Der Mensch ist ein analoges, auf biochemischen Prozessen basierendes Wesen. Seine Sprachen sind analoge Signale, Luftdruckwellen, die er ausstößt. Seine Bewegungen sind durchgängiger Natur. Unsere Umwelt entwickelt sich in »unterbrechungsfreien« Vorgängen. Schon die alten Römer erkannten: »Natura non facit Saltus«. Aber in ihrer Schrift drückt sich die Menschheit durch Zeichen aus, die Sprünge darstellen: unterschiedliche »Bilder« für den einzelnen Buchstaben und für die einzelne Zahl. Das »Ur-Zahlenmodell« geht auf die Basis »Zehn« zurück: dem Abzählen an den Fingern. Alle anderen Zahlensysteme sind den Menschen eher fremd. Über die Unterschiede der »Welt der Kontinuitäten« und der »Welt der Sprünge« machte sich der Mensch immer tiefe Gedanken, etwa über die »gegensätzlichen« Welten der uns vertrauten »analogen« Mathematik und der sogenannten »diskreten« Mathematik, die nur Datenpunkte definiert. Eine besondere Ausprägung ist die Welt der digitalen Zahlen. Das binäre, auf der Basis 1–0 beruhende Zahlensystem erlebt seinen Durchbruch erst durch die elektronische Speicherung, bei der im kleinsten System nur zwischen »Ladung« = 1 und »Nicht-Ladung« = 0 unterschieden werden kann. Die Entwicklung bis hin zur digitalen Rechenmaschine und der digitalen Nachrichtentechnik durchlief zahlreiche Technologie-Generationen. Ihren Weg kennzeichnen Rechenhilfen, angefangen vom Abakus, mechanische Steuerungen (Lochkarten für den Jacquard-Webstuhl …), Nachrichtenübertragungen wie Rauchsignale (Landwehr …), Lichtsignale (Schifffahrt …) Morsetechnik und Systeme der Datenspeicherung, die bis heute Geltung haben können, z. B. Notenschriften und Blindenschriften (Braille …).2 Im Folgenden werden einige Beispiele geschildert.
1.1 Die analoge und die diskrete Denkwelt
Unsere Denkwelt ist, unserem Wesen und unserer Umwelt entsprechend, »analog« und bildet damit die fließenden Vorgänge in der Natur ab. Dies reflektiert bereits der Begriff »analog«. Er kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet »verhältnismäßig«. Dementsprechend ist die uns geläufige Mathematik auch eine »analoge«, denn sie stellt fließende Vorgänge dar. Wir alle kennen dies auch aus der Schule, bei kontinuierlichen Funktionen, aus der Geometrie und aus Kurvendiskussionen.
Daneben hat sich eine andere, weitgehend unbekannte Mathematik etabliert: die »diskrete Mathematik«. Bei ihr spielt die Stetigkeit keine Rolle. Die in der diskreten Mathematik vertretenen Gebiete (wie etwa die Zahlentheorie oder die Graphentheorie) sind zum Teil schon recht alt, aber die diskrete Mathematik stand lange im Schatten der »kontinuierlichen« Mathematik, die seit der Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch ihre vielfältigen Anwendungen in den Naturwissenschaften (insbesondere der Physik) in den Mittelpunkt des Interesses getreten ist. Erst im 20. Jahrhundert entstand durch die Möglichkeit der digitalen Datenverarbeitung durch Computer (die naturbedingt mit diskreten Zuständen arbeiten) eine Vielzahl von neuen Anwendungen der diskreten Mathematik. Gleichzeitig gab es eine rasante Entwick[32]lung der diskreten Mathematik, die in großem Maße durch Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Computer (Algorithmen, theoretische Informatik usw.) vorangetrieben wurde. 3
Im Folgenden ist dies durch Anwendungen, sehr selektiv aus der Sprachschrift, deren Feld hier nicht weiter vertieft werden soll, und breiter bei Zahlensystemen zu hinterlegen.
1.2 Diskrete Schriftarten
Notenschriften: In vielen Kulturen wird die Partitur hauptsächlich über Zahlen, Buchstaben oder einheimische Zeichen dargestellt, die die Notenfolge repräsentieren. Dies ist beispielsweise der Fall bei der chinesischen Musik (jianpu oder gongche), bei der indischen Musik (sargam) und in Indonesien (kepatihan). Diese andersartigen Systeme werden zusammengefasst als Ziffernnotation bezeichnet und spannen den Bogen bis hin zum Computernotensatz.
