Ilse Aichinger Wörterbuch
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Ilse Aichinger Wörterbuch

  1. 368 Seiten
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Über dieses Buch

Das Wörterbuch versammelt Wörter, die Ilse Aichingers literarisches Werk prägen, und lädt zu Lektüren und Entdeckungen ein.Ilse Aichinger zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller*innen der Gegenwart. Ihre Gedichte, Hörspiele und Erzählungen führen in eine Sprachlandschaft von großer poetischer Kraft und politischer Klarheit.Seit dem einzigen Roman "Die größere Hoffnung" (1948) widmet sich ihr Schaffen der Genauigkeit des einzelnen Wortes in kleinen literarischen Formen: "Die Worte sind das Einzige, wodurch ich mir eine Realität verschaffe. […] Ich würde sagen, sie sind für mich das Genaueste. Am ehesten komme ich zur Welt durch das Wort, wenn es wirklich ein Wort ist, wenn es kein Gerede ist." Die radikale Abwendung von leeren, konformistischen Wörtern geht einher mit der Suche nach "Schlechten Wörtern", die, so Aichinger, "waren immer mein Ziel, das Zweitbeste, der Rand, die Peripherie, nicht schöne Sätze in schönen Journalen."Somit ist die Form des Wörterbuchs in Aichingers Werk vielfach vorgezeichnet. Circa 80 Essays begeben sich auf die Spuren von Querverbindungen und in zeithistorischen Kontexten in Wörtern wie Atlantik, Beerensuchen, Der dritte Mann, Dover, Europa von Osten her, genug Angst haben, Großmutter, Hasen, Lumpen, Misstrauen, Rand / Ränder, Schnee, Verschwinden, Untergänge oder zwei / Zwilling.Ilse Aichinger (1921-2016) wäre am 1. November 2021 einhundert Jahre alt geworden. Die Tochter einer jüdischen Ärztin und eines katholischen Lehrers erlebte ihre Kindheit, Jugend und die Zeit der Verfolgung während des Nationalsozialismus in Wien. Ein 1945 begonnenes Medizinstudium brach sie ab, um den Roman "Die größere Hoffnung" (1948) zu schreiben. Die vielfach ausgezeichnete Autorin starb am 11. November 2016 in Wien.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783835347588

