Kapitel 1 – Der ganz normale Alltagswahnsinn
Montagmorgen in einem ganz normalen Meetingraum. Helga Spieker, die eifrige Assistentin des Vertriebschefs Arno Pfeiffer ist überpünktlich, sprich schon 10 Minuten vor dem Beginn des Meetings vor Ort.
Steht die Leitung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Homeoffice, sind ausreichend Kaffee und Tee im Raum vorhanden? Einmal ausreichend Lüften kann auch nicht schaden.
Ungefähr zwei bis drei Minuten vor dem Beginn des Meetings trudeln die ersten Eingeladenen ein. Natürlich nicht alle. Manche haben keine Zeit, weil sie einen anderen Termin haben. Andere haben schlichtweg keine Lust und glänzen deshalb mit ihrem Nichterscheinen. Und dann gibt es die Menschen, die immer zu spät kommen.
Aber ein großer Teil der Eingeladenen ist schließlich doch anwesend. Zum Glück, sonst würde gar nichts gehen. Aber was dann wirklich geht, steht aktuell bislang aus.
Das Meeting hat noch gar nicht begonnen, aber schon jetzt wird es hochgradig spannend, wenn wir gemeinsam quasi hinter die Kulissen schauen und die Beteiligten sowie Handlungen analysieren.
Denn da gibt es Akteure und Claqueure. Letztere sind Menschen, die bei einem Theaterstück oder einer anderen öffentlichen Aufführung bezahlten Beifall liefern oder das eben auch in einem übertragenen Sinn tun, zum Beispiel in Meetings, in Betriebsversammlungen oder in der Kaffeeküche. Erstere bringen sich aktiv in das Geschehen ein, andere spenden nur müden Applaus.
Zu Beginn unserer Besprechung trudeln die Teilnehmer ein. Mit oder ohne Kaffeetasse. Mit oder ohne einen Spruch auf den Lippen. Die einen erklären langatmig, warum sie nicht pünktlich erscheinen konnten, weil dieses oder jenes Thema so wichtig war, dass sie dies unbedingt vor dem Beginn des Meetings noch klären mussten.
Andere kommen zu im letzten Augenblick und setzen sich schweigend in die Runde. So wird die Hierarchie im Unternehmensrudel zementiert. Denn wer zu spät kommt, ist definitiv kein Neuling oder Azubi, keine kleine Nummer. Wer zu spät zu einem Meeting auftaucht, darf jedoch auch nicht übertreiben. Denn es gilt auch hier die Regel: »Die Dosis macht das Gift«. Ein bisschen zu spät erscheinen gepaart mit leicht hektischen Zügen wirkt jedoch wichtig.
»So, wir legen jetzt los«, meint Arno Pfeiffer mit einem kurzen Blick in die Runde, denn mittlerweile haben sich auch Kai Stromer und Tom Flaurich aus ihrem Homeoffice zugeschaltet, »ich habe in 50 Minuten den nächsten Termin. Und unser anstehendes Kunden-Event plant sich ja nicht von alleine. Was wir brauchen, ist ein gutes Konzept für einen hybriden Event, der unsere Kunden begeistert.«
Während die Anwesenden sich gerade auf Arno Pfeiffer konzentrieren, erscheint Kai Stromers Gesicht auf dem Großbildschirm im Besprechungsraum. Man sieht, dass er spricht, aber man hört nichts. »Kai, du hast dein Mikro mal wieder nicht an, wir hören hier nichts!«, kommentiert Arno Pfeiffer mit einem dezenten Augenrollen. Während Kai Stromer hektisch nach der Lösung sucht, klinkt Tom Flaurich aus der IT sich in das Gespräch ein. Auch er arbeitet aktuell vom Homeoffice aus, hat seinen virtuellen Hintergrund eben von einem Palmenstrand zu einer Szene aus Starwars geändert und gibt den entscheidenden Tipp.
