Neuromarketing in seiner engeren Definition basiert auf der Nutzung der bildgebenden Verfahren der Hirnforschung, um Kaufentscheidungen im Gehirn auf die Spur zu kommen. Die heute eingesetzten Verfahren sind vor allem das fMRI (functional Magnetic Resonance Imaging bzw. auf Deutsch funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), aber auch das MEG (Magnetoenzephalografie). Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit der wissenschaftlichen Grundlagenforschung und den Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieser Verfahren.
- Prof. Dr. Peter Kenning gibt uns einen Einblick über den Stand der Consumer Neurosciences.
- Prof. Dr. Bernd Weber und Dipl. Oec. Marcel Bartling betrachten das Thema aus der Perspektive der Neuroökonomie.
von Prof. Dr. Peter Kenning
Einführung des Herausgebers
Auf der Titelseite der Bild-Zeitung zu erscheinen, mag vielleicht das Ziel eines jeden Politikers sein. Für einen seriösen Wissenschaftler dagegen löst eine solche »Ehrung« erhebliche Schmerzreize aus, weil die Berichterstattung über seine Forschungsergebnisse in der Regel so verkürzt gerät, dass die Aussage schlicht falsch wird. Diese leidvolle Erfahrung musste auch Prof. Dr. Peter Kenning im Jahr 2003 machen. Er und sein Team, damals noch an der Universität Münster, gehörten zu den Ersten in Deutschland, die Hirnscanner in der Konsumforschung einsetzten. Sie fanden in der damaligen Untersuchung, dass starke Marken zu einer verminderten Aktivität des vorderen Großhirns führten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Bild-Zeitung titelte »Bewiesen: Beim Shoppen setzt der Verstand aus« und »Das ist ein Gehirn im Kaufrausch«. Dieser Bild-Zeitungsbericht wurde von anderen Publikumsmedien gierig aufgenommen – das »Neuromarketing« betrat damit die Bühne der Öffentlichkeit. Die Konsequenzen für Kenning und sein Team waren zweierlei: Erstens, den Begriff »Neuromarketing« durch den breiteren Begriff »Neuroökonomie« zu ersetzen, zweitens den Kontakt zur Publikumspresse eher zu vermeiden. Ohne Zweifel ist Prof. Dr. Kenning heute weltweit einer der kompetentesten und gleichzeitig seriösesten Wissenschaftler in der neurowissenschaftlichen Marketingforschung.
Der Autor
Prof. Dr. Peter Kenning ist seit 2014 Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insb. Marketing an der Heinrich-Heine-Universität. Er promovierte und habilitierte von 1997 bis 2006 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Rahmen seiner Habilitation nahm er zudem an dem Visiting Fellowship Program der Harvard University teil. Im Dezember 2011 wurde Prof. Dr. Peter Kenning von der damaligen Bundesministerin Ilse Aigner in den wissenschaftlichen Beirat »Verbraucher- und Ernährungspolitik« des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) berufen und im Jahr 2012 zudem in das Koordinationsgremium des Netzwerks Verbraucherforschung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), dessen Sprecher er seit Januar 2015 ist.
Die wissenschaftlichen Schwerpunkte von Prof. Kenning liegen u. a. in der Consumer Neuroscience, dem Handelsmarketing sowie der empirisch-quantitativen Marketingforschung.
1.1 Von Grenzgängern und Transdisziplinen
Die vielleicht spannendsten wissenschaftlichen Entwicklungen finden derzeit an der Grenzlinie zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften statt. Die Wirtschaftswissenschaften, die zum einen naturwissenschaftlich-mathematische Methoden nutzen, zum anderen in vielen Bereichen aber auch den Charakter einer Geisteswissenschaft haben, befinden sich derzeit genau in diesem Grenzbereich, ja mehr noch: Die Grenze verläuft genau durch sie hindurch. Die daraus resultierenden Spannungen bedingen gelegentlich, dass neue und ganz eigenartige Disziplinen entstehen, die als »wissenschaftliche Grenzgänger« den Versuch unternehmen, beide Welten miteinander zu verbinden. Eine solche Transdisziplin bildet die Neuroökonomik. Gegenstand der Neuroökonomik ist die systematische Integration neurowissenschaftlicher Methoden, Theorien und Erkenntnisse in die Wirtschaftswissenschaften. Ihr explizites Ziel ist es, eine »unified theory of human behavior« (Glimcher, Rustichini 2004) (mit) zu entwickeln, die im Kern auf neurobiologischen Begriffen, Konzepten und Theorieansätzen basiert.
