hans Modrow und Lothar de Maizière gewesen, die plötzlich ihre Verantwortung für die deutsche Geschichte entdeckten. Jüdischen Bürgern, denen »Verfolgung und Diskriminierung« drohe, solle Asyl gewährt werden. Diese Initiative wurde ins wiedervereinigte Deutschland übernommen und ein entsprechender Beschluss Anfang Januar 1991 auf der Ministerpräsidentenkonferenz gefasst. Noch immer gab es offiziell keine eindeutige Rechtsgrundlage für eine speziell jüdische Emigration, vielmehr wurde schließlich das Kontingentflüchtlingsgesetz um diese Personengruppe erweitert. Fortan nämlich wurden Juden aus der dem Untergang entgegentaumelnden Sowjetunion ebenso wie vietnamesische Bootsflüchtlinge oder albanische Botschaftsemigranten in der Bundesrepublik ohne formelles Asylverfahren aufgenommen und nach einem Schlüssel auf die nun 16 Bundesländer verteilt. Den Tatbestand einer konkreten Verfolgung mussten die sowjetischen Juden im Gegensatz zu anderen Kontingentflüchtlingen nicht nachweisen. Allerdings gab es über die Frage, wer ein Jude oder eine Jüdin ist und wer nicht, durchaus unterschiedliche Auffassungen zwischen dem sowjetischen Staat und den jüdischen Gemeinden hierzulande. Für Letztere ist zur Bestätigung der Jüdischkeit nach der Halacha, dem religiösen Gesetz, bekanntlich eine jüdische Mutter vonnöten. In der UdSSR hingegen wurde die nationale Zugehörigkeit grundsätzlich nach der väterlichen Linie definiert, und das nicht nur bei den Juden. Am Ende wurden von den 220 000 Einwanderern, die als jüdische Kontingentflüchtlinge die Sowjetunion verließen, nur knapp 85 000 von den jüdischen Gemeinden in Deutschland als Neumitglieder akzeptiert. Fakt aber ist, dass die postsowjetischen Flüchtlinge den jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht nur das Überleben sicherten, sondern dazu beitrugen, dass im letzten Vierteljahrhundert jüdisches Leben in Deutschland eine neue Blüte erlebte.
Treffen in Hameln
Am 20. März 1952, einem Donnerstag, erblickte die kleine Rachel in Butler / Pennsylvania das Licht der Welt, da war Polina in Odessa bereits ein Teenager. Nichts sprach dafür, dass die beiden sich jemals in ihrem Leben begegnen würden. Schon gar nicht in jener Kleinstadt im einstigen Feindesland ihrer Eltern, deren Namen sie nie zuvor gehört hatten: Hameln. Was die beiden später zu Schicksalsgenossinnen machen sollte, war neben einer Menge Zufälle die Tatsache, dass sie beide Jüdinnen sind. Damit hörte die Gemeinsamkeit der Mädchen von damals aber auch schon wieder auf.
Rachel ist in einer jüdischen Familie aufgewachsen, von denen es in dem 15 000-Seelen-Ort Butler bis heute etwa einhundert gibt. Mit der ganzen Familie besuchte Rachel am Schabbat eine konservative Synagoge und mit den drei älteren Geschwistern tags darauf die jüdische Sonntagsschule. Die B’nai Brith Youth Organisation war für die junge Rachel damals so was wie ein zweites Zuhause, zeitweilig war sie sogar deren lokale Präsidentin. In Butler / Pennsylvania verlebte sie eine unbeschwerte Kindheit und Jugend im Nachkriegsamerika mit gleichaltrigen Freunden in einem nahezu ausschließlich jüdischen Umfeld.