»Peter Hack fehlt noch«, merkt jetzt Helga Spieker an, »sollen wir nicht auf ihn wart…?« Sie hat den Satz noch nicht beendet, als genau dieser dynamisch den Raumbetritt betritt und mit seiner gewohnt bissigen Art fragt: »Wie jetzt, ihr habt noch gar nicht angefangen? Ist das hier ein Kaffeekränzchen oder was?«
Jetzt, da alle anwesend sind, startet das Meeting also offiziell und folgt seinen gewohnten Bahnen. Während der Vertriebsleiter dynamisch das Ruder übernimmt und die Powerpoint-Datei öffnet, die Frau Spieker noch am Freitagabend für ihn fertiggestellt hat, argumentiert Frank Helmholtz, seines Zeichens Leiter der Finanzabteilung, dass man sich erst einmal auf das Budget für das Event einigen solle, bevor man Details zum Konzept diskutiere. Er hätte da auch noch ein paar interessante Kennzahlen mitgebracht.
Während Frank Helmholtz und Arno Pfeiffer darüber diskutieren, ob man zuerst das Konzept oder zuerst das Budget besprechen solle, gibt es eine weitere Diskussion im Raum zwischen Nadine Ellmann, der Marketingleiterin, und Peter Hack, seines Zeichens übrigens Regionalleiter Süd. Peter Hack ist für seine zynische Art und sein aggressives Auftreten bekannt.
Dass er sich innerhalb weniger Minuten ein Wortgefecht mit der Kollegin liefert, die von vielen heimlich als Giftspritze bezeichnet wird, überrascht daher niemand. Wobei der Kommentar von Frau Ellmann, dass Herr Hack deshalb so aggressiv sei, weil er vermutlich unterzuckert wäre (die Geschäftsleitung hat in der vergangenen Woche das sonst übliche Gebäck in Meetings aus Kostengründen ersatzlos gestrichen) auch nicht besonders zielführend gewesen ist.
Während am Tisch die unterschiedlichen Diskussionen und Argumente mittlerweile kreuz und quer gehen, sitzt eine Person still da: Tina Kästel, eine junge Kollegin aus dem Marketing. Sie versteht die Welt nicht mehr. Das ganze Wochenende über hat sie an einer Präsentation gearbeitet und ein neues Konzept für das anstehende Kundenevent entworfen.
Eigentlich hatte sie mit ihrer Vorgesetzten besprochen, dass sie heute Morgen diesen Entwurf vorstellt und ist jetzt überrascht und enttäuscht, dass Arno Pfeiffer genau diese Aufgabe an sich gerissen hat. Sie wird während des Meetings auch nicht viel mehr sagen, als: »Wird es denn auch vegane Häppchen beim Kundenbuffet geben?«
Nach 50 Minuten ist die geplante Besprechungszeit vorüber, man trennt sich, ohne irgendein nennenswertes Ergebnis erzielt zu haben und mit der Absicht, im nächsten Meeting dann endlich Nägel mit Köpfen zu machen.
Kennen Sie solche Besprechungen, in denen es »drunter und drüber geht«, in denen die Effizienz in den Keller saust, weil es eher um persönliche Befindlichkeiten als um die Sache an sich geht?
Da wird stundenlang diskutiert und am Ende sind alle Beteiligten frustriert, weil nur so wenige Ergebnisse erzielt worden sind, obwohl ja alle an dem Termin mit beteiligt waren. Und der Frust hinsichtlich ineffizienter Meetings lässt die meisten Beteiligten zynisch oder schlecht gelaunt zurück.
Sollten Sie solche Besprechungen und die daraus resultierende Meeting-Kultur kennen, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Werfen wir dazu einmal einen Blick auf Zahlen, Daten und Fakten.
Wenn Ineffizienz ihr Unwesen treibt
In einer vom Elektronikdienstleister Barco durchgeführten Studie1 wurden mehr als 3000 Menschen weltweit gefragt, welche Faktoren entscheidend für die Effizienz von Meetings ist.
Die Studie zeigt sehr eindrücklich, dass Besprechungen oftmals Zeitfresser sind und zu Frustration bis hin zu Apathie führen können. Circa 50 % der Teilnehmer und Teilnehmerinnen gaben in der Studie an, dass sie regelmäßig an Besprechungen teilnehmen, die gar nicht relevant für sie seien oder bei denen sie nicht wüssten, was das Ziel des Meetings sei.
Da wird doch jede Menge Zeit und Geld verschwendet, oder?
