1.1 Netzwerkcharakter der Industrie 4.0
Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0). Durch das Internet getrieben, wachsen reale und virtuelle Welt immer weiter zu einem Internet der Dinge zusammen. Die Kennzeichen der zukünftigen Form der Industrieproduktion sind die starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Großserien-)Produktion, die weitgehende Integration von Kunden und Geschäftspartnern in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse und die Verkopplung von Produktion und hochwertigen Dienstleistungen, die in sogenannten hybriden Produkten mündet. Unternehmen müssen ihre Produkte und Dienstleistungen weltweit wettbewerbsfähig halten, was allein durch gute Qualität nicht mehr möglich ist. Preis, Schnelligkeit und Individualität sind mitentscheidend, auch weil auf internationalen Märkten die Bedürfnisse und die Nachfrage der Kunden kurzfristigen und starken Schwankungen unterworfen sind. Ohne Flexibilität können Unternehmen nicht mehr gegen die internationale Konkurrenz bestehen.
1.1.1 Digitalisierung
[10] Ebenso bedeutsam für den wachsenden Flexibilitätsbedarf ist der informationstechnische Fortschritt. Ausgangspunkt ist die Digitalisierung als wesentlicher Trend des Strukturwandels. Sie befähigt als Querschnittstechnologie viele Branchen, erfolgreicher zu wirtschaften und zu wachsen. Unternehmen sind in der Lage, zunehmend ihre Systeme miteinander zu vernetzen und damit eine ganz neue Dimension hinsichtlich des Austauschs von Daten zu schaffen. Ein weiteres Merkmal der neuen Entwicklung ist, dass Maschinen und Anlagen sich selbst steuern und optimieren können.
Industrie 4.0 bietet das Potenzial, einen erheblichen Schub für die Wettbewerbsfähigkeit des ganzen industriellen Sektors auszulösen. Die wichtigsten Vorteile für Unternehmen sind:
Die erhebliche Steigerung der Flexibilität und damit die Fähigkeit, besser auf Kundenwünsche zu reagieren und
die Optimierung ihres technologischen und personellen Ressourceneinsatzes, wodurch Kosten gesenkt werden.
Deutschland steht weltweit an der Spitze der Entwicklung der Industrie 4.0-Konzeption. Sie ist für einen großen Teil des industriellen Sektors und der unternehmensnahen Dienstleistungen relevant. Schon heute zeichnet sich Deutschland durch umfassende und leistungsfähige Wertschöpfungsketten aus: Sie werden von Branchen organisiert, die für die Wettbewerbsfähigkeit besonders wichtig sind. Dazu gehören u. a. der Fahrzeugbau, der Maschinenbau, die Elektroindustrie sowie die Pharmaindustrie, aber auch das Dienstleistungsgewerbe. Industrie 4.0 wird dazu beitragen, dass die Organisation der Wertschöpfungsprozesse komplexer wird. Die umfassende Vernetzung und der Umgang mit enormen Datenmengen werden zur Kernaufgabe der betroffenen Branchen.[11]
Achtung
Dieser Netzwerkcharakter hat auch Auswirkungen auf Unternehmen, die für ihr Produktportfolio und ihre Produktionsprozesse direkt nur relativ geringes Potenzial durch Industrie 4.0 sehen. Auch sie werden sich den umfassenden Neuerungen anpassen müssen, die sich durch die Implementierung von Industrie 4.0 bei Partnern im gleichen Wertschöpfungsnetzwerk ergeben.
1.1.2 Flexibilität als Schlüsselfaktor
Flexibilität ist somit in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem Schlüsselfaktor geworden, allerdings nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Denn die beschriebene Entwicklung hat nicht nur auf die Wirtschaft einen immensen Einfluss, auch gesellschaftliche Veränderungen sind klar zu erkennen. Die Anforderungen, die an Unternehmen gestellt werden, lassen sich ebenso auf den Menschen als Individuum übertragen. Die Arbeitszeiten sind längst nicht mehr so starr wie noch vor wenigen Jahren. Die Anforderungen an die Tätigkeiten und Fähigkeiten der Arbeitnehmer wachsen stetig und die lebenslange Beschäftigung bei nur einem Arbeitgeber ist heutzutage zumindest in der Privatwirtschaft eher die Ausnahme. Damit einher geht die Notwendigkeit, auch bei der Wahl des Arbeitsplatzes und damit des Wohnortes Kompromisse einzugehen. Längst ist die Arbeit nicht mehr zwangsläufig auch dort zu finden, wo man aktuell seinen persönlichen Lebensmittelpunkt hat.[12]
Im Umkehrschluss bedeuten diese veränderten Bedingungen für den Einzelnen aber auch eine Chance. Der Ursprung des Wortes „Flexibilität“ ist das lateinische Verb „flectere“, was „biegen“ oder „beugen“ bedeutet. Am besten lässt sich die direkte Bedeutung anhand eines Grashalmes illustrieren, der dem Wind sehr weich nachgibt, ohne wie z. B. ein fester Stab zu brechen. Flexibilität als Erfolgseigenschaft meint darum, in der Lage zu sein, sich auf die Umwelt einstellen zu können, auf sich ständig verändernde Bedingungen zu reagieren und nicht einfach an ihnen zu scheitern. Flexibilität besteht zu einem großen Maß aus einem grundsätzlichen Ja zu Veränderungen. Es geht darum, sie als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren und die Notwendigkeit einzusehen, sich immer wieder auf sie einstellen zu müssen.
