Was Sie in diesem Kapitel erwartet:
Durch Methoden der Hirnforschung hat Coca-Cola vor einigen Jahren den Beweis für seine Überlegenheit gegenüber Pepsi erbracht. Die neue Disziplin mit Namen Neuromarketing sorgte für großes Aufsehen in der Presse. Was eigentlich ist Hirnforschung genau, und was kann sie zu einem besseren Verständnis des Verbrauchers beitragen[16]?
1957 landete der US-Amerikaner Vance Packard mit seinem Buch „Die geheimen Verführer” einen Bestseller. Was Packard schilderte, faszinierte Werber und Marketingmanager. Blankes Entsetzen dagegen lösten seine Enthüllungen bei Verbraucherschützern aus. Er berichtete darüber, wie amerikanische Unternehmen Konsumenten durch geheime Techniken manipulierten. In gewöhnliche Kino-Spielfilme wurden Bilder von Konsumprodukten so kurz eingeblendet, dass die Zuschauer nichts davon bemerkten. Die geheimen Werbebotschaften lagen also unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle. In den Supermärkten, die danach von den Zuschauern besucht wurden, stieg, so die Behauptung von Packard, der Konsum dieser Produkte überproportional an.
Offenbar gab es also unbewusste Mechanismen, die zum Kauf von Produkten führten. Das Faszinierende bzw. Erschreckende daran war nur, dass der Konsument nicht registrierte, wie sein Unbewusstes beim Betrachten beispielsweise eines Liebesfilms manipuliert wurde. Dieses Phänomen der unterschwelligen Wahrnehmung (subliminale Wahrnehmung) und seine Auswirkung auf das Kaufverhalten wurden inzwischen von der Psychologie und Hirnforschung bestätigt. Kontrovers diskutiert wird dagegen, wie stark deren Wirkung ist – es gibt wohl Effekte auf den Abverkauf, diese sind aber nicht sehr groß. Einige Versuche jüngeren Datums zeigen, dass nur direkt nach der Darbietung des unterschwelligen Reizes eine Veränderung der Produktpräferenzen erreicht wird, diese aber nicht anhält.[17]
1.1 Coca-Cola schlägt Pepsi im Gehirn
Fast 50 Jahre später, nämlich 2003, sorgten Berichte im Fernsehen und in der Publikumspresse für ähnliche Reaktionen wie die Veröffentlichung der geheimen Tricks der Konsumenten-Manipulation. In Presseberichten wurde eine Untersuchung veröffentlicht, die vom Brausebrauer Coca-Cola mit modernsten Methoden und Geräten der Hirnforschung durchgeführt wurde [13.8]. Während eine Reihe von Konsumenten Coca-Cola und Pepsi-Cola tranken, schauten ihnen Gehirnforscher direkt ins Gehirn. Das dazu verwendete Gerät war ein viele Millionen Dollar teurer Magnet-Resonanz-Tomograf (fMRI), mit dem man die Gehirnabläufe der Versuchspersonen bei Denkprozessen sichtbar machen kann. (Da wir im Laufe des Buches noch öfter auf diesen Apparat stoßen werden, nenne ich ihn ab jetzt einfach Hirnscanner.)
Das Ergebnis dieser Untersuchung: Im Blindtest, also ohne dass die Konsumenten wussten, welche Marke sie tranken, aktivierten Pepsi und Coca-Cola die gleichen Hirnbereiche; insbesondere ein Bereich im Stirnhirn, der für Belohnungsverarbeitung zuständig ist, wurde aktiviert (süßer Geschmack ist für das Gehirn Belohnung). Doch sobald bei der Getränkedarbietung das Coca-Cola- und Pepsi-Zeichen mit eingespielt wurde, veränderte sich das Bild im Hirnscanner. Beim Genuss von Coca-Cola leuchteten noch zusätzliche Bereiche im Mittel- und im Großhirn auf, bei Pepsi jedoch nicht. Und: Wenn der Konsument die Marken kannte, bevorzugte er überwiegend Coca-Cola. Obwohl nach den Gehirnbildern Pepsi im Geschmack gleich belohnend war, gab und gibt es offensichtlich eine mächtigere Gehirnregion, die ganz auf der Seite von Coca-Cola stand bzw. steht: das Großhirn.[18]
Wurde mit diesen Mitteln der Hirnforschung bewiesen, dass Coca-Cola die stärkere Marke ist? In Kapitel 13, „Hirnscanner: der Blick in die tiefste Seele des Kunden?” werden wir diese Untersuchung näher betrachten, wenn wir uns mit den Chancen und Grenzen des Neuromarketings beschäftigen.