Laut der Studie dauern Meetings im Durchschnitt 49 Minuten, wobei nur 44 % der Zeit (also gerade einmal 22 Minuten) wirklich effizient genutzt werden. Die restliche Zeit wird für den üblichen Small-Talk, das nervige Warten auf Teilnehmer oder das Besprechen irrelevanter Themen verwendet.
In einer vor einigen Jahren von der Unternehmensberatung Bain & Company durchgeführten Studie2 kam man zu dem Ergebnis, dass die gesamte Belegschaft in den untersuchten Unternehmen erstaunliche 15 % ihrer täglichen Arbeitszeit in Besprechungen verbringt mit steigender Tendenz.
Laut dieser Studie befinden sich Führungskräfte durchschnittlich gut zwei Tage pro Woche in Sitzungen mit mehr als drei Teilnehmern, während viele dieser Meetings häufig aus reiner Gewohnheit stattfinden anstatt einen Mehrwert zu generieren.
Auch in einer langfristig angelegten Harvard-Studie3 fanden Wissenschaftler heraus, dass schlecht durchgeführte Besprechungen echte Zeitkiller sind.
Mehr als 70 Prozent der Befragten gaben unproduktive Meetings als einen der Hauptgründe für Zeitmangel an. 65 % der Befragten nannten Besprechungen den Hinderungsgrund schlechthin, die eigenen Aufgaben zu schaffen. Und 62 % waren sogar der Meinung, dass Besprechungen der Teamzusammengehörigkeit schaden.
Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass die in der Studie befragten CEOs knapp 75 Prozent ihrer Arbeitszeit in Meetings verbrachten, wird das Ausmaß der Ineffizienz deutlich. Da wird nicht nur Zeit verschwendet, sondern eine ganze Menge Frustration auf vielen Ebenen erzeugt.
Wobei die schlechte Stimmung irgendwie hausgemacht zu sein scheint, wenn man einer schon etwas älteren Studie4 des Personaldienstleisters Robert Half Glauben schenkt, in der die Befragten die Gründe für unbefriedigend laufende Besprechungen meist bei den anderen Teilnehmern sehen.
So bemängelten 45 % der Studienteilnehmer ausufernde Diskussionen, die sich immer weiter vom eigentlichen Thema wegbewegen.
Warum führen Menschen in Organisationen dann so viele überflüssige und schlecht orchestrierte Besprechungen durch?
Die Antwort darauf ist vielschichtig.
Teils passiert dies aus reiner Gewohnheit, teils, weil Menschen Meetings als eine Bühne im Organisationszoo wahrnehmen.
Bevor wir uns diesem jedoch im nächsten Kapitel zuwenden, lassen Sie uns gemeinsam noch einen Blick auf ein weiteres schwarzes Loch der Ineffizienz in Organisationen werfen.
E-Mail-Pingpong für Fortgeschrittene
Besprechungen sind nicht der einzige Ort in einer Organisation, in dem Ineffizienz die unglaublichsten Blüten treibt. Man benötigt keinen Meetingraum und keine große Anzahl Beteiligter, sondern kann den Irrsinn auch vom eigenen Schreibtisch aus vorantreiben.
Peter Hack (Sie wissen schon, der zu spät kommende Regionalleiter Süd aus dem Besprechungsraum von vorhin) ist ein Spezialist darin.
Er stöhnt jeden Tag laut und ausgiebig über die Flut von E-Mails in seinem elektronischen Posteingang, schreibt aber fleißig jede Menge eigene E-Mails, die dann wiederum die Postfächer der Kolleginnen und Kollegen verstopfen.
Besonders häufig schreibt er an Nadine Ellmann, die Marketing-Leiterin, weil aus seiner Sicht mit ihr sowieso nicht vernünftig zu reden ist. Da haut er lieber in die Tasten und verbal auch auf die Pauke.
Wenn er sie dann via E-Mail daran erinnert, was sie noch nicht getan hat, aber sofort tun sollte, was sie falsch gemacht hat, warum er im Vertrieb den Durchblick hat und sie im Marketing eben nicht, kann man zuverlässig voraussagen, was als Folge dessen passiert.
Denn Nadine Ellmann lässt sich auf keinen Fall die sprichwörtliche Butter vom Brot nehmen. Von dem Krawallmacher Hack erst recht nicht. Also giftet sie zurück via E-Mail. Das geht ein paar Mal hin und her, bis die nächste das »...