1.1 „Frauen und Männer sind überhaupt nicht so unterschiedlich”
„Frauen und Männer sind überhaupt nicht so unterschiedlich! Die Unterschiede zwischen allen Männern und allen Frauen sind innerhalb des Geschlechts größer als zwischen allen Frauen und allen Männern.”
Diese Aussage ist sehr beliebt, wie mir scheint, besonders an den Universitäten. Aber sie ist so nicht zutreffend.
Forschungsergebnisse der Humangenetik
Die Varianzen zwischen allen Frauen sind groß, also die Vielzahl der möglichen Charakteristika, Fähigkeiten und Eigenschaften. Die schiere Menge der Unterschiede zwischen allen Männern ist noch größer als die Unterschiede zwischen den Frauen. Das hängt mit dem Geschlechtschromosom zusammen. Frauen besitzen zwei X-Chromosomen als 23. Chromosomenpaar, die füreinander quasi als Sicherheitssystem dienen. Alle Gene sind somit doppelt vorhanden, und wenn ein Gen auf dem einen X-Chromosom beschädigt ist, kann es durch das andere ausgeglichen werden. Bei Männern gibt es kein zweites Set „Ersatzgene”. Dies ist die wissenschaftliche Erklärung für die Tatsache, dass so viel mehr Männer als Frauen farbenblind sind: Das Gen für Farbsicht liegt auf dem X-Chromosom genau dieses 23. Paares. Bei Frauen müssen schon beide Gene Defekte aufweisen, damit sie farbenblind werden. Gleiches gilt etwa für die Intelligenz, wie der Professor für Humangenetik, Horst Hameister, nachweisen konnte: Es gibt bei Männern sehr viel mehr „Ausreißer” nach unten und nach oben auf der IQ-Skala, also deutlich mehr mit einem IQ unter 70 und über 135. Bei Frauen werden die Werte gemittelt.1[38]
Frauen haben überall dort einen Vorteil, wo Unzulänglichkeiten auf einem der beiden X-Chromosomen durch eine „bessere” Codierung auf dem jeweils anderen neutralisiert oder zumindest abgemildert werden können. Männer hingegen haben den Vorteil bei der Anlage von Spitzenbegabungen, weil diese nicht „nach unten korrigiert” werden.
Abb. 2: IQ-Verteilung bei Frauen und Männern
Quelle: Horst Hameister
Der inzwischen emeritierte Professor für Psychologie Norbert Bischof hat schon früh ausführlich mit der Professorin Doris Bischof-Köhler, seiner Frau, über Geschlechtsunterschiede geforscht.2 Dabei wies er neben vielem anderen nach, dass die Mehrheit der Frauen und die Mehrheit der Männer bei vielen Merkmalen hinsichtlich der Ausprägung voneinander abweichen. Die gesamte Skala einer Eigenschaft, zum Beispiel bei der mathematischen Begabung, mag bei beiden Geschlechtern existieren, aber die Mehrheit der Männer wird dabei eine stärkere Ausprägung zeigen als die Mehrheit der Frauen. Das führt natürlich nicht zu der Aussage, dass es keine Frauen mit hoher mathematischer Begabung gibt. Es sagt auch nicht aus, dass mathematisch begabten Frauen ihre Weiblichkeit oder die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht abgesprochen wird. Es besagt nur, dass es mehr Männer mit einer starken Ausprägung dieses Merkmals gibt. Es ist eine statistische Feststellung, keine Bewertung.[39]
Stereotype über männliches und weibliches Verhalten
Norbert Bischof hat in diesem Zusammenhang übrigens auch untersucht, wie Stereotype sich äußern. Dabei erwies es sich, dass die am häufigsten wahrgenommenen Unterschiede zwischen Frauen und Männern an Bedeutung zunehmen, sodass sie sich extremer äußern, als sie tatsächlich sind. Eine Ähnlichkeit bleibt jedoch bestehen. Wenn es also heißt, dass (alle) Frauen nicht einparken können, ständig Schuhe kaufen und die Kreditkarten ihrer Partner plündern, oder wenn Männer angeblich alle autobegeisterte Biertrinker sind, die jedem Rock hinterherjagen, dann mag dies zwar für viele Personen im Grundsatz zutreffen, aber bei Weitem nicht in dem Maße, wie es den meisten Menschen erscheint.
