»Um Emotionen kümmert sich meine Frau, ich verkaufe Schrauben.«
Emotionale Verbraucherbedürfnisse wurden lange Zeit geleugnet, und noch heute tun sich insbesondere in technischen oder B2B-Bereichen Entscheider schwer, emotionale Bedürfnisse überhaupt anzuerkennen. Daher rührt auch das Zitat eines baden-württembergischen Schraubenherstellers. Ihre Existenz und auch Notwendigkeit hat sich zwar mittlerweile im Marketingumfeld vieler Anbieter herumgesprochen (und die »big spender« gehen ganz selbstverständlich damit um), aber das heißt noch lange nicht, dass alle darunter das Gleiche verstehen. »Emotional needs« erfahren in der Marketingpraxis eine oft unerträgliche Vereinfachung. Wo kommt diese Vereinfachung her und was ist damit genau gemeint?
Die Vereinfachung von emotionalen Bedürfnissen leitet sich ab aus der fatalen Verwechslung von Emotionen und Gefühlen. Emotionen, so wird jeder Mensch bestätigen, sind bewusst erlebbar, auch wenn tatsächlich Gefühle gemeint sind. Und Gefühle sind, nun ja, fühlbar. Wer lacht, weint, trauert oder eifersüchtig ist, der erkennt das auch. Der amerikanische Wissenschaftsautor Malcolm Gladwell diskutiert dies in seinem Buch »Talking to Strangers« unter dem Stichwort »Transparency«: Transparenz ist ein (u. a. durch ihn erneut widerlegter) Glaube, dass Menschen das, was sie fühlen, durch ihr Verhalten und ihre Mimik nach außen verständlich transportieren und für jedermann lesbar machen. Schuldige Menschen sehen schuldig aus, unschuldige eben unschuldig, voilà. Das passt hervorragend zum Menschenbild des vorhersehbaren, transparenten Homo oeconomicus.
Abb. 1: Der amerikanische Wissenschaftsautor Malcolm Gladwell (Quelle: Flickr, Foto: Kris Krüg)
Denn wenn der Mensch schon Emotionen hat, dann versteht man sie auch. Daher sind diejenigen Emotionen, die man Verbrauchern unterstellt, denkbar simpel. Beispielsweise wurde in unzähligen Produktkonzepten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte Verbrauchern »Freude«, »Neugier« oder das Bedürfnis nach »Abwechslung« und »Lifestyle« unterstellt – abgesehen davon, dass es sich bei diesen Dingen oftmals gar nicht um Gefühle oder gar Emotionen handelt, sondern allenfalls um »emotionale Zustände«, die ein Neuprodukt bedienen soll. Kann ein Brotaufstrich das Bedürfnis nach Freude erfüllen, oder handelt es sich um etwas anderes? Und, wenn ja, ist das nicht ein wenig zu hoch gegriffen? Und wenn wieder ja, machen das andere Brotaufstriche nicht auch? Die Überdramatisierung und Generalisierung völlig basaler emotionaler Bedürfnisse, die ein Produkt oder eine Marke angeblich bewirkt, führt in Marktforschungsuntersuchungen zuverlässig zu Abstoßungsreaktionen (Reaktanz) durch Verbraucher, die das Ganze als Marketing-Sprech demaskieren.3 Erschwerend kommt hinzu, dass das Prinzip der (zurecht) von Gladwell in Frage gestellten Transparenz immer noch allzu häufig das »guiding principle« der Marktforschung ist. Menschen wird die Fähigkeit zugesprochen, fundiert über ihre emotionalen Bedürfnisse zu sprechen. Das treibt seltsame Blüten, wenn z. B. Verbraucher in Gruppendiskussionen behaup[17]ten, stets die Rückseite von neuen Lebensmittelprodukten durchzulesen oder immer mit Blick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis zu kaufen. Marketing-Entscheider reagieren auf diese Aussagen schon mal mit Erleichterung, weil die inhärente Logik solcher Konsumentenprozesse so nachvollziehbar, so transparent klingt. Der Verbraucher ist also doch kein Rätsel! Aber wie der amerikanische Journalist Henry Louis Mencken formulierte: »There is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.« Der Geist des Homo oeconomicus, er ist noch nicht ganz ausgetrieben.