Polinas Familie tat alles, um die jüdische Herkunft möglichst nicht erkennbar werden zu lassen. Zu gefährlich wäre es angesichts des staatlich verordneten Atheismus in der stalinistischen Sowjetunion gewesen, den Schabbat oder die Feiertage zu begehen. Dennoch hatte Polinas Mutter sich ein kleines Stückchen der Tradition bewahrt. Der Tag ihrer Geburt nämlich war zufällig auf den Tag des Purimfestes gefallen, jenem Fest, an dem die Juden weltweit die Errettung ihres Volkes im antiken Persien feiern. In den Synagogen wird dann das Buch Esther gelesen, dessen Protagonistin den persischen König betören und ihn gegen seinen Beamten Haman in Stellung bringen konnte. Dieser nämlich schickte sich an, alle Juden des Landes ermorden zu lassen. Purim wird wie anderswo Fasching gefeiert und Leckereien gibt es auch: literweise Wodka für die Erwachsenen und Hamantaschen für die Kinder. Das sind mit Mohn und Pflaumenmus gefüllte Hefeteilchen, wie es sie zu diesem Fest auch im fernen Pennsylvania gab. In Polinas Kindheit wurde nicht aus dem Buch Esther gelesen, man hat sich auch nicht verkleidet. Der Genuss von Wodka war in der Sowjetunion unauffällig, Polinas Mutter aber hat an ihrem Geburtstag die Hamantaschen gebacken, unabhängig davon, ob Purim nach dem jüdischen Kalender wieder exakt auf diesen Tag fiel oder wenige Tage zuvor oder danach stattfand.
An ihren Vater konnte sich Polina später nur noch durch ein dramatisches Ereignis erinnern. Sie hatte das Bild vor Augen, in welchem sie sich als kleines Mädchen in einem ukrainischen Dorf versehentlich einen Topf mit heißem Wasser über die Beine gegossen hat. Die Mutter stand vom Schock erstarrt in der Küche, als just in diesem Moment der Vater nach Hause kam. Geistesgegenwärtig hob er seine kleine Tochter hoch und brachte sie ins nächste Krankenhaus, wo eine sehr freundliche ältere Ärztin sich um sie kümmerte. Wenige Wochen danach zog der Vater in den Krieg gegen Nazi-Deutschland und ist beim Kampf um Stalingrad gefallen. Da war Polina mit dem Rest ihrer Familie schon nach Usbekistan evakuiert worden. Mit Großmutter, Mutter, Bruder, Tante und deren zwei Kindern lebte sie auf engstem Raum in einer finsteren Baracke. Die Kinder in dieser Wohngemeinschaft wussten nicht, dass sie Juden waren. Sie hatten auch keine Ahnung, was Juden überhaupt sind. Gelegentlich betrachtete die kleine Polina interessiert ein altes zerfleddertes Büchlein, das der Großmutter gehörte. Erst sehr viel später wird sie erfahren, dass dies ein Siddur, ein jüdisches Gebetbuch, aus dem Jahr 1913 ist. Ein Relikt aus einer Zeit, als in St. Petersburg der Zar regierte und es in Russland noch religiöses jüdisches Leben und immer wieder auch blutige Pogrome gab. Als Studentin traf Polina einmal einen Jungen, der jiddisch singen konnte. Sie lud ihn zu sich nach Hause ein, wo sie, inzwischen zwar in Odessa, aber noch immer in der Wohngemeinschaft aus Kriegszeiten lebte. Großmutter, Mutter, Bruder, Tante und deren zwei Kinder lauschten jenen Liedern, die der junge Mann a cappella vortrug. Noch Jahrzehnte später wird sich Polina an die angenehme, fast geheimnisvolle Atmosphäre jenes Abends erinnern. Niemand hatte den jungen Mann gefragt, woher er diese Lieder kannte. Polina aber hatte das Gefühl, dass er nicht der Einzige im Raum war, der sie kannte. Gesprochen wurde an diesem Abend nicht darüber, auch später nicht.