1.2 Die Angst vor dem Gehirn-Big-Brother
Der Jubel bei Coca-Cola war groß, denn damit glaubte man, den objektiven Beweis des Vorsprungs geliefert zu haben. Doch die Freude wurde bald getrübt. Als der Versuch und seine Ergebnisse an die Öffentlichkeit kamen, gab es massive Gegenreaktionen von Verbraucherschutzorganisationen und Bürgerrechtlern. Die Schreckensvorstellung von globalen „Super-Big-Brother”-Konzernen, die mit geheimnisvollen Hightech-Maschinen direkt ins Gehirn des Konsumenten schauen konnten, machte die Runde. Gleichzeitig wurde dem Krankenhaus, dem der Hirnscanner gehörte, vorgeworfen, soziale Einrichtungen für schnöde kapitalistische Machenschaften zu missbrauchen. Inzwischen wurden in den USA eine Reihe von Bürgerinitiativen mit dem Ziel gegründet, solche Untersuchungen zu verhindern, jedoch ohne Erfolg. In Frankreich sind solche Untersuchungen bis heute allerdings verboten.
Aber der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, allenfalls verlangsamen – die Untersuchung von Coca-Cola erregte das Interesse von Universitäten und von Marketingverantwortlichen großer Konzerne. So entstand in den letzten Jahren eine neue Disziplin mit Namen „Neuromarketing”. Ihr Forschungsziel besteht darin, dem Konsumenten beim Denken und Entscheiden zuschauen zu können. Die großen Erwartungen der Marktforscher und Marketingabteilungen werden nicht zuletzt durch die unzähligen Berichte über Hirnforschung geschürt. Das Computer-Gehirnbild mit der vermeintlichen Lokalisation der Eigenschaften darf auch in Illustrierten nie fehlen. Diese bunten Gehirnbilder sind meist mit Unterzeilen versehen wie „Gehirnforscher haben entdeckt, wo Glaube/Gott/Sex/Autos/Erfolg in unserem Gehirn ihren Platz haben”. Dass solche Aussagen meist Humbug sind, stört ihre Beliebtheit nicht. Da insbesondere Manager eine besondere Freude an bunten Bildern und einfachen Erklärungen haben, eroberten Hirnbilder zunehmend die Vorstandsetagen. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Art der Konsumentenforschung falsch oder gar sinnlos sei. Aber ganz so einfach, wie die bunten Bilder und die zugehörigen Erklärungen es suggerieren, ist es nun mal nicht. Die Bilder zeigen nämlich nur, welche Gehirnbereiche an einer Denkoperation beteiligt sind, sie zeigen aber nicht, was der Konsument denkt, erlebt und fühlt.[19]
1.3 Was ist eigentlich Hirnforschung?
Vielleicht sind Sie jetzt etwas enttäuscht? Wie schön und spannend wäre es doch gewesen, dem Kunden und Konsumenten ganz einfach in den Kopf zu schauen und dabei seine unbewussten Wünsche und geheimsten Gedanken zu lesen. Verbraucherschützer, Bürgerrechtler und Moralphilosophen teilen die Enttäuschung aus nachvollziehbaren Gründen natürlich nicht. Und vielleicht stellen Sie jetzt infrage, ob die Hirnforschung überhaupt helfen kann, den wahren Wünschen und Bedürfnissen des Konsumenten und Kunden auf die Spur zu kommen?[20]
Sie kann. Wohl kein Wissenschaftsbereich hat nämlich in den letzten zwanzig Jahren einen solchen Aufschwung erlebt und solche wichtigen Erkenntnisse über das menschliche Denken und Handeln beigesteuert wie die Hirnforschung. Doch um zu verstehen, warum die Erkenntnisse der Hirnforschung so wichtig sind, müssen wir uns zunächst kurz damit beschäftigen, was Hirnforschung eigentlich ist.