Plädoyer für Menschenbilder
Unter den prominenten Fürsprechern des aufgeklärten Menschenbilds des Homo oeconomicus ist der Australier Byron Sharp, der den rational gesteuerten Menschen zum neuen (alten) Ideal erhebt. Seine Argumentation findet in der Marketingszene breites Gehör, polarisiert aber auch. Seine Ausführungen zum »evidence-based Marketing« beinhalten die offene Kritik am Konstrukt des emotionalen Benefits von Marken und Produkten. Er verwendet in Vorträgen den Begriff der »Psycho Babble«, des psychologischen Gewäschs in Gruppendiskussionen: Psycho Babble ist nach Sharp das, was Verbraucher in Gruppendiskussionen mit esoterischen Worten als ihr seelisches Innenleben beschreiben, wenn sie an Marke X denken. Der spöttische Unterton kommt daher, dass er offenbar glaubt, dass diese allzu blumige Verbrauchersprache eher dem eigenen Antrieb entspringt, sich selbst reden zu hören, als der authentischen Wiedergabe von empfundenen Markenbedürfnissen. Und damit liegt er manchmal gar nicht so falsch.
»Psycho Babble« ist mit Sicherheit ein Problem, das wir im Methodenteil in den Kapiteln 4 und 5 aufgreifen. Festzuhalten ist aber dies: Nur weil es inkompetente psychologische Moderatoren und Analystinnen gibt, kann man nicht die Existenz seelischer Bedürfnisse als Ganzes in Abrede stellen.
Nun kann man Sharp für sein Menschenbild kritisieren. Aber man muss ihm zugutehalten, dass er überhaupt eines hat und sich wenigstens eine Vorstellung davon macht, wie der Konsument tickt. Die gängige Unschärfe, was »emotional needs« sind und wie Menschen Produkte und Marken wahrnehmen, führt im Zweifel zu generischen oder irrelevanten Produkten und oberflächlicher Kommunikation. Denn gar kein Menschenbild zu haben, macht Marketing zu einem Blindflug voller Überraschungen, da Entscheider nicht wissen, wie die qualitativen und quantitativen Informationen aus Research-Projekten zu interpretieren sind. Die Ergebnisse mögen spannend sein, aber eben äußerst willkürlich.
»Wenn man ein Hammer ist, sieht alles aus wie ein Nagel.«
Dieser Werbespruch zierte vor Jahren die Website eines Hamburger Marktforschungsinstituts. Er sollte als plakativer Beleg dienen für die Engstirnigkeit, die sich aus der [18]Festlegung auf ein Menschenbild ergibt. Und es stimmt: Wer sich auf ein Menschenbild festlegt, schließt damit andere Menschenbilder aus. Aber die Festlegung darauf, wie Menschen grundsätzlich »ticken«, ermöglicht eine fokussierte Herangehensweise an Positionierungen und Botschaften. Wie soll man beispielsweise aus den Wortprotokollen von 50 tiefenpsychologisch befragten Marktforschungsteilnehmerinnen und -teilnehmern (das sind etwa 700 DIN-A4-Seiten) schlau werden, wenn man nicht weiß, worauf es bei der Auswertung ankommt – getreu dem Goethe-Zitat »Man sieht nur, was man weiß«. Und das, was man findet, muss man dann erst einmal einordnen und priorisieren – eine Aufgabe, die ohne Menschenbild nicht funktioniert. Wenn das Marketing Entscheidungen auf einer bestimmten Annahme darüber fällt, wie Menschen ticken, ist es ratsam, diese Annahmen transparent zu machen und sich für ein Menschenbild zu entscheiden.