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter

Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Das reicht. Ich hatte übrigens gerade noch einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen die Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. Ich bin nicht sehr neugierig, was mir beim nächsten Regen einfallen wird, beim nächstsanfteren, nächstheftigeren, aber ich vermute, daß mir eine Wendung für alle Regensorten reichen wird. Ich werde mich nicht darum kümmern, ob man stürzen sagen kann, wenn er nur schwach die Scheiben berührt, ob es dann nicht zuviel gesagt ist. Oder zu wenig, wenn er im Begriff ist, die Scheiben einzudrücken. Ich lasse es jetzt dabei, ich bleibe bei stürzen, um den Rest sollen sich andere kümmern.
Den Untergang vor sich her schleifen, das fiel mir auch ein, es ist sicher noch viel angreifbarer als der stürzende Regen, denn man schleift nichts vor sich her, man schiebt es oder man stößt es, Karren zum Beispiel oder Rollstühle, während man andere Dinge wie Kartoffelsäcke nachschleift, andere Dinge, keinesfalls Untergänge, die werden anders befördert. Ich weiß das und die bessere Wendung lag mir auch schon wieder auf der Zunge, aber nur um zu fliehen. Ich trauere ihr nicht nach. Den Untergang vor sich her schleifen oder besser die Untergänge, ich versteife mich nicht darauf, aber ich bleibe dabei. Ob man sagen kann ich entscheide mich dafür ist fraglich. Die bisherigen Sprachgebräuche lassen eine Entscheidung da, wo es sich nur mehr um eine Möglichkeit handelt, nicht zu. Man könnte sich darüber unterhalten, aber ich habe diese Unterhaltungen satt – sie werden meistens in Taxis auf den Wegen stadtauswärts geführt – und nehme meine angreifbaren Wendungen in Kauf.
Ich werde sie natürlich nicht anbringen können, aber sie tun mir leid wie Souffleure und Opernglasfabrikanten, ich beginne eine Schwäche für das Zweit- und Drittbessere zu bekommen, vor dem sich das Gute ganz geschickt verbirgt, wenn auch nur im Hinblick auf das Viertbessere, dem Publikum zeigt es sich häufig. Das kann man nicht übelnehmen, das Publikum wartet ja auch darauf, das Gute hat keine Wahl. Oder doch? Könnte es sich nicht im Hinblick auf das Publikum verbergen und den schwächeren Möglichkeiten sein Gesicht zeigen? Das muß man abwarten. Ausreichende Devisen gibt es genug – das komplizierte Erlernbare – und wenn ich mich auf die nicht ausreichenden stütze, so ist das meine Sache.
Ich bin auch bei der Bildung von Zusammenhängen vorsichtig geworden. Ich sage nicht während der Regen gegen die Fenster stürzt, schleifen wir die Untergänge vor uns her, sondern ich sage der Regen, der gegen die Fenster stürzt und die Untergänge vor sich her schleifen und so fort. Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. Ich bin nicht wahllos wie das Leben, für das mir auch die bessere Bezeichnung eben entflohen ist. Lassen wir es Leben heißen, vielleicht verdient es nichts besseres. Leben ist kein besonderes Wort und sterben auch nicht. Beide sind angreifbar, überdecken statt zu definieren. Vielleicht weiß ich, warum. Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt dem Zugriff der Träume aus. Aber das muß ich nicht wissen. Ich kann mich heraushalten, ich kann mich sogar leicht heraushalten. Ich kann daneben bleiben. Sicher könnte ich leben so oft vor mir hersagen, bis mir davon übel würde und ich mich gezwungen sähe, zu einer anderen Bezeichnung überzugehen. Und sterben noch öfter. Aber ich tue es nicht. Ich schränke ein und schaue zu, damit bin ich genügend beschäftigt. Ich höre auch zu, aber das hat gewisse Gefahren. Dabei können einem leicht Einfälle unterlaufen. Sammle den Untergang hieß es unlängst, es klang wie ein Gebot. Das möchte ich nicht. Wenn es eine Bitte wäre, so wäre sie zu überlegen, aber Gebote jagen mir Angst ein. Deshalb bin ich auch zum Zweitbesseren übergegangen. Das Beste ist geboten. Deshalb. Ich lasse mir nicht mehr Angst machen, ich habe genug davon. Und noch mehr von meinen Einfällen, die gar nicht die meinen sind, weil sie sonst anders hießen. Meine Ausfälle kann es heißen, aber nicht meine Einfälle. Ach was, es kann alles heißen. Das haben wir zur Genüge erfahren. Die wenigsten können sich wehren. Sie kommen zur Welt und werden sofort von alledem umgeben, was sie zu umgeben nicht ausreicht. Ehe sie den Kopf wenden können, werden ihnen, begonnen bei ihrem eigenen Namen, Bezeichnungen zugemutet, die nicht zutreffen. Sie sind schon in den Schlafliedern leicht nachzuweisen. Später wird das massiver. Und ich? Ich könnte mich wehren. Ich könnte statt dem Erstbesten leicht dem Besten auf der Spur bleiben, aber ich tue es nicht. Ich will nicht auffallen, ich mische mich lieber unauffällig hinein. Ich schaue zu. Ich schaue zu, wie alles und jedes seine rasche, unzutreffende Bezeichnung bekommt, ich tue sogar seit kurzem mit. Der Unterschied ist nur: ich weiß, was ich tue. Ich weiß, daß die Welt schlechter ist als ihr Name und daß deshalb auch ihr Name schlecht ist.
Sammle den Untergang – das klingt mir zu gut. Zu scharf, zu genau, den späten Vogelschreien zu ähnlich, eine bessere Bezeichnung für die reine Wahrheit als die reine Wahrheit es ist. Damit könnte ich auffallen, aus meiner lange und schwer eroberten bescheidenen Stellung in der Phalanx der Benenner herausgehoben werden, meinen Zuschauerposten verlieren. Nein, das lasse ich. Ich bleibe bei meinem Regen, der gegen die Fenster stürzt, in der Nähe der zweckgebundenen Ammenmärchen – und wenn schon Untergänge, dann solche, die man vor sich her schleift. Das Letzte ist fast schon zu genau, vielleicht sollte man Untergänge überhaupt aus dem Spiel lassen. Sie sind dem, wofür sie stehen, zu nahe, stille Lockvögel, die die Norm umkreisen. Norm ist gut, Norm ist in jedem Fall ungenau genug, Norm und der Regen, der stürzt, alle Vor-, alle Nachnamen, das geht endlos und man bleibt der stille Zuschauer, der man sein möchte, aus der einen oder der anderen Richtung beifällig betrachtet, während man die Fäuste in den Taschen und die Untergänge bei sich selbst läßt, fortläßt, sein läßt, das ist gut. Sein lassen ist schon wieder zu gut, zum Lachen gut, nein, weg mit den Untergängen, sie ziehen unerwünschte Genauigkeiten an und kommen in keinem Schlaflied vor.
Der Regen, der gegen die Fenster stürzt, da haben wir ihn wieder, den lassen wir, der läßt alles in seinem unzutreffenden Umkreis, bei ihm bleiben wir, damit wir wir bleibt, damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln.
So läßt es sich leben und so läßt es sich sterben und wem das nicht ungenau genug ist, der kann es in dieser Richtung ruhig weiter versuchen. Ihm sind keine Grenzen gesetzt.
Quellennachweis: Ilse Aichinger: Schlechte Wörter, in: Schlechte Wörter © 1991 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt a. M., S. 11-14.

