Irrtum Nr. 1: Angst macht produktiv
Noch heute regiert in vielen Unternehmen Unsicherheit und Angst, vor allem bei Umstrukturierungen und in Krisensituationen. Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter darüber im Unklaren lassen, was eine anstehende Veränderung für sie bedeutet, handeln dabei nicht nur unsensibel, sie reduzieren auch messbar die Qualität der von den Mitarbeitern getroffenen Entscheidungen und senken dadurch die Erfolgswahrscheinlichkeit jeder noch so gut gemeinten Veränderung.
Ist unserer Schmerzzentrum aktiviert, z. B. bei Stress, hat dies negative Auswirkung auf die Balance der hirninternen Botenstoffe und damit das körperliche, geistige und emotionale Gleichgewicht. Die Aktivierung des Schmerzzentrums führt dazu, dass die Produktivität sinkt und komplexe Problemstellungen weniger souverän bewältigt werden können. Des Weiteren nehmen die Leistung des Immunsystems und die emotionale Stabilität ab. Dafür wird aber der Körper optimal auf Flucht oder Kampf vorbereitet – Reaktionen, die wir im heutigen Leben jedoch nicht mehr ausleben können.[28]
Beispiel
Srini Pilay, ein Assistenz-Professor an der Harvard Medical School, konnte gemeinsam mit seinem Team nachweisen, dass bei Entscheidungen unter Druck und Unsicherheit die neuronalen Zentren stimuliert werden, die auch aktiviert sind, wenn eine Person Angst und Ekel empfindet.
In einer Studie, die vom amerikanischen Psychologen Ronald Friedman durchgeführt wurde, sollten Versuchspersonen auf einem Blatt Papier einer Maus in einem Labyrinth den Weg ins Freie aufzeichnen. In einem Versuchsaufbau erwartete die Maus vor dem Labyrinth ein Stück Käse, in einem anderen Setting lauerte dort ein Raubvogel. Anschließend wurden die Probanden Kreativitätstests unterzogen. Die Gruppe, die die Maus zum Käse geführt hatte, konnte dort deutlich mehr Punkte erzielen als die Gruppe, die die Maus in Lebensgefahr brachte.
Die Aktivierung des Belohnungszentrums im Gehirn versetzt Menschen besser in die Lage, komplexe Probleme mit Kreativität zu bewältigen und ihre volle geistige Leistung abzurufen, als im Normalzustand. Außerdem fördert sie die seelische und körperliche Widerstandsfähigkeit.
Ein aktiviertes Schmerzareal (z. B. bei Stress) ... | Ein aktiviertes Belohnungszentrum ... |
hemmt höhere Hirnfunktionen, die für das rationale Entscheiden, die Kreativität und Produktivität zuständig sind | stimuliert höhere Hirnfunktionen und fördert damit Kreativität und Leistungsvermögen |
bereitet den Körper auf Kampf oder Flucht vor | |
beeinträchtigt das Immunsystem | fördert körperliche Widerstandsfähigkeit |
beeinträchtigt die emotionale Stabilität | fördert die emotionale Stabilität[29] |
Warum Menschen, die sich wohlfühlen, besser arbeiten können
Matthew Liebermann, ein bekannter Neurowissenschaftler an der University of California, stellt die These auf, dass das menschliche Gehirn sich vor allem deswegen so stark von anderen Säugetiergehirnen unterscheidet, weil der Mensch als Spezies in einem sehr viel stärkeren Maße von gut funktionierender sozialer Interaktion abhängig ist. Kooperation, Kollegialität und Altruismus, d. h. Handlungen, die sich nicht direkt oder kurzfristig positiv auf eine handelnde Person auswirken, sind laut Liebermann von elementarer Wichtigkeit für den kollektiven Erfolg des Menschen. Dies macht die Fähigkeit notwendig, sich in andere Personen hineinzufühlen und ihre Gedanken nachzuvollziehen, und es erfordert die Fähigkeit zur Kontrolle egoistischer Impulse, um andere nicht zu verärgern. Gute Beziehungen sind laut Liebermann für einen Menschen mindestens genauso wichtig wie Nahrung oder Schlaf.
Ein gutes Betriebsklima mit vertrauensvollen und kollegialen Beziehungen und einer offenen Kommunikationskultur leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Aktivierung des Belohnungszentrums bei Mitarbeitern. Es sorgt dafür, dass ein Maximum an Engagement, Kreativität und Problemlösungskompetenz zur Verfügung steht. Führungskräfte, die hirngerecht führen wollen, sollten ihre Mitarbeiter also inspirieren, indem sie sie ermutigen, anleiten, coachen und wertschätzendes Feedback geben. Schwelende Konflikte, die nicht angegangen werden, oder Kritik, die vom Mitarbeiter als unfair empfunden oder gar einschüchternd empfunden wird, sorgen hingegen hirnbiologisch nachweislich zu einer Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit und damit für schlechtere Entscheidungen.[30]
Warum Kritik länger wirkt als Lob
Sie kennen das sicherlich: Jemand gibt Ihnen Feedback mit mehreren guten Aspekten und einer negativen Beobachtung. Woran werden Sie sich am nächsten Tag noch erinnern? Tatsächlich scheint uns Kritik stärker und länger zu berühren, als Lob dies vermag. Durch Kritik wird das Schmerzareal im Gehirn aktiviert, was über einen mehrstufigen Prozess zur Ausschüttung des Hormons Cortisol führt.
