1.1 Als alles begann: Von Basel I zu Basel II
Die Forschungsarbeiten von E. I. Altmann3 Ende der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts markieren den Startpunkt von bankinternen Ratingverfahren. Mit Ratingverfahren sind im Allgemeinen mathematisch-statistische Methoden zu verstehen, mit denen sich die Bonität von Kreditnehmern einschätzen lässt. Diese sollen bei der Kreditvergabe eine rein qualitative Entscheidung durch Analysten ergänzen. Nur langsam und auch erst nach und nach wurden die zuvor akademisch erzielten Ergebnisse in die Bankpraxis übernommen und als Bewertungsmethode in der Kreditvergabe angewandt.
Während in den USA für große Unternehmen, Finanzinstitute oder Staaten externe Ratings vorhanden waren, war dies in Deutschland für die Mehrzahl der Kreditnehmer – Privatkunden, Gewerbetreibende und mittelständische Unternehmen – grundsätzlich nicht der Fall. Die Folge war, dass die Kreditentscheidungen meist »expertenbasiert« und nicht auf der Grundlage einer quantitativ abgeleiteten Bonitätseinschätzung erfolgte. Aber auch die regulatorische Eigenkapitalunterlegung erfolgte in der Vergangenheit lediglich anhand der Forderungsklassen und nicht anhand von Risikomerkmalen. Beispielsweise wurden unter dem Basel-I-Regime alle Unternehmenskredite mit 100 % gewichtet.
Mit der Verabschiedung von Basel II im Jahr 20044 sollte dieses Vorgehen der Vergangenheit angehören. Neben einem risikoadäquaten Standardansatz für Kreditrisiken, der für die Eigenkapitalunterlegung externe Ratings verwendet, wurde die Verwendung interner Ratingverfahren (Internal Rating Based Approach, IRBA) zugelassen. Auch Institute und Institutsverbände, die sich vor der Jahrtausendwende wenig mit dem Thema Ratingverfahren beschäftigt haben, begannen in dieser Zeit eigene Verfahren zu entwickeln mit dem Ziel, diese zukünftig zur Eigenkapitalunterlegung verwenden zu können. Durch Proberechnungen und sog. Quantitative Impact Studies (QIS) wurde bald klar, dass die Verwendung interner Ratingverfahren für eine Reihe von Forderungsklassen nicht nur eine bessere Risikoeinschätzung erlaubt, sondern auch – im Vergleich zum Standardverfahren – zu einer geringeren Eigenkapitalunterlegung führt. Bedingt durch diese auch politisch und aufsichtlich gewollte Anreizsystematik haben sich interne Ratingverfahren bei Groß- und Landesbanken sowie zahlreichen Spezialinstituten [22]daher rasch verbreitet. Die Sparkassen und Genossenschaftsinstitute blieben beim Standardansatz, auch wenn sie selbstverständlich Ratingverfahren im internen Risikomanagement verwenden.
In Deutschland ist Basel II zum 1. Januar 2008 über den Umweg der europäischen Richtlinie 2006/48/EG5 als »Verordnung über die angemessene Eigenmittelausstattung von Instituten, Institutsgruppen und Finanzholdinggruppen«6 (Solvabilitätsverordnung: SolvV) in Kraft getreten.
Im Vergleich zu bisherigen bankaufsichtlichen Regelungen war Basel II – und auch die SolvV – ungleich komplexer und enthielt sehr viel mehr Detailregelungen. Trotzdem war es im Hinblick auf die internen Modelle ein zentrales Prinzip, dass der sog. Use Test7 erfüllt werden muss: Ein internes Modell kann nur dann von der Aufsicht zugelassen werden, wenn es auch in der institutsinternen Steuerung eine prominente Rolle spielt. Nur dadurch entsteht der notwendige interne Qualitätsdruck, der dafür sorgt, dass Risiken adäquat bewertet werden. Um den Use Test zu ermöglichen, war es allerdings notwendig, den Instituten den für eine spezifische Umsetzung notwendigen Freiraum zu geben. An vielen Stellen des Regelwerks für IRBA wurden zwar Leitplanken gesetzt, aber trotzdem die Freiheit gelassen, innerhalb dieser Leitplanken unterschiedliche Wege zu gehen. Im Rahmen der aufsichtlichen Zulassungsprüfungen musste dann beurteilt werden, ob die gewählte institutsinterne Umsetzung sich noch innerhalb der Leitplanken bewegt.
Ein weiterer Grund dafür, dass in Basel II und der europäische Richtlinie 2006/48/EG bzw. SolvV IRBA-Details nicht genauer spezifiziert wurden, ist sicherlich auch, dass damals auf Seiten der Aufsichtsbehörden noch nicht das notwendige Wissen über die Tragweite dieser Details vorhanden war. Dieses Wissen konnte erst im Zuge einer mehrjährigen Prüfungspraxis und intensiven Beschäftigung mit den Verfahren erworben werden.
Auf europäischer Ebene wurde bereits früh die Gefahr gesehen, dass die Richtlinie zur Umsetzung von Basel II, so wie andere europäische Richtlinien auch, in Europa heterogen umgesetzt wird. Egal ob unbeabsichtigt oder beabsichtigt – z. B. um den nationalen Banken einen Vorteil zu verschaffen –, läuft eine heterogene Umsetzung europäischer Regeln dem Gedanken des gemeinsamen Binnenmarkts entgegen. Die Vorgängerorganisation der European Banking Authority (EBA), das Committee of European Banking Supervisors (CEBS), hat deshalb schon 2006 Leitlinien8 u. a. für den IRBA erlassen. Allerdings waren die Kompetenzen des CEBS – im Vergleich zum Mandat der EBA – beschränkt, sodass diese Leitlinien im Rückblick wenig bewirkten. Sowohl Institute als auch nationale Aufseher konnten sich immer darauf zurückziehen, dass es [23]sich »nur« um Empfehlungen handelte und nationales Recht bzw. die nationale Aufsichtspraxis jederzeit höher zu priorisieren war.
