Situationen im Unterricht und Handlungsmöglichkeiten für die Praxis
Esther Brunner
Ariane Bühler
Peter Diezi-Duplain
Erich Hartmann
Karen Ling
Roman Manser
Christoph Michael Müller
Angela Nacke
Daniela Nussbaumer
Inge Rychener
Christoph Schmid
Helen Zimmermann
Carmen Zurbriggen
Handlungsmöglichkeiten im Bereich Lernen und Wissensanwendung
Aussichtsreicher inklusiver Schriftsprachunterricht für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im Lesen- und Schreibenlernen
Erich Hartmann
Erschwernisse im Lesen- und Schreibenlernen haben oft ungünstige Auswirkungen auf die schulische und psychosoziale Entwicklung von betroffenen Schulkindern, die in der inklusiven Schule daher besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie ein qualitativ guter Regelunterricht im Lesen und Schreiben beschaffen sein muss, damit Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im Schriftspracherwerb bestmöglich lernen und partizipieren können. Die entlang von wissenschaftlich fundierten Prinzipien skizzierten unterrichtlichen Aufgaben und Möglichkeiten von Regellehrpersonen werden sodann in ein schulweites Modell zur Früherkennung, Prävention und Behandlung von schriftsprachlichen Lernstörungen eingeordnet. Zuständigkeiten und Kooperationsanlässe von Sonderpädagoginnen und -pädagogen im Rahmen koordinierter Bemühungen um individuell erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen aller Kinder runden den Beitrag ab.
Lesen- und Schreibenlernen – Chancen und Risiken
Das Lesen- und Schreibenlernen eröffnet Kindern den Zugang zu einer weiteren und wichtigen Kommunikationsform, und es erweitert kindliche Partizipationsmöglichkeiten in schulischen und außerschulischen Kontexten. Schriftsprachliche Fortschritte und Fertigkeiten dienen den Lernenden zunehmend auch als Werkzeug für mentale Aktivitäten und wirken sich positiv auf sprachliche und kognitive Kompetenzen aus; ihrerseits kommen sie der schulischen Entwicklung und Integration zugute. In Anbetracht der vielfältigen Vorteile des erfolgreichen Schriftspracherwerbs ist es denn auch das erklärte Ziel der Schule, alle Kinder zum kompetenten Lesen und Schreiben zu befähigen.
Lese-/Rechtschreibstörung
Während die Mehrzahl der Lernenden den Schriftspracherwerb (weitgehend) problemlos meistert, finden sich in jeder Klasse auch Kinder, die individuelle Schwierigkeiten mit dem Lesen- und Schreibenlernen (nachfolgend: LRS als Sammelbegriff) bekunden und daher erhöhter pädagogischer Aufmerksamkeit und Unterstützung bedürfen. Erschwernisse im Schriftspracherwerb gehören nicht nur zu den häufigsten Schulproblemen von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf überhaupt; sie bergen für die Betroffenen auch ein erhöhtes Risiko für eine unharmonische psychosoziale Entwicklung sowie für schulische Partizipationsbeschränkungen und Aussonderung – was nach effektiven präventiven Unterrichts- und Interventionsstrategien verlangt (Hartmann, 2007; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2011; Hartke & Diehl, 2013).
Kinder mit erhöhtem Förderbedarf im Schriftspracherwerb
Besondere pädagogische Bedürfnisse
Der Fokus auf Schülerinnen und Schüler, die im Schriftsprachunterricht besonderer Beachtung und Förderung bedürfen, führt zunächst zu der Frage, um wen es sich bei diesen sogenannten diverse learners handelt. Solche Lernenden zeichnen sich dadurch aus, dass sie infolge von ungünstigen individuellen Voraussetzungen und/oder erschwerenden Umweltbedingungen pädagogisch relevante Probleme mit dem schulischen Lernen bekunden (können) (Carnine et al., 2006; Vaughn, Bos & Schumm, 2011). Mit Blick auf den Problemkreis des gefährdeten beziehungsweise beeinträchtigten Schriftspracherwerbs ist sinnvollerweise zwischen folgenden heterogenen Untergruppen von Schülerinnen und Schülern zu unterscheiden:
— Risikolernerinnen und -lerner kommen mit ungünstigen Lernvoraussetzungen und Vorerfahrungen für den Schriftspracherwerb in die (Vor-)Schule. Ohne frühe und kompetente Unterstützung besteht die Gefahr, dass sie bereits in den ersten Schuljahren erhebliche Schwierigkeiten im Lesen- und Schreibenlernen ausbilden. Als Risikolernerinnen und-lerner gelten unter anderem Kinder mit a) spezifischen Sprachentwicklungsstörungen oder anderweitigen Sprachrückständen (z. B. bei Migration), b) genetischen Dispositionen für LRS, c) Entwicklungsbeeinträchtigungen des Hörens, des Lernens oder der sozialen Kommunikation und d) erschwerenden sozioökonomischen/familiären Gegebenheiten (zum Beispiel Armut, mangelnde Anregung). Insbesondere bei einer Kumulation von solchen lernerschwerenden Faktoren erhöht sich das Risiko für LRS erheblich (Snow, Burns & Griffin, 1998; Hartmann, 2017). Wie ebenfalls belegt ist, können Risikokinder mehrheitlich von einem qualitativ guten Schriftsprachunterricht und von präventiven Zusatzmaßnahmen profitieren und ihre anfänglichen Lernschwierigkeiten überwinden (Denton, 2012; Hartmann, 2013).