Trotz ihres noch jungen Alters hat die Neuroökonomik bereits einige Konkretisierung in den Wirtschaftswissenschaften erfahren. Dabei wird häufig das Präfix »Neuro« mit einer etablierten ökonomischen bzw. betriebswirtschaftlichen Disziplin verbunden. So gibt es zum Beispiel die Begriffskombinationen Neuro-Finance, Neuro-Accounting, Neuro-IS sowie Neuro-Marketing. Alle diese Gebiete sind erst vor wenigen Jahren entstanden und weisen, wie in diesem Beitrag am Beispiel des »Neuromarketing« skizziert werden wird, eine gelegentlich auch vorwissenschaftliche Dynamik auf. Sie befinden sich überwiegend noch im Entdeckungszusammenhang und wecken Hoffnungen. Bei aller Aufbruchsstimmung sollte jedoch beachtet werden, dass eine gelegentliche Reflektion und Systematisierung des Erforschten und Erkannten notwendig ist, um Anschlussfähigkeit zu gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des vorliegenden Beitrags, dem Leser einen Einstieg in das Forschungsfeld des »Neuromarketing«, oder besser: Consumer Neuroscience, zu geben. Dies geschieht hauptsächlich aus einer wissenschaftlichen und deskriptiven Perspektive. Somit geht es darum, die Leser in die Lage zu versetzen, sich nach der Lektüre weitgehend eigenständig ein Bild darüber zu machen, was in diesem Themengebiet erforscht und diskutiert wird. Kurz gesagt ist das Ziel des Beitrags, bei aller angebrachten Vorsicht und Zurückhaltung eine neue theoretische und praktisch relevante Perspektive zu integrieren. Konkret werden dazu drei nicht ganz überschneidungsfreie, absatzwirtschaftliche Problembereiche gewählt. Mit dieser Auswahl soll dem interessierten Leser – der Positionierung des Beitrags im vorliegenden Buch entsprechend – ein erster Einstieg in das nach wie vor neue Themengebiet ermöglicht werden.
1.2 Das erste Gebiet – Die Markenforschung
Was wir wissen …
Eine breite Anwendung finden neuroökonomische Methoden, Theorien und Erkenntnisse seit mehr als zehn Jahren in der Markenforschung (vgl. für den Überblick: Plassmann et al. 2012 sowie Esch, Möll 2004). Die dort durchgeführten Studien folgten zunächst keiner expliziten Strategie. Vielmehr wurden isolierte Teilprobleme von verschiedenen Wissenschaftlern weltweit unabhängig voneinander erforscht. Dementsprechend »robust« waren die einzelnen Versuchsanordnungen. So konnte in einfachen Experimenten gezeigt werden, dass es kein spezifisches Markenareal im Gehirn gibt. Darüber hinaus bestätigen die Befunde einige im Markenschrifttum seit Jahren bekannte Ergebnisse. So zeigten die innovativen Studien von Deppe et al. (2005a), Deppe et al. (2005b), Erk et al. (2002), McClure et al. (2004) sowie Plassmann et al. (2007) die hohe Bedeutung der Emotionalisierung für den Markenerfolg. Sie ließen aber die Frage unbeantwortet, wie diese Emotionalisierung neurobiologisch erklärt werden kann. Überraschend war sicher der Befund, dass pro Warengruppe und Proband offensichtlich nur eine Marke in der Lage ist, den Entscheidungsprozess zu emotionalisieren (sog. »First-Choice-Brand-Effect«, vgl. Deppe et al. 2005a). Ebenfalls überraschend war das Ergebnis der Studie von Yoon et al. (2006), die zeigte, dass das in der Markenforschung populäre Konstrukt der »Brand Personality« einer Revision bedarf. Die hohe Anzahl von Fehlantworten bei der empirischen Konstrukt-Messung wurde damit erklärbar und gleichzeitig deutete sich an, dass die Konnektivität verschiedener Hirnareale eine wichtige Information darstellen könnte. Eine Vermutung, aus der heute eine ganz eigene, in der Marketingpraxis aber noch weitgehend unbekannte Methodik entstanden ist (vgl. Hubert et al. 2012) und die zu der Frage führt, ob die Konnektivität zweier Hirnareale einen Hinweis darauf geben könnte, wie stark die diesen Hirnarealen inhärenten kognitiven und affektiven Funktionen miteinander verbunden sind. Zudem konnte am Beispiel des Einflusses einer Medienmarke auf die Glaubwürdigkeitsbeurteilung (fiktiver) Schlagzeilen