Auch für Verkäufer gilt die Prospect Theory
Bevor wir uns damit befassen, wie Kunden über Preise denken, möchte ich zunächst die Verkäuferseite unter die Lupe nehmen. Das Gehirn eines Verkäufers arbeitet nämlich nach denselben Regeln wie das der Käufer, Kunden oder Konsumenten.
Auch für Verkäufer ist es wichtiger, Verluste zu vermeiden, als Gewinne zu erzielen. Das Risiko, auf Waren sitzen zu bleiben und nichts zu verkaufen, wird deshalb höher eingeschätzt als die eigene Fähigkeit, mit geeigneten Mitteln die Kunden vom Wert der Produkte zu überzeugen und diese zu verkaufen. Deshalb bleiben viele Verkäufer lieber mit ihren Forderungen unter dem, was die Kunden zu zahlen bereit wären. Natürlich gibt das niemand zu. Stattdessen verweisen Verkäufer lieber auf die angespannte Wettbewerbssituation, die sie zu dieser Preisgestaltung zwinge, um überhaupt etwas verkaufen zu können.
Das Gehirn eines Verkäufers arbeitet nach denselben Regeln wie jedes andere Gehirn.
Mit der Tiefstpreisgarantie unter dem Möglichen bleiben
Ein typisches Ergebnis dieser Denkweise ist die „Tiefstpreisgarantie”. Diese hat den Vorteil, dass sie die Suche des Kunden nach dem günstigsten Angebot von vornherein einschränkt, weil er sich auf der sicheren Seite fühlen kann. Sollte der Kunde eher zufällig doch noch ein günstigeres Angebot für dasselbe Produkt entdecken, kann er sich den zu viel bezahlten Teil des Preises ja immer noch erstatten lassen. Die meisten Händler, die eine Tiefstpreisgarantie geben, rechnen allerdings zu Recht damit, dass der Kunde das Interesse am Preis verliert, wenn er sich seinen Produktwunsch erst einmal erfüllt hat.
Andere Händler, die eine Tiefstpreisgarantie geben, wissen ziemlich genau, dass es das identische Produkt nirgendwo anders gibt, weil dieses Modell speziell für ihre Handelsgruppe gefertigt wurde und so nur bei ihnen erhältlich ist. Den Herd oder die Waschmaschine mit der Bezeichnung „365” des Herstellers ABC gibt es überall. Das Modell „365e” mit dem längeren Anschlusskabel aber nur hier.
Tiefstpreisgarantien schöpfen nicht die Preisbereitschaft der Kunden aus.
Doch auch dieser Griff in die Trickkiste der Preisgestaltung ändert nichts daran, dass viele Verkäufer unter dem Preis bleiben, den der Kunde zu zahlen bereit wäre. Das liegt einerseits daran, dass Verkäufer meist besser als der Kunde die Referenzpreise der Wettbewerber kennen und auch deren vermeintliche oder tatsächlich existierende Bereitschaft, Preisnachlässe zu geben.
Warum kleinere Händler oft kleinere Preise machen
Viele kleine Familienunternehmen, die zum Beispiel neben einem Elektromeisterbetrieb auch noch einen kleinen Laden führen, liegen mit ihren Preisen oft sogar unter denen des Elektrofachmarkts in der nächsten Kreisstadt. Einerseits ist ihre Kalkulation ganz anders. Den Verkauf übernimmt die Chefin selbst. Solche kleinen Händler schalten keine große Beilagen- oder Anzeigenwerbung in der Tageszeitung. Sie haben auch keine Lagerware, sondern bestellen das Produkt erst, wenn es verkauft ist.
Die meisten Kunden machen sich gar keine Vorstellung davon, wie groß der Anteil des Deckungsbeitrags eines bestimmten Produkts, das sie in einem großen Elektrofachmarkt erwerben, für Werbung, Logistik, Verkaufsfläche und Personal ist. Der kleine Betrieb könnte eigentlich denselben Preis verlangen wie die große Kette. Argumente gäbe es genug. Man liefert kostenlos, stellt das Gerät auf und der Service ist schnell erreichbar vor Ort.
Kleineren Händlern vor Ort ist Fairness wichtiger als großen Fachmärkten.