Als Rachel in Pennsylvania die Highschool beendete, arbeitete Polina bereits als Maschinenbau-Ingenieurin. Nun ist Maschinenbau-Ingenieurin alles andere als Polinas Traumberuf gewesen. Gern wäre sie Deutsch-Lehrerin geworden. Von einer solchen wurde sie während ihrer Schulzeit in dieser für sie wunderbaren Sprache unterrichtet. Die liebenswerte Lehrkraft hatte ihren Schülern vermittelt, dass Deutsch nicht nur die Sprache von Hitler und den Nazis sei, sondern auch die von Goethe, Kleist und Heinrich Heine. Polina war eine sehr gute Schülerin und entsprechend selbstbewusst meldete sie sich nach dem Abitur bei der Universität. Die Aufnahmeprüfung für das Fach Germanistik ging ihr leicht von der Hand, dennoch wollte man sie an der Uni nicht haben. Die Ablehnung machte sie fassungslos, doch sie wusste, dass man mit den staatlichen Stellen der Sowjetunion nicht diskutieren konnte. Um Geld zu verdienen und um ihre Mutter zu unterstützen, arbeitete sie zunächst in einem Metall verarbeitenden Betrieb als einfache Arbeiterin. Dann wurde in Odessa eine technische Fachhochschule eröffnet. Polina wurde angeboten, ein Maschinenbau-Studium zu machen. Als Rachel mehr als 8000 Kilometer entfernt in der amerikanischen Kleinstadt Butler das Highschool-Diplom ablegte, arbeitete Polina in der Ukraine bereits als Ingenieurin in einem wissenschaftlich-technischen Institut. Nach und nach stellte sie fest, dass fast alle ihre Kollegen jüdisch waren. Man kannte sich, aber niemand sprach darüber. Wozu auch? Sie wussten ja fast nichts über die Religion ihrer Vorfahren. So war es kaum ein Zufall, dass der junge Mathematiker, in den sich Polina verliebte, auch Jude war. Von Bedeutung aber war es für die beiden damals nicht. Rachel hingegen war das Jüdischsein zu ihrer Identität geworden. Sie studierte Sonderschulpädagogik, unterrichtete schließlich in verschiedenen US-Bundesstaaten und schließlich wieder in Pennsylvania. Hier hörte sie Hameln, den Namen einer deutschen Kleinstadt, zum ersten Mal aus dem Mund eines jungen Deutschen, der nach seiner Promotion in Biologie als Postdoc in die USA gekommen war. Seine Zeit an einem Forschungsprojekt war von vornherein befristet, die gemeinsame Zukunft aber wollten sie nicht limitiert sehen. Für Rachels Vater war es ein Problem, dass seine Tochter einen nichtjüdischen Mann heiraten wollte. Vor allem weil sie bereit war, ihm in jenes Land zu folgen, in welches er nie einen Fuß setzen würde. Schließlich war in Bergen-Belsen ein Teil seiner Familie ermordet worden. Und er blieb diesem Prinzip selbst dann noch treu, als er sich mit seinem Schwiegersohn längst glänzend verstand. Zur Hochzeit in den USA wiederum war nur die Mutter des Bräutigams gekommen, deren Mann sich weigerte – vermutlich aus einem ähnlichen Grund, weshalb der Vater der Braut nicht nach Deutschland reisen wollte.
Ende der 1970er Jahre gab es in der Sowjetunion eine zaghafte Liberalisierung gegenüber den Religionsgemeinschaften. In jener Zeit wurde in Odessa eine Synagoge eingeweiht. Zu Polinas Überraschung ging die Mutter fortan an jedem Schabbat dorthin, und das trotz des weiten Weges zu Fuß. Zu Jom Kippur hatte sie die Mutter mal begleitet, aber in die Synagoge hat sich Polina nicht getraut. So wartete sie den ganzen Tag vor dem Gebäude, bevor der höchste jüdische Feiertag mit dem Sonnenuntergang zu Ende gegangen war und die Töne des Shofar nach draußen drangen. Die Traditionen des Judentums wird Polina erst mehr als ein Jahrzehnt später in Hameln kennenlernen, in dessen Nähe Rachel bereits seit 1982 lebte. Deren Mann war in den elterlichen Betrieb einer Champignonzucht eingestiegen und sie, als dessen jüdische Gattin, musste mit dem Gefühl klarkommen, in jenem Land zu leben, in welchem die Shoah generalstabsmäßig geplant und durchgeführt worden war. Noch lebte hier eine Generation, die zur Nazizeit bereits erwachsen gewesen war. Man begegnete diesen Menschen überall auf der Straße, in Geschäften, im Caféhaus. Immer wieder ertappte sich Rachel bei dem Gedanken, ob diese oder jene Person wohl ein aktiver Nazi gewesen sei. Als sie sich im Kreis ihrer neuen Familie einmal zu diesen Überlegungen bekannte, sprach ihr Schwiegervater Klartext. »Wir waren alle dabei, wir sind alle Nazis gewesen!«, sagte er und riet dazu, niemandem zu glauben, der versuchen würde, sich reinzuwaschen. Später wird Rachel über ihn sagen, er sei der einzige Mensch seiner Generation gewesen, der ihr gegenüber ehrlich war.