1.2 Von Basel II bis zur CRR
Fast parallel mit dem Inkrafttreten der Basel-II-Regelungen in vielen Ländern begann 2007/2008 die globale Finanz- und nachfolgende Staatsschuldenkrise. Zu den vielen bitteren Erkenntnissen, die in dieser Zeit gewonnen wurden, zählt auch die Tatsache, dass Modelle falschliegen können und insbesondere Risikomodelle und ihre Bestandteile nicht immer in der Lage sind, eine verlässliche Prognose zu produzieren. Risikomodelle sind in der Regel anhand historischer Daten parametrisiert und versuchen diese Daten in die Zukunft zu extrapolieren. Waren krisenhafte Entwicklungen in den historischen Daten nicht vorhanden, dann war meist nicht davon auszugehen, dass Krisen in Form von extremen Veränderungen verlässlich prognostiziert werden würden.
Nicht zuletzt auf Druck der Öffentlichkeit und der Politik begannen auf Seiten der Bankenaufsicht Überlegungen, ob und welche internen (Risiko-)Modelle zukünftig noch für die Eigenkapitalunterlegung zulässig sein sollten. Einer Fraktion, die (im Einklang mit den Interessensverbänden der Finanzindustrie) im Grunde alles so lassen wollte wie bisher, stand eine andere Fraktion gegenüber, die für eine vollständige Abschaffung interner Modelle und für strenge Standardverfahren plädierte.9 Letztlich zeichnete es sich ab, dass insbesondere in Europa folgender Weg in der Bankenregulierung beschritten werden sollte:
- Schaffung eines Single-Rulebook, das im Kern auf einer europäischen Verordnung für wesentliche Teile des Bankenaufsichtsrechts beruht
- Stärkung der Institution EBA und Übertragung zahlreicher Mandate zur Konkretisierung des europäischen Aufsichtsrechts
- Errichtung des Single Supervisory Mechanism in der Euro-Zone mit der Übertragung der Aufsichtsfunktion auf die Europäische Zentralbank (EZB)
Für das Thema interne Ratingverfahren haben alle drei dieser Maßnahmen entsprechende Auswirkungen gezeigt: 1) Mit der Veröffentlichung der EU-Eigenkapitalverordnung (Capital Requirements Regulation, kurz: CRR) 2013 waren die Anforderungen für die Kapitalunterlegung von Risiken nicht mehr national geregelt, sondern Teil einer europäischen Verordnung, die in allen Ländern der EU bis auf Freiheiten in der Übersetzung den selben Wortlaut hat. Die Möglichkeit, nationale Besonderheiten im Zuge der Umsetzung zu »regeln«, ist damit mit Ausnahme ganz spezifischer und gewollter nationaler Wahlrechte entfallen. 2) Das Mandat der EBA umfasst unter anderem die Aufgabe, die einheitliche Anwendung des Single Rulebook in Europa voranzutreiben. An die zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden gerichtete Leitlinien können [24]somit nicht mehr einfach »ignoriert« werden, sondern es gilt das Prinzip »comply or explain«. Das bedeutet, eine Nicht-Umsetzung von Leitlinien ist gegenüber der EBA bekannt zu geben und wird von dieser veröffentlicht. 3) Die von der EZB beaufsichtigten Institute haben in der Vergangenheit unterschiedlich strenge Regeln für die Verwendung des IRBA anwenden müssen. Um eine – über Landesgrenzen hinweg – einheitliche Aufsichtspraxis im Rahmen des SSM zu gewährleisten, ist die EZB seit 1. November 2014 mit Nachdruck bestrebt, die bisherigen Unterschiede zu nivellieren.
Im Zuge der erwähnten Zweifel an internen Modellen wurden – wie im nächsten Abschnitt dargestellt – sowohl vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht10 als auch von der EBA11 Studien durchgeführt, um zu untersuchen, wie stark die Ergebnisse interner Ratingverfahren von Banken differieren. In den Studien werden jeweils verschiedene Gründe für die – nicht auf unterschiedliche Kreditnehmer zurückzuführende – Variabilität der Ratings bzw. der darauf aufbauenden Eigenkapitalanforderung angeführt:
- Unterschiedliche Umsetzung der Anforderungen aus der CRR bzw. aus dem Baseler Rahmenwerk
- Unterschiedliche Abgrenzung der IRBA-Portfolios durch uneinheitliche Partial-Use-Regelungen
- Insbesondere für sog. Low Default Portfolios12 sehr unterschiedliche Modellierungsansätze
Bei der Beurteilung der Variabilität schwingt stets der Vorwurf mit, dass ein Teil der Institute bei der Risikoermittlung nicht »konservativ« genug sei. Wünschenswert ist damit nicht nur eine genaue, sondern auch eine besonders vorsichtige Ermittlung.13 Aus Sicht der Aufsichtsbehörden ist dies zwar nachvollziehbar, es besteht aber die Gefahr, dass damit der Use-Test-Gedanke konterkariert wird. Eine zu konservative und zwischen den Instituten zu einheitliche Risikomodellierung birgt die Gefahr, dass das Risikomodell immer weniger für die institutsinterne Steuerung brauchbar wird.