1.4 Die Disziplinen und Methoden der Hirnforschung
Hört oder liest man von „Hirnforschung”, klingt das für die meisten sehr geheimnisvoll und kompliziert. Das liegt am Gehirn als Forschungsgegenstand selbst, aber auch an den vielfältigen wissenschaftlichen Unterdisziplinen, die das größte Geheimnis des Menschen, die Arbeitsweise seines Gehirns, mit unterschiedlichsten Methoden lüften wollen [1.2]. Zellbiologen beispielsweise beschäftigen sich mit dem chemischen und elektrischen Verhalten von einzelnen Nervenzellen oder Zellgruppen. Neurobiologen erkunden die Struktur unseres Gehirns, die Funktion einzelner Gehirnbereiche und wie sie zusammenspielen. Neurophysiologen beschäftigen sich mit chemischen und elektrischen Abläufen in unserem Gehirn. Neuroendokrinologen interessiert, wie Nervenbotenstoffe, also Neurotransmitter und Hormone im Gehirn wirken. Neurologen suchen bei Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns nach den Ursachen. Neurogenetiker schauen, wie bestimmte Gene unser Gehirn und damit unser Verhalten beeinflussen. Neuropsychologen schließlich untersuchen die Beziehungen zwischen Gehirnfunktionen und Verhalten mit den Methoden der experimentellen Psychologie.[21]
1.5 Das Babylon der Wissenschaft vom Menschen und Kunden
Nun werden Sie sagen, das klingt ja alles ganz interessant, was die Hirnforscher da so treiben, aber was hat das mit dem Kunden- oder Konsumentenverhalten zu tun? Reicht nicht die klassische Psychologie oder die empirische Marktforschung aus, um den Menschen, genauer den Konsumenten, und seine Bedürfnisse vollständig zu erklären? So wichtig und richtig die heutigen Erkenntnisse der Psychologie und der empirischen Marktforschung sind, sie haben ein Problem: Sie entstehen und entstanden durch Beobachtung des Kaufverhaltens oder durch Befragungen. Was dabei wirklich im Kopf des Kunden vorgeht, welche Motiv- und Emotionssysteme tatsächlich im Gehirn existieren und wie diese zusammenwirken und das Verhalten steuern, blieb der Psychologie und der Marktforschung weitgehend verborgen. Durch die Verknüpfung dieser Disziplinen mit den Forschungsergebnissen der Hirnforschung entsteht ein neues und faszinierendes Bild von dem, was im Kopf des Konsumenten wirklich vorgeht. Andersherum gilt das aber auch: Die Erkenntnisse der Hirnforschung erhalten nur in Verknüpfung mit der Psychologie eine praxisrelevante Erklärungskraft.[22]
Aber es gibt auch ein Problem: Jede der aufgezählten Disziplinen der Hirnforschung ist in ihren Methoden und Zielen hoch spezialisiert, spricht ihre eigene Sprache, publiziert in eigenen Zeitschriften und besucht die eigenen Kongresse. Durch die hohe Spezialisierung fehlt vielen Gehirnforschern meist das Wissen der Nachbardisziplin. Genau das aber ist ein Ziel von Brain View: Die Erkenntnisse dieser verschiedenen Forschungsrichtungen sollen so weit verdichtet und vereinfacht werden, dass der Marketing- und Verkaufspraktiker in seiner täglichen Arbeit etwas damit anfangen kann.