Atlantik

Ilse Aichinger mag das Meer. In der Vorbemerkung zum »Journal des Verschwindens« erwähnt sie eine frühe Neigung zur Seefahrt und zum Atlantik. Sie schreibt: »Möglicherweise hing die Affinität zu Schiffen mit ihrer Chance zu versinken zusammen, die jede Existenzform begreiflicher machte.«[1] Der Atlantik: Ein Raum zwischen den Kontinenten und – wenn man sich auf einer Überfahrt befindet – ein Ort des Dazwischen. Die Faszination für den Atlantik, für die Zwischenräume, passt zu Aichinger und ihrer Art des Schreibens. Anfang der 1970er Jahre schrieb sie die Texte des Erzählbands Schlechte Wörter. Diese richten das Augenmerk konsequent auf Randbereiche. Sie kreisen um das scheinbar Nebensächliche und finden dabei immer wieder Ansatzpunkte, um die Welt und insbesondere die Sprache, die sie beschreiben will, aus den Angeln zu heben.
Das Beispiel Queens aus der Sammlung Schlechte Wörter illustriert, wie die Konzentration auf Zwischenräume das Schreiben Aichingers beeinflusst, und wohin es die Lesenden ziehen kann, wenn sie ihr Augenmerk auf diese Zwischenräume richten und die Chance in ihnen zu versinken, wahrnehmen. »Wahlverwandt, geglückt, die Schwindelerreger reihen sich aneinander, uses my wife for sewing, das Kettenhemd wächst, läßt sich bald einhaken, die Legende eine Leseanleitung, ein Nähfaden für die Unsterblichen, für ihre gebrechlichen Finger, entwichen, ausgefädelt, nein, nein, so nicht, wir haben uns gleich wieder, wir sind vollzählig, da, doch da, abgewrackt in Virginia, aber wir sind doch da.«[2] So beginnt Queens und lässt beim ersten Lesen wenig mehr zurück als Irritation und die Frage, was das denn nun wohl heißen soll. Doch wer die vorangehenden Texte in Schlechte Wörter aufmerksam gelesen hat, weiß bereits, wie fundamental Aichinger eindeutige Bezeichnungen in Zweifel zieht – dass also nichts so einfach heißen kann, egal, ob es soll oder nicht. Aichinger setzt die Irritationen bewusst ein. Sie bricht Konventionen des Schreibens, zuweilen sogar die Grammatik, um die Lesenden zu zwingen, genauer hinzuschauen, den Text, ja sogar die einzelnen Wörter, hin und her zu wenden. Für jene, die diesen Stolpersteinen nachgehen und sich auf das langsam und immer wieder Lesen einlassen, gibt es in den Zwischenräumen viel zu finden.
Der offensichtlichste dieser Stolpersteine findet sich schon in der zweiten Zeile: »[U]ses my wife for sewing«. Ein englischer Halbsatz, der sich auch auf der semantischen Ebene zunächst nicht einordnen lässt. Und doch haben die fünf englischen Wörter bereits eine durchaus schwindelerregende Wirkung. Sie versetzen die Lesenden in einen Raum zwischen der englischen und der deutschen Sprache – wenn man so will, in einen metaphorischen Atlantik...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Ilse Aichinger: Schlechte Wörter
  7. Autorinnen und Autoren
  8. Dank
  9. Editorische Nachbemerkung
  10. Verzeichnisse und Register