Dass der Preis trotzdem in einem kleineren Rahmen bleibt, liegt oft daran, dass man ein anderes Verhältnis zu den Kunden hat und ihnen gegenüber nicht unverschämt werden will, sondern fair bleiben möchte. Schließlich trifft man diese Kunden auch am Sonntag in der Kirche oder am Abend im Sportverein. Die Idee der Fairness als soziale Norm hat bei solchen Betrieben also durchaus Vorrang vor den Marktgesetzen.
Auch Verkäufer haben ein Gewissen
Je lockerer die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer ist, desto eher kann man auch auf Fairness verzichten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn der Verkäufer selbst nur ein kleines Rädchen in einem großen System ist und der Kunde nur eine Nummer, lassen sich die schlechten Gefühle, die sich beim Verkäufer einstellen, wenn er genau weiß, dass er den Kunden eigentlich nur über den Tisch zieht oder ziehen soll, leichter unterdrücken.
Es gibt auch Verkäufer, denen es schwerfällt, auf Fairness zu verzichten.
Aber es gibt auch Gegenbeispiele, wie ein sehr merkwürdiger Anruf, den ich einmal erhielt, zeigt. Eine Bank, bei der ich nicht mehr Kunde bin, versuchte per Telefonverkauf Produkte an den Mann zu bringen, die, sagen wir es einmal vorsichtig, für den Kunden mehr Nachteile als Vorteile beinhalteten. Dabei wurden die Kunden durchaus mehrfach angerufen, weil man offensichtlich einen externen Vertrieb eingeschaltet hatte.
Als auch bei mir zum wiederholten Male das Telefon klingelte, sagte ich dem Telefonverkäufer, dass er inzwischen der vierte sei, der mich anruft. Ich hätte das Produkt, das er mir verkaufen will, genau betrachtet und wisse definitiv, dass ich es nicht will. Da brach es plötzlich aus ihm hervor. Er sei gelernter Bankkaufmann und nur durch dumme Zufälle in diesen Telefonvertrieb gerutscht. Er wisse genau, dass er den Kunden etwas andrehen soll.
Es sei ihm durchaus bewusst, dass der einzige Vorteil dieses Produkts aufseiten der Bank liegt und nicht aufseiten der Kunden. Aber er müsse es nun einmal tun und er hasse es, den ganzen Tag diesen Job zu machen. Plötzlich war die Leitung unterbrochen. Offensichtlich hat eine zuhörende Kontrollinstanz das Gespräch beendet oder der Anrufer legte auf, weil ein Kollege ins Zimmer kam. Ob der Mann, der mich angerufen hat, wirklich so frustriert war oder ob er nur eine beschleunigte Kündigung herbeiführen wollte, weiß ich nicht. Ich habe jedenfalls nie wieder einen solchen Anruf bekommen.
Zwischen Verkaufserfolg und Besitzstandsdenken
Auch Verkäufer sind nicht davor gefeit, sich bei Preisverhandlungen auf ganz bestimmte Ankerpreise zu beziehen. Für sie sind die Ankerpreise meist die Einkaufspreise. Sie wissen ja: Wenn man einen Verkäufer fragt, ob er beim Preis noch etwas entgegenkommen könne, fängt er meist an, hektisch in Listen zu blättern oder in den Computer zu schauen, um dann eine Summe zu nennen, um die er den Preis reduzieren würde. Oder wenn er etwas geschickter ist, macht er das Angebot, zum teuren Fernseher auch noch einen DVD-Spieler dazuzugeben.
Das Wichtigste ist, dass das Geschäft zustande kommt, besonders dann, wenn der Verkäufer mit einer Provision am Umsatz beteiligt ist. Umsatzprovisionen für Verkäufer führen in der Regel für das Unternehmen nicht zu größeren Gewinnen, sondern nur zu höheren Umsätzen.
Verkäuferprovisionen bringen keine größeren Gewinne, sondern nur höhere Umsätze.
Es gibt allerdings in der Praxis genauso das gegenteilige Verkäuferverhalten, allerdings nicht so häufig. Ich habe es einmal selbst erlebt, dass die Verkäuferin in der Fischabteilung einer großen Supermarktkette sich weigerte, ein Thunfischstück zum Sonderangebotspreis zu verkaufen. „Das Stück aus der Mitte ist so gut, das kriegen Sie nicht für den billigen Preis. Da gebe ich Ihnen nur das Schwanzstück.” Erst als die Kundin genau auf das Stück ihrer Wahl bestand und damit drohte, den Marktleiter hinzuzuziehen, gab die Verkäuferin nach.