Übertragen auf das Arbeitsleben heißt dies: Wer flexibel ist, neuen Herausforderungen offen gegenübersteht, Lernbereitschaft zeigt und auch in seiner beruflichen Vergangenheit bereits vielfältige Erfahrungen gesammelt hat, ist als Mitarbeiter für Unternehmen äußerst attraktiv. Er kann individuell eingesetzt werden, ist nicht fixiert auf nur eine bestimmte Tätigkeit und einen festen Arbeitsplatz. Mit diesen Eigenschaften verschafft er sich einen Vorteil gegenüber anderen Bewerbern. Durch die Flexibilität, die er als Arbeitnehmer an den Tag legt, steigert er seinen Wert auf dem Arbeitsmarkt (Employability).[13]
1.2 Entwicklung des Fachkräftebedarfs
Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen wird in den kommenden Jahren rückläufig sein und die Bevölkerung wird zudem älter. Ursache für diese Entwicklung ist die stagnierende Zahl der Geburten. So wurden im Jahr 2015 in Deutschland rund 738.000 Menschen geboren, während die Zahl der Sterbefälle sich auf knapp 925.000 belief. Laut Prognose zur Entwicklung der Gesamtbevölkerung werden im Jahr 2060 nur noch 73,08 Millionen Menschen in Deutschland leben (12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Statistisches Bundesamt 2009). Bereits jetzt ist die Zahl der Menschen über 65 Jahre größer als die der unter 15-Jährigen. Wenn in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge sukzessive dem Rentenalter näher kommen, verschiebt sich auch das Durchschnittsalter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.
1.2.1 Folgen des demografischen Wandels
Dieser demografische Wandel wird auch zu gravierenden Veränderungen beim Arbeitskräfteangebot führen. Wie stark das Erwerbspersonenpotenzial künftig tatsächlich sinken wird, hängt von den Einflussgrößen Bevölkerungsprojektion (Demografie), Projektion des Erwerbsverhaltens und der Zuwanderung ab. Alle drei Faktoren sind mit erheblichen Imponderabilien behaftet und haben gerade in jüngster Zeit zu gravierenden Veränderungen der prognostizierten Entwicklung geführt.
Der demografische Effekt spiegelt den isolierten Einfluss des Rückgangs und vor allem der Alterung der Bevölkerung auf das Erwerbspersonenpotenzial wider. Er kann bis 2025 relativ stabil und zuverlässig berechnet werden.[14]
Die Veränderungen im Erwerbsverhalten betreffen vor allem die Erwerbsbeteiligung von Frauen und die Erwerbstätigkeit von Älteren durch die Verschiebung bzw. Flexibilisierung des Renteneintrittsalters („Rente ab 67“). Beides wird einen positiven Effekt auf das Erwerbspersonenpotenzial haben, der aber schwieriger genau zu quantifizieren ist.
Anders als Geburten- und Sterberaten lässt sich die Zuwanderung überhaupt nicht prognostizieren: Zahlreiche Einflussfaktoren in Deutschland wie im Herkunftsland sind weder vorhersehbar noch in ihren Auswirkungen auf das Wanderungsgeschehen exakt quantifizierbar.
Insgesamt lassen sich daraus nach Maßgabe zahlreicher Modellrechnungen folgende Tendenzen ableiten:
Das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland schrumpft aus demografischen Gründen bis 2020 um 1,7 Millionen Personen, bis 2025 um weitere 1,7 Millionen und bis 2035 noch einmal um 2,4 Millionen Personen.
Zugleich wird die Beschäftigung bis 2020 um fast 400.000 Arbeitskräfte steigen. Danach wird sie aber aus demografischen Gründen bis 2025 um 500.000 Personen sinken.
In den Dienstleistungssektoren, vor allem in den unternehmensbezogenen Diensten, wird die Erwerbstätigkeit steigen, während sie im produzierenden Gewerbe teilweise massiv abgebaut wird.
Die Bilanz aus Erwerbspersonenpotenzial und Erwerbstätigen zeigt, dass die gesamte Unterbeschäftigung rechnerisch deutlich kleiner wird und bis 2025 auf unter 1,5 Millionen Personen sinken könnte (siehe Abb. 1).[15]
Abb. 1: Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials bis 2025 (IAB-Prognose)
Der projizierte Rückgang der Unterbeschäftigung setzt allerdings voraus, dass der projizierte Arbeitskräftebedarf auch tatsächlich qualifikatorisch gedec...