1.1 Familienunternehmen – schlau wie Einstein?
Ja, manche Familienunternehmen wirken tatsächlich so schlau, so genial wie Einstein – der die Vorstellung von Raum und Zeit durcheinander brachte – und bewahren das Unternehmen für sich und ihre Mitarbeiter über Generationen.
Ich möchte Ihnen zunächst zwei traditionsreiche Familienunternehmen vorstellen: Das ist zum einen die älteste Familienbrauerei der Welt, die Zötler-Brauerei, im Herzen des Allgäus gelegen. Sie beglückt die Menschen nunmehr seit 1447 in der 21. Generation mit ihren Produkten. Der Senior- wie auch der Juniorgeschäftsführer waren freundlicherweise bereit zu einem Interview, das Sie weiter unten nachlesen können. Das zweite Beispiel ist das (vermutlich) älteste Familienunternehmen der Welt, das japanische Gasthaus und Hotel Hoshi Ryokan. Es liegt in einem kleinen Dorf namens Awazu Onsen an der Westküste Japans. Das Hoshi Ryokan existiert seit dem Jahr 717 und versorgt seine Gäste inzwischen in der 46. Generation mit japanischer Küche – kombiniert mit heißen Bädern. Für das Gasthaus gilt das weitere Überleben allerdings nicht als gesichert, sofern es Sicherheit überhaupt geben kann. Das hat mehrere Gründe: Das Ryokan wird seit fast 1.300 Jahren von Zengoro Hoshi geleitet. Ist dieser Mann etwa 1.300 Jahre alt? Nein. Das dahinter stehende Geheimnis ist simpel: Seit der Gründer anno 717 sein damaliges Start-up begann, wird der Name Zengoro Hoshi weitergegeben. So eisern der Name, so eisern die Tradition. Die Tragödie des Familienunternehmens ist, dass der eigentliche Nachfolger, Hoshis ältester Sohn, vor zwei Jahren starb. Der zweite Sohn wiederum entzweite sich mit dem Vater. Nun steht zur Nachfolge Zengoro Hoshis Tochter Hisae Hoshi bereit. Die Hoffnung des Vaters liegt aber nicht nur auf der Tochter, sondern auch auf ausländischen Touristen, die an der traditionellen japanischen Kultur interessiert sind. Denn zur schwierigen Nachfolgesituation kommt hinzu, dass die modern ausgerichteten und verwöhnten Kunden das traditionelle Hotel zunehmend meiden.[13-14]
Hoshis Tochter ist pflichtbewusst, aber überfordert. Die Führung des Unternehmens alleine zu übernehmen, empfindet sie als zu viel Verantwortung. Sie hofft nun auf ihren verstoßenen Bruder, doch dieser darf nur unter der Weisung seiner Schwester zurück ins Hotel, die sich ihrerseits lieber unterordnen würde. Falls sie das Familienunternehmen doch übernehmen sollte, würde ihr zukünftiger Mann den Namen Zengoro Hoshi annehmen müssen: Das wäre zumindest ein lösbares Problem (www.ho-shi.co.jp).
Es bleibt die Frage: Haben die bis heute so erfolgreichen und manchmal uralten Familienunternehmen den Stein des Weisen gefunden?
Nicht unbedingt, denn wie Sie am Beispiel des Hoshi-Unternehmens gesehen haben, ist eine sehr lange Unternehmenstradition nicht zwangsläufig ein Garant dafür, dass der Erfolg für immer anhält bzw. automatisch bis in die Ewigkeit Bestand hat.
1.2 Familienunternehmen – starr wie ein Stein?
Manche Familien, Dynastien oder auch Pseudodynastien wirken so starr wie ein Stein, glauben zwar, den Stein des Weisen gefunden zu haben, aber tragen die Gründungsidee nicht allzu weit und zerbrechen oder zerbröseln manchmal schon während der ersten Übergabe. „Wir haben uns einvernehmlich getrennt”, heißt es dann schmallippig. Wer ist dieses „wir”? Was heißt „getrennt”? Und inwiefern „einvernehmlich”? Oder zeigt sich hier der „Buddenbrooks-Effekt”, also eine bestimmte Instabilität in Familienunternehmen? Manche Unternehmer oder Unternehmen stehen gewiss nicht mit leeren Händen da, aber möglicherweise ohne familiären Nachfolger, wie es die Nachfolgeproblematik um Albert Darboven bzw. Eugen Block zeigt (s. u.).[15]
Mancher Gründer bzw. aktuelle Firmeninhaber präsentiert sich gerne kerngesund und tatkräftig, trotz seiner siebzig Jahre: „Ich fühle mich topfit!”. Man wurde eben unersetzlich. Der eigene Erfolg scheint einem Recht zu geben und so hat man das Patentrezept in der Hand. Doch das Rezept wurde vom Nachfolger so nicht übernommen, also hat man sich „einvernehmlich getrennt”! Was für eine Haltung steht hinter diesen Worten? „Einvernehmlich” meint in erster Linie, unter Zustimmung aller betroffenen Parteien vereinbart. Durch die Blume, wenn schon nicht unter der Rose gesagt: Ein-ver-nehm-lich, einer hat's vernommen, genommen, womöglich ist es die weniger fest im Sattel sitzende, die potenziell nachfolgende Person, die nicht mehr mit im Boot ist. Also Trennung! Der Ältere hat all seine Haare dem Leben und Unternehmen gegeben, die oder der Jüngere hat volle Haare, aber nicht das operative Geschäft in den Händen. Ohne Haare soll aber nicht bedeuten: ohne Leidenschaft, ohne Vitalität und das wird bewiesen mit aller Macht – und sei es zum Preis des Scheiterns einer Nachfolgeregelung.