Blindenschriftarten: Man unterscheidet zwei Richtungen: (1) die Reliefschrift, bei der die normalen lateinischen Buchstaben oder vereinfachte grafische Muster tastbar gemacht werden (z. B. das Moonalphabet), und (2) die Punktschrift, die die Buchstaben in einem Punkteraster nachbildet oder in einen Code übersetzt, zumeist in Form von erhabenen Punktwiedergaben, die von Blinden ertastet werden können. Es existieren verschiedene solche Systeme von Blindenschriften, von denen heute die im Jahr 1825 von Louis Braille (Coupvray/Frankreich, 1809 – Paris, 1852) entwickelte Brailleschrift am weitesten verbreitet ist.4
1.3 Zahlschriften
Eine Zahlschrift ist ein Schriftsystem für das Schreiben von Zahlen. Durch ihre Schriftlichkeit, die historisch auch Techniken des Ritzens, Kerbens, Stempelns und Meißelns einschließt, grenzt sich die Zahlschrift gegen die Zahlwortsysteme (Numerale) der natürlichen Sprachen und gegen Systeme, bei denen Finger- und Körpergesten, Rechensteine, Knoten, Lichtsignale oder andere, weder sprachliche noch im engeren Sinn schriftliche Zeichen für die Repräsentation von Zahlen eingesetzt werden, ab.5
1.3.1 Bestandteile einer Zahlschrift: Inventar und Zahlensysteme
Grundlage ist ein Inventar von Einzelzeichen. Diese sind die kleinsten, eine numerische Bedeutung tragenden Elemente, deshalb auch Grundzahlzeichen genannt. Ihnen wird ein Zahlwert als feste Bedeutung zugeordnet. Diese ergeben, einzeln notiert, kumulativ wiederholt oder untereinander kombiniert die numerischen Ausdrücke der Zahlschrift. Sie dienen primär zur Schreibung natürlicher Zahlen. Das [33]Inventar kann durch Hilfszeichen ergänzt werden, die keine numerische Bedeutung tragen, sondern z. B. zur Gliederung numerischer Ausdrücke6 dienen oder Beziehungen zwischen Zahlwerten ausdrücken – etwa Vorzeichen, Bruchzeichen oder Dezimalkommata. Heutzutage werden diese durch eigene Inventare mathematischer Symbole ergänzt, die hierbei die Grundzahlzeichen in der Schreibung komplexer mathematischer Objekte ablösen und die einfachen Hilfszeichen um weitere nichtnumerische Zeichen für die Formalisierung mathematischer Aussagen ergänzen.
Hinzu kommen: (1) ein Inventar syntaktischer Regeln, die die Wiederholbarkeit, Kombinierbarkeit und Positionierbarkeit der Einzelzeichen in der Bildung zusammengesetzter numerischer Ausdrücke regulieren, (2) arithmetisch basierte semantischen Regeln für die Transformation der Einzelzeichenwerte eines solchen Ausdrucks in dessen Gesamtwert, (3) weitere Regeln, wie z. B. die allgemeine Schreibrichtung und die Verwendung spezifischer Schreibformen für besondere praktische Anwendungsgebiete.
1.3.2 Zahlensysteme
Auf diesen Bestandteilen beruhen grundlegende Zahlensysteme, die die Reihe der natürlichen Zahlen mithilfe mindestens einer festgelegten Basiszahl und ihrer Potenzen in Einheiten aufsteigender Ordnung gliedern, sodass jede höhere Einheit an die Stelle der in ihr insgesamt enthaltenen niederen Einheiten treten kann, um den Bedarf an Zeichen zu minimieren und die Darstellung derjenigen Zahlen, die größer als die Basis sind, zu ökonomisieren.7 Die Forschung unterscheidet zwischen additiven, hybriden und positionellen (Stellenwert-)Zahlensystemen.
1.3.2.1 Additionssysteme
In einem Additionssystem wird eine Zahl als Summe der Werte ihrer Ziffern dargestellt. Dabei spielt die Position der einzelnen Ziffern keine Rolle. Ein Beispiel ist das Strichsystem, auch als Unärsystem bezeichnet, das sich anbietet, wenn etwas schriftlich mitgezählt werden soll (wie zum Beispiel die Getränke auf einem Bierdeckel). Hierbei wird die Zahl durch Striche dargestellt. Dies ist eines der ältesten Zählsysteme überhaupt. Das Unärsystem wird bei der Darstellung größerer Zahlen sehr schnell unübersichtlich. Deshalb ist es meist üblich, die Zahlen in Blöcke zusammenzufassen, indem man etwa jeden fünften Strich quer über die vier vorangegangenen Einzelstriche legt. Obwohl es aus diesem Grund nicht geeignet ist, große Zahlen darzustellen, wird es im Alltag dennoch in manchen Situationen verwendet. Eine Addition um einen Zahlenwert ist einfach durch das Hinzufügen eines Striches möglich. Herkömmliche Systeme lassen eine so einfache und schnelle Erweiterung im Allgemeinen nicht zu.
[34]1.3.2.2 Stellenwertsysteme
Im Alltag und in der Wissenschaft wird eine Zahl üblicherweise durch Ziffern (0, 1, 2, …, 9, die allein die ersten zehn der natürlichen Zahlen darstellen, und Buchstaben), zusätzliche Zahlenzeichen wie Vorzeichen (Plus, Minus) und Trennzeichen (Komma, Leerzeichen) dargestellt. Die Anzahl der verwendeten Ziffern wird »Basis des Stellenwertsystems« genannt. Die gängigsten Basen sind 2 (beim Dualsystem), 8 (beim Oktalsystem), 10 (beim im Alltag gebrauchten Dezimalsystem) oder 16 (beim in der Datenverarbeitung wichtigen Hexadezimalsystem).
Die Ziffern haben eine durch Konvention festgelegte Reihenfolge ihres Wertes. Beim Hochzählen (das entspricht der Addition einer Eins) wird in dieser Reihenfolge zur nächsten Ziffer übergegangen. Dazu werden die Ziffern je nach ihrer Stelle unterschiedlich bewertet, wobei der Stellenwert eine Potenz der Basis ist (z. B. »Einerstelle«, »Zehnerstelle«, »Hunderterstelle«, …). Die Stelle mit der niedrigste...