gezeigt werden, dass Marken das Ergebnis eines kognitiven Entscheidungsprozesses vorentscheiden können. Diese, einem Vorurteil ähnliche Wirkung (»Framing«) entfalten sie bereits, bevor die zu beurteilenden Informationen vollständig verarbeitet werden konnten (Deppe et al. 2005b). Darüber hinaus zeigte sich, dass diese Effekte auch im Zusammenspiel von Retail Brand und Produktmarke beobachtet werden können (Hubert et al. 2011). Eine weitere wichtige Erkenntnis brachte die Studie von Koenigs und Tranel (2008). Diese klinische Studie zeigte, dass Menschen mit einer klar umrissenen Schädigung im ventromedialen, präfrontalen Kortex nicht mehr in der Lage sind, Markeninformationen im Entscheidungsprozess zu integrieren. Für diese Probanden ist es mithin vollkommen unerheblich, welche Marke ein bestimmtes Produkt trägt. Ein Befund, der die Ergebnisse der Studie von Deppe et al. (2005) deutlich bestätigte.
…und was nicht
Ungeachtet dieser Ergebnisse ist nach wie vor unklar, wie eine Marke im Gehirn konkret entstehen bzw. gebildet werden kann. Neben der damit angesprochenen Effektivität ist kaum etwas darüber bekannt, wie effizient die einzelnen, denkbaren Instrumente zum Markenaufbau beitragen (vgl. hierzu auch Ahlert, Hubert 2010). Zwar gibt es einige von der Markenforschung entfernte Bildgebungsstudien zum Thema »Emotionalisierung visueller Stimuli«, die belegen, dass die Emotionalisierung das Ergebnis eines Lernprozesses ist (z.B. Cox, Andrade, Johnsrude 2005). Es ist aber nicht erforscht, ob diese Ergebnisse auf die Markenbildung transferiert werden können. Ein erstes Indiz hierfür lieferte eine Studie von Plassmann, Kenning und Ahlert (2007), die Hinweise auf die Bedeutung des (ventralen) Striatums für die Entstehung von Markenloyalität liefern konnte. Demnach erlaubt die Existenz von Aktivierungsunterschieden in diesem Areal die Vorhersage der Markenloyalität eines bestimmten Kunden. Um diesen Zusammenhang zu identifizieren, wurden die neuronalen Prozesse umsatzstarker A-Kunden mit denjenigen umsatzschwacher C-Kunden bei spezifischen Markenwahlentscheidungen untersucht. Abbildung 1 vermittelt einen Eindruck über die (farblich markierten) Aktivierungsunterschiede, die mit der Markenloyalität verbunden sind (zu den Details der Studie vgl. Plassmann, Kenning und Ahlert 2007).
Wie aber kann man die Entstehung solcher Aktivierungsunterschiede, die zu einem vorteilhaften (Markenwahl-)Verhalten führen, neurophysiologisch erklären? Oder mit anderen Worten: Wie lernt unser Gehirn, gegenüber einer bestimmten Marke loyal zu sein?
Abb. 1: Hirnareale, deren Aktivierung mit der beobachtbaren Markenloyalität korrespondieren (Plassmann, Kenning, Ahlert 2007)
Aus neuroökonomischer Perspektive konnte man darüber lange Zeit nur spekulieren. Einen wichtigen Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Fragen bildete dabei die lerntheoretische Basishypothese. Demnach wird das menschliche Verhalten grundsätzlich bestimmt durch das Anstreben von Belohnung bzw. die Vermeidung von Bestrafung. Bekannt ist, dass bereits der Konsum einer Leistung, ja sogar schon dessen Imagination (z.B. Fahren eines Sportwagens) Belohnungsaktivierungen induzieren kann (vgl. hierzu Schäfer et al. 2006). In diesem Kontext angesiedelte Studien zeigten zudem, dass die Perzeption bestimmter Produkt- und Werbestimuli mit der Aktivierung von Belohnungszentren einhergeht (vgl. Erk et al. 2002, Plassmann et al. 2007). Damit ließ sich neurophysiologisch begründen, wie Marken durch Werbung emotional aufgeladen werden können und, damit verbunden, Markenloyalität aufbauend auf Belohnungserfahrungen entsteht (vgl. hierzu ausführlich Kenning, Plassmann 2009). Letztlich geht es somit um die Ankopplung erfahrener Belohnungs- und Bestrafungswerte an einen zumeist visuellen Stimulus. Marken werden mithin nicht durch einen Anbieter gemacht – sie werden vielmehr durch den Kunden gelernt und im Gehirn oft unbewusst gebildet.