Abb. 3: Tatsächliche Verteilung von Geschlechtsunterschieden (A)
Veränderung der Wahrnehmung bei Geschlechtsstereotypen (B)
Quelle: Norbert Bischof, 1980
1.2 „Die Geschlechter gleichen sich immer mehr an”
[40]Bereits in meinem zweiten Buch, das 2011 erschienen ist, griff ich diese Behauptung auf und widerlegte sie ausführlich. Doch sie hält sich weiterhin hartnäckig. Frauen und Männer gleichen sich nicht an. Und auch die angebliche Existenz von metrosexuellen Männern ist kein Beleg für diese These.
Der Mythos vom metrosexuellen Mann
1994 führte Mark Simpson in einem Artikel für die britische Zeitung The Independent den Begriff des Metrosexuellen ein und beschrieb ihn so: „Der metrosexuelle Mann, der junge Single-Mann mit einem hohen verfügbaren Einkommen, der in der Stadt arbeitet oder lebt (weil sich hier die besten Geschäfte befinden), ist vielleicht die vielversprechendste Konsumenten-Zielgruppe des Jahrzehnts. In den Achtzigern war er nur in Modemagazinen wie etwa GQ zu finden, in Fernsehwerbung für Levis Jeans oder in Schwulenbars. In den Neunzigern ist er überall, und er geht shoppen.”3
Bei alledem ist zunächst festzuhalten, dass der britische Mann traditionell besonderen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild legt, wie unter anderem das bis heute hohe Ansehen der Herren-Maßschneider in der Savile Row Londons belegt. Ein Bespoke-Anzug gilt heute international als Statussymbol. Überdies gilt London spätestens seit den 1960ern als Geburtsort vieler Musik- und Modetrends. Der junge britische Großstadtmann ist also nicht unbedingt als Blaupause für eine breite gesellschaftliche Strömung anzusehen, sondern vielmehr als Speerspitze einer zeitgeistigen Jugend, die ihren Ausdruck sucht. Ständige Veränderung und Erneuerung sind die Kennzeichen dieser nachwachsenden jungen Generationen, die ihre Moden Dank der Medien schnell international verbreiten.[41]
Kennzeichen des Metrosexuellen
Erst 2002 begann der von Mark Simpson erfundene Begriff des metrosexuellen Mannes sich rasant zu verbreiten. Und dann auch schon in einem falschen Zusammenhang, denn Simpson wies explizit auf den Single-Status des von ihm beschriebenen Typus’ hin. Bekannt wurde der Begriff aber durch die brillante Vermarktung des Fußballers David Beckham durch seine Frau Victoria. David Beckham ist ein Familienvater, immer wieder auch ein beliebtes Unterwäsche-Model, der sein Styling aber seiner Frau zu verdanken hat, die inzwischen auch ihre eigene Modemarke herausbringt. Das Bild, das hier entstand, hatte mit Simpsons ursprünglicher Definition überhaupt nichts mehr gemein. Simpson hatte für seinen Artikel durch Beobachtungen in seinem direkten Umfeld formuliert, was die Kennzeichen des Metrosexuellen waren:
„Der metrosexuelle Mann trägt Davidoffs „Cool Water” After-Shave (das mit dem nackten Bodybuilder am Strand), Paul-Smith-Jackets (Ryan Giggs trägt sie), Kord-Hemden (Elvis trug sie), Chinohosen (Steve McQueen trug sie), Motorradstiefel (Marlon Brando trug sie), Calvin-Klein-Unterwäsche (Marky Mark trägt nichts anderes). Der metrosexuelle Mann ist ein Warenfetischist: ein Sammler von Fantasien über Männlichkeit, die ihm über die Werbung verkauft wird.”4
Dass der Mythos vom metrosexuellen Mann nicht totzukriegen ist, liegt sicher auch an der Hoffnung der Menschen, ihre Identität zu einem großen Teil selbst zu bestimmen. Schon 1947 hat Erich Fromm verschiedene Sozialcharaktertypen beschrieben, darunter den der Marketing-Orientierung. Dieser Typus lebt nicht nach eigener Identität, sondern er versucht sich stets so zu verhalten, wie es ihm den höchsten (vermeintlichen) Wert verschafft. Ob seine Bemühungen erfolgreich sind, misst dieser Typus am Grad der sozialen Akzeptanz, die er von anderen erfährt.5[42] Heute wollen schon kleine Kinder beliebt oder cool sein. Beides dient der Steigerung des sozialen Werts und der Gruppenzugehörigkeit.