Immanuel Kants berühmter „kategorischer Imperativ” lautet folgendermaßen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.” Dieser Satz wurde zu einer Art Goldenen Regel für Familienunternehmer. Er findet seinen Ausdruck in dem Sprichwort: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu” – eine Maxime, die seine wirkungsvolle Entfaltung gerade in Familienunternehmen finden sollte. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig, dass man dann aufhört, wenn man im besten Alter ist und nicht erst kurz bevor man umfällt. Anstatt: „Ich bin ja noch topfit! Also mache ich weiter” sollte die Maxime lauten: „Ich bin ja noch topfit und regle die Übergabe der operativen Geschäfte deshalb jetzt, so lange ich so fit bin!”[16]
Vor der offiziellen Auszeichnung seines im Haufe-Verlag herausgegebenen Buches „Das demokratische Unternehmen" sagte Thomas Sattelberger in einer Podiumsdiskussion des Forums Wissenschaft und Bildung auf der Frankfurter Buchmesse 2015 zum Thema „Die Zukunft der Arbeit”: „Unternehmer sollten nicht Errungenschaften wie eine Monstranz auf der Fronleichnamsprozession vor sich hertragen.” Die Monstranz steht dabei für deren Patentrezept.
Ein prominentes Beispiel ist der bereits erwähnte Hanseat und Kaffeekönig Albert Darboven. Der vordergründige Streit um die Unternehmensführung und – tiefer sitzend – die klassische Vater-Sohn-Beziehung führte zu einem Konflikt. Dabei lüftete der Junior im 150ten Jubiläumsjahr von J. J. Darboven das Beziehungsgeheimnis zwischen sich und seinem Vater kurz nach den Feierlichkeiten und öffnete sich gegenüber der Zeitschrift Capital: „Ich bin fassungslos!” sagte er bezüglich des eigenmächtigen Verhaltens seines Vaters und dessen Aussage, weitere fünf Jahre das Unternehmen zu führen, acht Jahre nach dem Ausstieg des Juniors aus der Führung des Unternehmens und im 150. Jubiläumsjahr sowie einem Feierakt des Seniors im Alleingang. Deshalb wolle er sein Schweigen brechen, sozusagen nicht unter der Rose sprechen wie in den letzten acht Jahren (s. Kap. 2[17] und Kap. 4).
Indirekt kommentierte dies Wolfgang Grupp, Eigentümer der Trigema Inh. W. Grupp e. K., 2012 auf dem Schweizer KMU-Tag, einem Kongress für Klein- und Mittelunternehmen in St. Gallen:
„Wolfgang Grupp: Erfolg haben ist keine Kunst, Erfolg durchstehen ist eine Kunst. Und deshalb darf ich Sie bitten zu sagen, ob ich erfolgreich bin oder nicht: an meinem Grab, wenn ich im Prinzip meine Aufgabe hinter mich gebracht habe. Es gab viele erfolgreiche Unternehmer, aber sie haben leider den Erfolg nicht durchgestanden.“
Im Gesellschaftsroman „Buddenbrooks: Verfall einer Familie” von Thomas Mann (1901) geht die unternehmerische Entwicklung nach dem Tod von Thomas Buddenbrook sogar gänzlich zu Ende, der Sohn und Erbe wird einfach ignoriert, als gäbe es ihn nicht: „Die Dinge lagen so, daß liquidiert werden, daß die Firma verschwinden sollte, und zwar binnen eines Jahres; dies war des Senators letztwillige Bestimmung. Frau Permaneder zeigte sich heftig bewegt hierüber. „Und Johann, und der kleine Johann, und Hanno?!” fragte sie … Die Tatsache, daß ihr Bruder [Thomas B.] über seinen Sohn und einzigen Erben hinweggegangen war, daß er für ihn nicht hatte die Firma am Leben erhalten wollen, enttäuschte und schmerzte sie sehr. Manche Stunde weinte sie darüber, daß man sich des ehrwürdigen Firmenschildes, dieses durch vier Generationen überlieferten Kleinods, entäußern, daß man seine Geschichte abschließen sollte, während doch ein natürlicher Erbfolger vorhanden war. Aber dann tröstete sie sich damit, daß das Ende der Firma ja nicht geradezu dasjenige der Familie sei, und daß ihr Neffe eben ein junges und neues Werk werde beginnen müssen, um seinem hohen Berufe nachzukommen, der ja darin bestand, dem Namen seiner Väter Glanz und Klang zu erhalten und die Familie zu neuer Blüte zu bringen. Nicht umsonst besaß er soviel Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater …” (11. Teil, 1. Kapitel, S. 695 f.)[18]