In Hameln gab es keine Juden mehr und das jüdische Leben fehlte Rachel. An einem Schabbat-Abend machte sie sich daher auf nach Hannover. Vor der Synagoge in der Haeckelstraße stand ein älterer Herr mit Kippa. Als sie sich näherte, dachte sie noch, dass das nett sei, von einem Gemeindemitglied begrüßt zu werden. Er aber sah die junge Frau nur stumm an und zeigte mit dem Daumen in die Höhe. Rachel vermutete, dass das ein niedersächsischer Gruß sei und so erwiderte sie diesen in gleicher Weise. Ohne mit ihr zu sprechen, wies er nun heftiger auf eine Treppe, die nach oben führte. Da verstand sie, was gemeint war. Sie würde nicht im Hauptraum der Synagoge sitzen, sondern gezwungen sein, entweder auf einer Empore darüber Platz zu nehmen oder wieder nach Hause zu fahren. In ihrer Gemeinde in Pennsylvania gab es so etwas nicht und auch nicht in anderen Synagogen, die sie in den USA besucht hatte. Mit jeder Treppenstufe steigerte sich ihre Verärgerung und als sie oben angekommen war, blickte Rachel auf lauter junge Frauen, wie sie eine war. Sie wirkten alle unglücklich. An jenem Schabbat lernte sie dort zwei von ihnen näher kennen. Schon kurze Zeit später unterstützte sie diese beiden Frauen bei der Gründung einer liberalen Gemeinde in Hannover. Endlich hatte Rachel ihre jüdische Heimat gefunden – eine halbe Autostunde von Hameln entfernt.
In der soeben untergegangenen Sowjetunion sprach es sich zu Beginn der 1990er Jahre unter den Juden herum, dass neben Israel auch Deutschland ihnen ein neues Leben in Freiheit und Wohlstand anbieten würde. Im Jahr 1992 hielt Polina die Ausreisepapiere für sich, ihre Tochter, die Mutter, den Schwiegersohn und die Enkelin in den Händen. Nun erst bekannte Polinas Mutter, dass sie der Gedanke, die ukrainische Heimat zu verlassen, sehr traurig mache. Sollte Polina die Mutter zurücklassen, jene herzliche Frau, mit der sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte? In ihrer Hilflosigkeit versprach sie ihr, im fernen Deutschland eine Synagoge für sie zu suchen und eine jüdische Gemeinschaft. Der Mutter gab diese Zusicherung sichtbar eine innere Stärke. Polina aber hatte keine Ahnung, wo im fernen Deutschland sie landen und wie die dortigen Verhältnisse sein würden.
Die erste Adresse in jenem fremden Land hieß Schloss Hasperde und die Zeit dort war schrecklich. In diesem winzig kleinen niedersächsischen Dorf waren sie auf engem Raum mit anderen Kontingentflüchtlingen untergebracht. Da man ihnen kein Geld gab, mussten sie das angebotene Essen annehmen. Die Hauptspeisen bestanden fast immer aus Schweinefleisch. Zeitlebens hatte Polinas Mutter das nicht gegessen und andere in ihrem Alter auch nicht. Eines Tages tauchte wie aus dem Nichts eine amerikanische Jüdin auf, eine taffe Frau, bei der das Schicksal einen komplett anderen Verlauf genommen hatte.
Rachel hatte aus einem Bericht in der Lokalzeitung erfahren, dass vor den Toren Hamelns jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion leben würden, unter menschenunwürdigen Bedingungen. War das die Chance für eine Mitzwa, eine gute Tat, zu der Juden seit biblischen Zeiten verpflichtet sind? In Schloss Hasperde lernte Rachel die Ukrainerin Polina kennen, die besser als alle anderen dort die deutsche Sprache beherrschte. Mit ihr gemeinsam stand sie fortan den Menschen bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen und Arztbesuchen zur Seite. Und Rachel sprach über die jüdische Religion. Polina, die alles, was Rachel erzählte, ins Russische übersetzte, erfuhr auf diese Weise ganz nebenbei eine Menge über die Tradition ihrer Vorfahren. Am Purimfest buk ihre Mutter wieder die leckeren Hamantaschen, wie sie Rachel und Polina seit frühester Kindheit kannten.