Umgekehrt führen Anerkennung und Lob dazu, dass das Belohnungszentrum im Gehirn anspringt, was über komplexe Abläufe u. a. die Produktion des Hormons Oxytocin anregt. Letzteres wird vom Körper jedoch sehr viel schneller wieder abgebaut als Cortisol. Das könnte der neurobiologische Grund dafür sein, dass uns kritische Rückmeldungen länger beschäftigen als positives Feedback. All diese Mechanismen wirken natürlich auch, wenn es um Feedback an Mitarbeiter geht.
Judith Glaser, eine Anthropologin, hat in mehreren Untersuchungen mit Managern die Häufigkeit bestimmter Führungsverhalten untersucht, die entweder Stress oder Wohlbefinden induzieren. Auch wenn die positiven Verhaltensweisen bei den befragten Entscheidern überwogen, räumten doch 85 % ein, dass sie mitunter Verhaltensweisen an den Tag legen, die das Vertrauensverhältnis zu ihren Mitarbeitern dauerhaft schädigen könnten.[31]
Häufigkeit von Führungsverhalten
Hirngerechte Führung hat also viel mit dem konkreten Verhalten und damit mit der inneren Haltung und der Impulskontrolle eines Managers zu tun. Das Knifflige dabei ist, dass stressinduzierendes Führungsverhalten wesentlich länger nachwirkt, als Handlungen, die das Wohlbefinden eines Mitarbeiters fördern. Führungskräfte, die innerlich ausgeglichen sind, sind hier daher deutlich im Vorteil.
Irrtum Nr. 2: Wir entscheiden rational, und das ist gut so
Wohl die meisten Führungskräfte glauben daran, dass sie ihre Entscheidungen rein aufgrund rationaler Erwägungen treffen. Doch das ist ein Irrtum.
Ab einer gewissen Komplexität gibt es keine menschlichen Handlungen und Entscheidungen mehr, die allein auf rationalen, objektiven Fakten beruhen. Die Belohnungs- und Schmerzzentren bewerten anstehende Entscheidungen nach bereits gemachten Erfahrungen. Sie sind an allen Verarbeitungsprozessen bewusst oder unbewusst beteiligt und beeinflussen diese. Rationale Argumente, die die emotional gefärbte Entscheidung oder Handlungen für die eigene Person und die Außenwelt nachvollziehbar machen, werden nachweisbar erst später von den höheren Hirnfunktionen generiert.
Beispiel
In jedem größeren Unternehmen ist dies alljährlich im Budgetprozess nachzuvollziehen. Prognosen hinsichtlich Umsatz und Kosten oder Entscheidungen für oder gegen Investitionsprojekte fallen je nach Tagesform, politischer Absicht und ausgeübtem Druck von oben anders aus. Die rationale Rechtfertigung dieser Entscheidungen ist dagegen in den meisten Fällen ein nachgelagerter Schritt. Das hat mit Objektivität nur wenig zu tun.[32]
Dies führt zu allerlei strukturellen Fehlern im menschlichen Entscheidungsverhalten, die u. a. vom Nobelpreisträger in Ökonomie Daniel Kahnemann in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ anschaulich beschrieben wurden.
Empathie macht erfolgreich
Gute Führungskräfte scheinen neben der rationalen Faktenlage auch emotionale und soziale Aspekte in ihre Entscheidungen mit einfließen zu lassen. Eine zentrale Rolle spielt dabei offenbar die Fähigkeit, sich in die Personen hineinzuversetzen, die von einer bestimmten Entscheidung betroffen sind, und deren emotionale Reaktionen und die Auswirkungen, die diese auf das Unternehmen als Ganzes haben, mit ins Kalkül zu ziehen.
Roderick Gilkey, Professor für Management und Psychiatrie an der Emory University im US-amerikanischen Atlanta, hat mit seinem Team untersucht, was passiert, wenn Manager strategische Entscheidungen treffen. Sie konfrontierten eine Gruppe von erfahrenen Führungskräften mit verschiedenen Entscheidungsproblemen, baten sie um ihre Analyse und Empfehlungen und scannten währenddessen ihre Gehirne in einem fMRT. Verschiedene Regionen des präfrontalen Cortex sind für abstraktes Planen und Handeln zuständig. Gilkey und sein Team erwarteten also eine erhöhte Aktivität in diesen Bereichen. Tatsächlich waren bei den Führungskräften, die die besten Lösungsansätze zu den Problemszenarien fanden, nicht nur diese Areale aktiviert, sondern auch verschiedene andere neuronale Netzwerke, die mit sozialen und emotionalen Erwägungen in Verbindung gebracht werden.[33]
Gute Führungskräfte können ihre Emotionen steuern
Ein weiterer Aspekt guter Führung scheint der richtige Umgang mit den eigenen Emotionen zu sein. Eine Führungskraft hat nicht nur in der Sacharbeit eine Vorbildfunktion, sondern auch, was Emotionen anbelangt. Emotionen, gleichwohl ob negativ oder positiv, sind, bedingt durch das menschliche Empathie-System (siehe hierzu das Kapitel „Der wa...