Die Kultur ist eine sehr dünne Decke, die immer dann reißt, wenn der Mensch in Notlagen gerät. Dann zeigt sich meist bei jedem Menschen, wie stark die „natürlichen” Impulse sind. Einmal beklagte sich eine ältere Dame in der Fragerunde nach einem meiner Vorträge über einige Unarten ihres Gatten. Dann fragte sie mich, ob sie es noch erlebt, dass ihr Mann sich noch ändern wird. Sie schaute sehr enttäuscht, als ich ihr mitteilen musste, dass die Natur rund 50.000 Jahre für einen Evolutionsschritt benötigt. Und so ist festzustellen, dass eine biologische Annäherung zwischen den Geschlechtern – und nur eine solche ist dauerhaft und keinen zeitgeistigen Moden unterworfen – womöglich stattfindet, jedoch in einem Tempo, das die Veränderung erst nach Tausenden von Jahren in der Rückschau feststellbar sein wird.
Der metrosexuelle Mann – eine Erfindung von Werbeagenturen
[43]Angesichts der Hartnäckigkeit des Gerüchts, Frauen und Männer würden sich angleichen, habe ich mich umso mehr gefreut, als ich einen Artikel in L’Officiel Homme, einer Modezeitschrift für Herren, fand, in der ein männlicher Autor aus Frankreich ein Wort zur Klärung verlauten ließ:
„Um der Frage auf den Grund zu gehen, ob Frauen wirklich Augen für Männer haben, die sich um ihr Aussehen kümmern, ist es zunächst notwendig, mit einer urbanen Legende aufzuräumen: Bitte vergessen wir endlich den „metrosexuellen” Mann! Diese Kreatur hat nie existiert. Sie tauchte vor etwa fünfzehn Jahren in der Frauen-Presse auf. Plötzlich wurde dort ein Typ herbeifabuliert, der sich mit Cremes einschmiert und die Körperpflege zelebriert. Lassen Sie uns das hier klarstellen: Diese Männer sind eine seltene Ausnahme. Der metrosexuelle Mann ist in erster Linie eine Erfindung von Kosmetikmarken und Werbeagenturen, um den Beauty-Market für Männer lukrativer zu gestalten. Deshalb erklären wir an dieser Stelle ein für alle Mal: Der metrosexuelle Mann ist tot, es lebe der stilvolle Mann!”6
Das Gedächtnis der Menschen ist offenbar sehr kurz, denn sonst würden sie sich an die Jugendkulturen, Trends und die gesellschaftlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte erinnern, die sie ja selbst durchlebt haben! Wir könnten weiter in der Geschichte zurückgehen, doch ein Blick bis in die 1960-er Jahre genügt vollauf. Seither gab es immer wieder Phasen, in denen die Geschlechter zueinander und wieder voneinander weg mäanderten. Um es nur kurz aufzuzählen:[44]
In den 60er-Jahren gab es die Mods. 1966 revolutionierte Yves Saint Laurent (erneut) die Mode, als er als erster Designer einen Damen-Smoking präsentierte. Seither sind Hosenanzüge aus keiner Damengarderobe mehr wegzudenken.
In den 70er-Jahren war David Bowie das Vorbild für Androgynität. Dann kam der Glam Rock.
In den 80er-Jahren gab es New Wave und New Romantic. Im selben Jahrzehnt nahm die Frauenmode maskuline körperliche Attribute auf und überzog sie gänzlich in Form von Schulterpolstern, mit denen frau nur noch seitwärts durch eine Tür kam.
In den 90er-Jahren war viel erlaubt. Die rückblickend größte Bewegung kam durch House und Techno. Die Loveparade war stark von den Umzügen zum Christopher Street Day beeinflusst. Beide waren durch fantasievolle, körperbetonte und vor allem freizügige Verkleidungen über alle Geschlechter und sexuellen Ausrichtungen hinweg gekennzeichnet. Schminke gehörte selbstverständlich auch dazu. In den Clubs gehörte es in jenen Zeiten zum guten Ton, der liebevoll...