Um das Bild von vorhin nochmals zu verwenden: Den Stein des Weisen haben erfolgreiche Familienunternehmen vermutlich nicht gefunden, aber Haltung im Sinne von Weisheit, Wachheit und Bereitschaft zur Weiterentwicklung und kontinuierlichen Veränderung stärkt allemal die Unternehmenskultur und damit den Fortbestand. Dazu gehört ganz wesentlich die Gabe, eine zur Nachfolge bereitstehende Person langfristig aufzubauen, ihr den Rücken zu stärken, sie wertzuschätzen und ihr womöglich sogar mit Demut zu begegnen. Und wenn die für die Nachfolge vorgesehene Person schon sein soll wie der Vorgänger, fast so etwas wie ein jüngeres Abziehbild, dann sollte man erst recht auf der Hut sein, um nicht sie oder ihn sichtbar für alle zu demontieren. Denn dies kommt dann einer Vernichtung gleich. Arthur Darboven, der Junior und in seiner eigenen Firma erfolgreich unternehmerisch Handelnde, sagt über das väterliche Unternehmen J. J. Darboven: „Die Zukunft der Firma hängt in der Luft.” (s. Kap. 4[19]) Indem er seine eigene Unternehmung macht, statt sich auf das jüngere Abziehbild reduzieren zu lassen, unterstreicht er eine klassische Problematik zwischen den Generationen, wie es auch Herr Carsten Henning, Geschäftsführender Gesellschafter der Firma Räder-Vogel Räder- und Rollenfabrik GmbH und Co. KG in Hamburg-Wilhelmsburg auf den Punkt brachte:
„Carsten Henning: Ich glaube schon, dass ich nicht nur dieses Unternehmen führen kann, ich kann auch ein anderes Unternehmen führen oder einen anderen Job machen. Da mache ich mir keine Sorgen. Es gibt ja noch 68.000 andere Senioren, die keinen Nachfolger haben. Vielleicht würde ich ja noch einen [Senior] finden, der das ein bisschen besser macht.“
Sub rosa dictum – unter dem Siegel der Verschwiegenheit
Obwohl in der täglichen Praxis sensible Informationen häufig selbst dort ausgeplaudert werden, wo Geschwätzigkeit vor allem Schaden anrichtet, bleibt die Schweigepflicht und das Behüten eines Geheimnisses ein hohes Gut. Auch der Eid des Hippokrates beinhaltet die Selbstverpflichtung: „Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten.”[20]
In Rom zur Zeit der Antike erinnerte der Gastgeber die Anwesenden an die Pflicht zur Verschwiegenheit, indem er bei Zusammenkünften eine Rose an die Decke hing. Die manchmal auch in Beichtstühlen geschnitzte Rose dient demselben Ziel: „Sub rosa dictum” – unter der Rose gesagt, das muss geheim bleiben. So verkörperte die Rose also nicht nur die Liebe, sondern eben auch die Verschwiegenheit. Die Rose als Symbol findet sich auch auf mittelalterlichen Haushaltsgebrauchsgegenständen wie Besteck, Krügen und Bechern. Ein Gast soll über die gesprochen Worte im Haus Stillschweigen wahren.
Berühmt ist die Hildesheimer Rose, eine Hundsrose auf dem Friedhof, an die Rückwand des Chors des Hildesheimer Doms angelehnt, die auf Silberbesteck zu erwerben ist. Die Symbolik dieser Rose geht über das Geheimnis hinaus. Die Hildesheimer Hundsrose („rosa canina” im Sinne von „hundsgemein”, also wild wachsend und weit verbreitet) scheint mit ihren unterirdischen Sprossen in der Lage zu sein, neue Wurzeln und Triebe zu bilden. Da sie dabei ihre Erbanlagen nicht verändert, bleibt sie stets dieselbe Pflanze. Auch Familien oder Familienunternehmen bergen Geheimnisse und reichen diese weiter.
So wird beispielsweise das Marzipanrezept von Niederegger von Generation zu Generation als Geheimnis weitergereicht, angefangen mit dem 1777 in Ulm geborenen Konditor Johann Georg Niederegger in die achte Generation, aktuell aus den Händen von Holger Strait (geb. 1949) in die Hände der beiden Töchter Antonie und Theresa, die inzwischen mit aktiv sind in der Geschäftsführung. Ebenso schützt die Familie Weiß mit ihrer Brauerei Mecka...