— Kinder mit schriftsprachlichen Lernbeeinträchtigungen/LRS bekunden trotz präventiver Bemühungen deutliche und zumeist persistierende Probleme beim Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen. Davon können je nach – engen oder weiten – diagnostischen Kriterien 5 bis 16 Prozent aller Schulkinder eines Jahrgangs betroffen sein. Wie bereits die klassische diagnostische Unterscheidung zwischen spezifischer Lese-/Rechtschreibstörung (Legasthenie, Dyslexie) und allgemeiner Lese-/Rechtschreibschwäche deutlich macht, handelt es sich hierbei um eine heterogene Gruppe. Obgleich Schülerinnen und Schüler mit LRS hinsichtlich sprachlich-kognitiver Voraussetzungen und aktueller Schriftsprachfertigkeiten differieren, zeigen sie in ähnlicher Weise eingeschränkte (Lern-)Aktivitäten und reduzierte schulische Partizipationsmöglichkeiten. Gemein ist solchen Kindern überdies, dass sie im Hinblick auf bedeutsame Lernfortschritte auf pädagogisch-therapeutische Hilfen angewiesen sind, die mit dem Unterricht zu koordinieren sind (z. B. Hartmann, 2008, 2013; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2011).
Die Anwendung des ICF-CY-Modells der WHO auf die Diagnostik und die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit LRS steckt in wissenschaftlicher wie praktischer Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Bisherige Analysen, Fallbeispiele und Diskussionsbeiträge zu diesem Thema legen indes nahe, dass dieses Modell eine wertvolle Ergänzung zur traditionellen, defizitorientierten Klassifikationsdiagnostik im Sinne von ICD-10 oder DSM-5 darstellt. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Die Integration von Informationen aus einer herkömmlichen LRS-Diagnostik und einer ICF-basierten Evaluation ist sinnvoll und wünschenswert, da sich dadurch ein «vollständigeres Profil von Kompetenzen und Beeinträchtigungen im spezifischen Lebenskontext des Kindes» mit Lernschwierigkeiten gewinnen lässt (Riva & Antonietti, 2010, S. 43; Übers. E. H.). Auch Korntheuer (2009, S. 220) beurteilt die ICF-CY insgesamt als ein «hilfreiches Beschreibungs- und Dokumentationsinstrument für LRS».
Obwohl eine ICF-basierte Diagnostik grundsätzlich zu pädagogisch-therapeutisch relevanten Informationen führt, stößt die aktuelle Form der ICF-CY als Basis für die Unterrichts- und Interventionsplanung an gewisse Grenzen. Während sich nämlich Förderziele «aus den Bereichen der Körperfunktion und Umweltfaktoren relativ unmittelbar ableiten» lassen, liegen «für Aktivität und Partizipation therapeutisch nutzbare Unterteilungen […] nur in geringem Maße [vor]. Für die meisten Bereiche der Kernsymptomatik von LRS – insbesondere Teilfertigkeiten des Lesens oder Rechtschreibens betreffend – liefert die ICF-CY keine geeigneten Kategorien» für die Konzeption von Interventionen (Korntheuer, 2009, S. 225). Diese differenzierte Einschätzung ist wichtig, zumal symptom- oder schriftsprachspezifische Interventionen bei LRS nachweislich am wirksamsten sind (Galuschka et al., 2014; Ise, Engel & Schulte-Körne, 2012). Somit ist weiterführende Forschung zur ICF-basierten Diagnostik und Interventionsplanung bei Schriftspracherwerbsstörungen erforderlich. Schließlich ist zu bedenken, dass die Abklärung von Kindern mit LRS anhand der ICF-CY (z. B. Hollenweger & Lienhard, 2011) eine zuverlässige Evaluation von kindlichen Lernfortschritten im Kontext von Unterricht und pädagogisch-therapeutischer Unterstützung nicht ersetzen kann.
Welcher Schriftsprachunterricht ist hilfreich und Erfolg versprechend?
Lehrperson
Der Regelunterricht im Lesen und Schreiben ist das A und O schulischer Bemühungen um bestmögliches Lernen aller Kinder. Aktuell liegen überzeugende wissenschaftliche Belege vor, wonach Risikolernerinnen und -lerner wie auch Schulkinder mit LRS von einem qualitativ guten Schriftsprachunterricht durch die Regellehrperson profitieren. Ein solcher aussichtsreicher (präventiver) Unterricht orientiert sich an empirischen Erkenntnissen über effektive didaktisch-methodische Ansätze und Vorgehensweisen zur Entwicklung von kindlichen Schriftsprachfertigkeiten und -aktivitäten (Denton, 2012; Hartmann, 2013).
Merkmale eines förderlichen Unterrichts im Lesen und Schreiben
Aufgrund einer Analyse des Verhältnisses zwischen effektiver früher Instruktion und Inklusion schlussfolgert Savage (2006, S. 347; Übers. E. H.), dass ein qualitativ hochwertiger Schriftsprachunterricht in den ersten Schuljahren eine unerlässliche Bedingung für «genuin inklusive Bildung» ist beziehungsweise ein Erfordernis darstellt und «produktiv mit inklusiven Zielen verknüpft werden kann». Was Kinder mit Lernrisiken beziehungsweise LRS angeht, hat die Forschung insbesondere folgende Merkmale eines förderlichen Regelunterrichts im Lesen und Schreiben identifiziert (z. B. Coyne, Zipoli & Ruby, 2006; Denton, 2012; Vaughn, Bos & Schumm, 2011):
— Fokus auf essenzielle Voraussetzungen und entwicklungsrelevante Dimensionen des Schriftspracherwerbs (siehe Abbildung 1, S. 183);
— intensive Nutzung von verfügbarer Unterrichtszeit für die aktive Beschäftigung mit dem Lerngegenstand Schriftsprache;
— ausgewogener Lese- und Schreibunterricht mit direkten Instruktionen und offenen Lehr-Lern-Angeboten;
— flexibles Gruppieren zur Binnendifferenzierung und ...