1.6 Ein fiktiver Rundgang durch das modernste Forschungsinstitut der Welt
Wenn wir auf die Frage „Warum kauft der Kunde?” eine Antwort suchen, dann dürfen wir uns nicht mit einfachen Rezepten zufriedengeben. Verheißungen wie „Wenn du deinen Kunden liebst, wird er auch dich lieben und bei dir kaufen”, sorgen auf Verkaufstrainings zwar für bestätigenden Applaus, tragen aber zum Verständnis, was im Kopf des Kunden geschieht, wenig bei. Gute Antworten finden wir nur, wenn wir uns die Zeit nehmen, die verschiedensten wissenschaftlichen Perspektiven vom und über den Menschen (= Kunde) zu betrachten, nach möglichen gemeinsamen Erklärungsmustern suchen und diese anschließend in die Marketing- und Verkaufspraxis übertragen. Aus diesem Grund wollen wir uns im Rest dieses Kapitels kurz mit den unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven beschäftigen, die fundiert dazu beitragen können, „das Geheimnis Kunde” zu lüften. Dem Ziel und Zweck des Buches gemäß hat die Hirnforschung ein besonderes Gewicht.[23]
Damit das Ganze für Sie nicht langweilig wird, möchte ich Sie zu einem kleinen Rundgang einladen. Wir besuchen ein riesiges, aber nur in der Fantasie existierendes Forschungsinstitut, das irgendwo in der Mitte zwischen Oxford, Cambridge, Harvard und Stanford liegt. Dieses Forschungsinstitut hat nur ein Ziel, nämlich das menschliche Denken und Verhalten aufzuklären. Unter dem Dach dieses Forschungsinstituts treffen wir auf Wissenschaftler aus den genannten Disziplinen der Hirnforschung. Wir sprechen aber auch mit Psychologen und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Marktforschern. Im Verlauf unseres Rundgangs werden wir nun erkennen, wie unterschiedlich Menschen und Kunden erklärt werden können.
Das Gehirn als Netzwerk
Im ersten Gebäude treffen wir auf jene Gehirnforscher, die sich mit der Funktion einzelner Nervenzellen oder großer Netzwerke aus Nervenzellen beschäftigen [1.4]. Sie erklären uns, dass das menschliche Verhalten im Wesentlichen auf informationstheoretischen Prinzipien basiert. „Das Gehirn ist nichts anderes als ein riesiges neuronales Netzwerk. Die Informationsspeicherung, das menschliche Lernen, basiert auf den Verbindungen der Nervenzellen im Netzwerk und verschiedensten Formen der Rückkopplung zwischen den Netzwerk-Zellen. Auch dem Rätsel des Bewusstseins sind wir schon auf der Spur. Bewusstsein kommt durch gleichzeitige Synchronisierung verschiedener Nervenzellen-Netzwerke im Gehirn zustande. Da unsere Bewusstseinsinhalte laufend wechseln, wechseln auch die Zentren, von denen diese Synchronisierungen ausgehen.” Natürlich interessiert uns, welche Relevanz diese Ergebnisse für Marketing und Vertrieb haben. Die Forscher überlegen kurz. Sie erklären, dass Markenimages hier eine sehr große Rolle spielen. Markenimages im Gehirn seien aus ihrer Sicht aber nichts anderes als große neuronale Super-Netzwerke, die aus verschiedensten kleineren Netzwerken im Gehirn bestehen. In diesen kleineren Netzwerken seien an unterschiedlichsten Orten im Gehirn Bilder, Vorstellungen und Emotionen gespeichert, die zusammen das Markenimage in unserem Bewusstsein bildeten.[24]
Vergleichende Hirnforschung
Tief beeindruckt gehen wir weiter ins nächste Gebäude. Dort sitzt die Forschergruppe, die sich mit vergleichender Hirnforschung beschäftigt, die Neurobiologen. Auf die Frage, warum man hier mit Affen arbeitet, wo es doch um menschliches Verhalten geht, reagiert einer der Wissenschaftler etwas pikiert. Er erklärt uns zunächst, man spreche heute wissenschaftlich korrekt von menschlichen Primaten (das sind Sie und ich!) und von nicht menschlichen Primaten. Dabei zeigt er auf unsere behaarten Kollegen im Käfig. Der Grund für diese Einteilung sei die hohe genetische Verw...