1.3 Das zweite Gebiet – Die Werbewirkung
Was wir wissen …
Bereits in den ersten Studien, die sich dem Thema »Werbewirkung« widmeten, konnte die hohe Bedeutung von Emotionen für die Werbewirkung bestätigt werden (z.B. Ambler et al. 1999, Klucharev et al. 2005, Plassmann et al. 2007). Da Emotionen aber nicht einer bestimmten Hemisphäre zugeordnet werden können, wurde die lange Zeit in der Werbeforschung propagierte und bisweilen stark vereinfacht dargestellte Hemisphärentheorie obsolet (vgl. Rossiter et al. 2001). Wenn es überhaupt möglich ist, ein so facettenreiches Konstrukt wie das der Emotion neural zu verorten, dann scheinen hierbei eher subkortikale Strukturen (z.B. Amygdala oder Striatum) maßgeblich zu sein. Besonders sinnvoll ist diese undifferenzierte Zuordnung von Emotionen (z.B. Angst) zu bestimmten Arealen (z.B. Amygdala) im Sinne einer lokalisatorischen Signifikanz angesichts der Komplexität von Emotionen (vgl. Ochsner, Gross 2005, S. 242) aber nicht. Aufgrund der hohen ökonomischen Bedeutung der Werbung widmete das vom World Advertising Research Center herausgegebene, renommierte International Journal of Advertising dem Thema »Advertising and the Brain« 2008 eine Sonderausgabe (vgl. hierzu Kenning, Marci, Calvert 2008). Diese Sonderausgabe vermittelt auch heute noch einen guten Überblick.
Abb. 2: Aktivierungsunterschiede zwischen attraktiven und unattraktiven Anzeigen (Plassmann et al. 2007)
…und was nicht
Zuwenig ist bisher darüber bekannt, welche Merkmale einer Werbung grundsätzlich in der Lage sind, Emotionen zu transportieren. Zwar konnte in einer fMRI-Studie von Plassmann et al. (2007) gezeigt werden, dass als attraktiv beurteilte Anzeigen eine belohnende Wirkung im Gehirn entfalten (vgl. Abb. 2). Hierzu wurde die neurale Wirkung von 30 realen Anzeigen unterschiedlicher Attraktivität miteinander verglichen (zu den Details der Studie vgl. Plassmann et al. 2007). Das Zentrum der durch die Attraktivität modulierten Hirnaktivierung bildete der Nucleus accumbens, eine Struktur im bereits erwähnten Striatum. Diese belohnende Wirkung attraktiver Anzeigen könnte erklären, warum diese mehr visuelle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und damit verbunden besser erinnert werden (vgl. Shimojo et al. 2003). Damit ist aber nicht gesagt, dass Werbung nur dann funktioniert, wenn sie mit einer Belohnungswirkung einhergeht. Im Gegenteil, auch besonders abstoßende Werbung wird gut erinnert, wie das oftmals bemühte Beispiel der Benetton-Werbung aus den Neunziger Jahren belegt. Der dieser Erinnerungsleistung zugrunde liegende, spezifische Mechanismus ist jedoch noch nicht bekannt und bildet einen Gegenstand der aktuellen Forschung. Ein weiteres Problem der neuroökonomischen Werbewirkungsforschung ist derzeit noch der methodische Trade-Off zwischen zeitlicher und räumlicher Auflösung, der eine Messung der Vorgänge auf der Ebene einzelner Neuronen oft nicht ermöglicht (vgl. Kenning, Plassmann, Ahlert 2007). Im Hinblick auf die...