Die Verkäuferin hatte offensichtlich ein ganz starkes Besitzdenken, ähnlich wie Daniel Kahneman es schon bei seinen Studenten im Zusammenhang mit den Kaffeebechern experimentell nachgewiesen hat. Es hätte niemand das Handelsunternehmen vorher daran hindern können, die Sonderangebotsware getrennt von der Premium-Ware zu deklarieren. Gerade in den Fleischabteilungen ist das ja oft der Fall. Argentinisches Rindfleisch wird zu einem höheren Preis verkauft als deutsches Rindfleisch aus dem Sonderangebot. Aber das war hier nicht der Fall. Das Verhalten dieser Verkäuferin verletzte ganz eindeutig das Gebot der Fairness.
Falsche Ankerpreise verderben das Geschäft
Ein anderes Beispiel für falsche Ankerpreise beim Verkäufer wurde einmal im Fernsehen vorgeführt. Im Westdeutschen Rundfunk gab es die Serie „Der Trödel-King”. Das war jemand, der anderen Menschen half, überfüllte Speicher und Lager leer zu verkaufen. Dieser Trödel-King wurde von einem Antiquitätenhändler zu Hilfe gerufen, der kaum noch einen Namen hatte, dessen Laden aber vor Waren überquoll, die er seit Jahrzehnten gehortet hatte.
Der Trödel-King ging bei seiner Bepreisung der verschiedenen Stücke vom aktuellen Marktwert aus und versetzte den Händler immer wieder in pures Entsetzen. Der war nämlich nicht bereit zu akzeptieren, dass sich die Vorlieben der Kunden gewandelt haben und die Preise seit der Zeit, als er das Stück eingekauft hatte, deutlich gefallen waren. Nun sollte er sich zu einem niedrigeren Preis, also mit Verlust, davon trennen. Eigentlich mochte er sich gar nicht von den Stücken trennen, die ihm über die vielen Jahre so ans Herz gewachsen waren. Und auch an den Gedanken, lieber mit Verlust zu verkaufen als gar nichts zu verkaufen, mochte er sich zunächst nicht gewöhnen, bis er schließlich doch nachgab.
Einkaufspreise sind für Verkäufer häufig falsche Ankerpreise.
Zuzuschauen, wie der Preis einer Ware, die man eingekauft und auf Lager genommen hat, sinkt, ist für jeden Händler eine bittere Erfahrung, die allerdings gar nicht so selten gemacht werden muss. Viele Haushaltswarengeschäfte sind schon daran kaputt gegangen, dass sie zu viele Teile von bestimmten Geschirrserien eingekauft hatten, die dann aus der Mode kamen. Bei anderen Händlern, wie zum Beispiel bei Rohstoffhändlern, gehören schwankende Preise zum Alltagsgeschäft. Wer da keine finanziellen Reserven hat oder die Bereitschaft, zum aktuellen Weltmarktpreis zu verkaufen, gerät schnell in Schwierigkeiten.
Auch bei Verkäufern gibt es Wahrnehmungsverzerrungen
Jeder Händler und Verkäufer muss sich also bemühen, die automatischen Prozesse, die im Kopf eines jeden Menschen ablaufen, nicht wirksam werden zu lassen. Das ist nicht leicht. Es gehört Übung und Erfahrung dazu. Wie schon eingangs erwähnt, muss das Verkaufen im prozeduralen Gedächtnis eingeübt werden, so wie Fahrradfahren oder Klavierspielen, damit es automatisch funktioniert und nicht durch andere geistige Prozesse wie Verlustaversion, Besitzdenken und Preisanker beeinträchtigt wird.
Immer wieder, wenn man mit Geschäftsführern, Verkaufs- oder Vertriebsleitern spricht und sie auf die Gefahr der Wahrnehmungsverzerrungen bei ihren Verkäufern hinweist, bekommt man zur Antwort, dass diese sich automatisch einschleichenden Fehler zwar bei den Kunden vorhanden sein mögen, aber bei ihnen selbst und ihrer Verkaufsmannschaft natürlich nicht.
„Bei uns ist alles ganz anders”, ist eine der Standardantworten. Hier wird die Realität beiseite gedrängt. Viele Führungskräfte wollen sich nicht eingestehen, dass auch sie und ihre Mitarbeiter menschliche Schwächen haben. Dabei sind diese oft leicht aufzudecken.