Die Zeit ging ins Land und die meisten der zugereisten Juden hatten bereits in Hameln und Umgebung einen Wohnsitz, als Rachel die Frage stellte, ob man nicht eine jüdische Gemeinde gründen wolle. Der Vorschlag wurde von einigen mit skeptischem Interesse, von anderen mit Begeisterung aufgenommen. Rachel wäre bereit gewesen, sich in einer russischsprachigen Gemeinde weitgehend zurückzuhalten und sich nur beim rituellen Geschehen gleichberechtigt einzubringen. Das aber war gar nicht erwünscht. Polina und viele ihrer Freunde waren gewillt, die Sprache der neuen Heimat zu erlernen und eine deutschsprachige Gemeinde zu gründen. Dies war die Stunde, in der Polina nicht nur dem Versprechen gegenüber ihrer Mutter gerecht werden, sondern sich auch einen Jugendtraum erfüllen konnte: Sie wurde Deutschlehrerin.
Einige Jahre später – Jahre der gemeinsamen Anstrengungen, geprägt von Rückschlägen, neuen Hoffnungen und Enttäuschungen für die junge Gemeinde – wurde am 20. Februar 2012 im Zentrum Hamelns die erste Synagoge nach dem Zweiten Weltkrieg eingeweiht. An jener Stelle in der Bürenstraße, wo bis zum 9. November 1938 die Synagoge jener Hamelner Juden stand, die wenige Jahre später mehrheitlich in die Vernichtungslager nach Polen deportiert worden waren. Mehr als sieben Jahrzehnte später haben Rachel und Polina, die in so unterschiedlichen Welten aufgewachsen waren, gemeinsam mit fast 200 Gemeindemitgliedern eine neue Heimat gefunden. Inmitten des Alltags der »Rattenfängerstadt« gibt es wieder jüdisches Leben. Das von Polina fand hier im Herbst 2019 ein erfülltes Ende.
Wege zu einer jüdischen Identität
Die Urgroßeltern, die einstmals in den verschiedenen Sowjetrepubliken lebten, wussten noch, was die jüdischen Feiertage bedeuteten, aber seit Stalins Zeiten hatten sie diese nicht mehr gefeiert. Als deren Kinder, Enkel und eben auch Urenkel ab 1991 in Richtung Deutschland aufbrachen, wussten diese nur deshalb noch, dass sie jüdisch sind, weil es im sowjetischen Pass als Nationalität eingetragen war. Jene Urenkel waren beim Umzug noch sehr jung oder wurden überhaupt erst in Deutschland geboren. So wuchs seit den 1990er Jahren eine neue Generation heran und die verschiedenen jüdischen Organisationen sahen es als ihre Aufgabe an, diese wieder an die Traditionen des Judentums heranzuführen. Die angebotenen Wege dorthin waren vielfältig und nicht alle endeten in den Synagogen. Verschieden waren auch die Entwicklungswege von Marina, Solomon, Amanda und Alexandra …
Am 1. März 1991 ist Marina Zusman zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Zug gefahren. Fünf Tage dauerte die Fahrt, mit der ihre Eltern, der kleine Bruder und sie von der moldawischen Hauptstadt Kishinjow aus via Moskau in Richtung Deutschland gereist sind. Das war fü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Inhalt
  4. Motto
  5. Vorwort
  6. Prolog: Leben mit den Juden – seit 1700 Jahren …
  7. Die zweite Generation
  8. Aus aller Welt
  9. Innovativ, individuell, jüdisch
  10. Die Rückkehr der Jüdischen Kunst
  11. Dein Gott ist auch mein Gott …
  12. Epilog: Zurück zu den Anfängen …
  13. Über den Autor
  14. Impressum
  15. Körber-Stifung