Dass die Anhebung der Preise zu einer Gewinnsteigerung führt, ist allen klar. Also fordert der Geschäftsführer seinen Vertriebsleiter auf, die Preise um drei Prozent anzuheben.
Der Vertriebsleiter möchte dieses Ziel gern erreichen, hält es aber für ambitioniert. Um das gesetzte Ziel nicht zu verfehlen, fordert er seine Vertriebsmannschaft auf, bei den Kunden eine Preiserhöhung um fünf Prozent durchzusetzen. Denn er geht davon aus, dass die Käuferseite die Preiserhöhung ohnehin drücken wird.
Die Verkäufer ihrerseits kennen ihre Kunden und wissen, dass sie Zugeständnisse machen müssen. Also setzen sie eine Preiserhöhung um acht Prozent auf ihre Agenda.
Allen Beteiligten ist klar, dass die gesetzten Preise Verhandlungspreise sind und dass sie einen Spielraum bis zum Mindestpreis haben, den sie auf jeden Fall erzielen müssen. Dieser ist nicht nur für die Kunden, sondern auch für die Verkäufer, den Vertriebsleiter und den Geschäftsführer der Ankerpreis, auf den in den Verhandlungen Bezug genommen wird. Erfahrungsgemäß handelt es sich um den bisherigen Verkaufspreis, der vor der Preiserhöhung vom Kunden akzeptiert worden war. Das gesamte Denken aller Beteiligten wird nun genau aus dieser Richtung gesteuert und macht den Verkaufsprozess so schwierig.
Manchmal muss man die Referenzpreise wechseln.
Besser wäre es, neue Referenzpreise ins Spiel zu bringen, an denen man sich orientieren kann. Wenn die meisten Wettbewerber ihre Preise bereits angehoben haben, ist es leicht, weil man sich auf den Wettbewerbspreis beziehen kann und damit auch das Gebot der Fairness nicht verletzt. Wahrscheinlich wird kaum ein Verkäufer seine achtprozentige Preiserhöhung durchsetzen können. Stattdessen wird man sich mit dem Kunden irgendwo in der Mitte treffen, innerhalb der Spanne von drei bis fünf Prozent. Aber auch dieses Sich-in-der-Mitte-Treffen ist schon wieder ein Denkautomatismus.
Wenn der Verkäufer den Kunden falsch einschätzt
Auf der Seite der Verkäufer gibt es noch einen anderen ganz wesentlichen Punkt, der den Verkaufserfolg einschränkt. Die meisten Verkäufer kennen ihre Kunden nicht oder nicht gut genug. Besonders bei Händlern oder Läden mit Laufkundschaft ist das der Fall. Kunden werden hier oft falsch eingeschätzt.
So soll einem Mercedes-Händler in Berlin Folgendes passiert sein: An einem Samstag kam ein Mann mittleren Alters in den Verkaufsraum. Er trug verwaschene Jeans, einen labberigen Pullover und Turnschuhe. Außerdem war er unrasiert. Zielstrebig ging er auf einen offenen Sportwagen zu. Der Verkäufer schätzte ihn als Rucksacktouristen ein und wollte ihn so schnell wie möglich wieder aus dem Showroom heraus haben, um andere Kunden nicht zu vergraulen. Also sprach er den Mann an, was er denn wünsche. Dieser antwortete in schlechtem Deutsch: „Am liebsten diesen Wagen da, aber mit einer anderen Lackierung”.
Der Verkäufer machte kurzen Prozess. Den können Sie sich doch gar nicht leisten. Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Wortlos drehte sich der Mann um und verließ den Showroom. Der adrette junge Verkäufer mit Krawatte und Anzug war sehr zufrieden mit sich. Das Problem hatte er flott gelöst. Er wusste nur nicht, dass der Mann Steve Jobs war.
Ehrlich gesagt, ob diese Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Aber sie ist in gewisser Weise exemplarisch. Der Verkäufer hat seine Preise ebenso im Kopf wie das Bild seiner Kunden. An diesem Status quo ist nur schwer etwas zu ändern. Es gibt nämlich nicht nur Ankerpreise, sondern alle möglichen Formen von Ankern, die dazu führen, dass ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster abgespult wird.
Falsche Vorstellungen vom Kunden können den Verkaufserfolg verhindern.