1 MedialitÀt, Medien
FĂŒr âMedialitĂ€tâ hatte bereits Goethe ein ausgeprĂ€gtes Bewusstsein, denn er war ĂŒberzeugt, âdass jede Beobachtung in Kunst und Natur symbolisch verfasst und mithin unhintergehbar in Vermittlungs- und Ăbertragungsprozesse eingebundenâ sei (Naumann et al. 2018). In heutige Diktion ĂŒbertragen bedeutet dies: Alles, was wir Menschen beobachten, wahrnehmen, denken, kommunizieren ist unhintergehbar medial vermittelt und âwird stets mit Hilfe von und in Medien wahrgenommen, kommuniziert und gedachtâ (KrĂ€mer 2004, 22). Wir produzieren und deuten permanent Zeichen, weshalb Ernst Cassirer den Menschen als âanimal symbolicumâ bezeichnete (Cassirer 1944/2007, 51). MedialitĂ€t ist unausweichlich omniprĂ€sent in unserer Existenz als Menschen: FĂŒr uns gibt es âkein AuĂerhalb von Medienâ (KrĂ€mer 2004, 2223). Das Ă€lteste menschliche Medium ist unser eigener Körper. Mit unseren fĂŒnf Sinnesorganen nehmen wir die Welt wahr, deuten sie und âdockenâ sie an uns an. Mit der Gestik, Mimik und Stimme unseres Körpers haben wir als Urmenschen kommuniziert und unser wichtigstes audio-visuelles Archimedium und Weltdeutungsinstrument entworfen: Sprache (JĂ€ger 2011, 19 â 42). Diese Medien nutzen wir bis heute. Sprache wiederum ist das Material von Literatur.
Insofern es fĂŒr uns Menschen âkein AuĂerhalb von Medienâ gibt, sind Medien fĂŒr uns âunbeobachtbarâ.1 Wie sollen wir sie dann beschreiben? Wie sollen wir âMedien an sichâ wahrnehmen, wenn wir immer schon in ihnen sind? Das ginge doch nur von einer Position auĂerhalb oder zumindest von den RĂ€ndern her. Wie sollen wir erklĂ€ren, was âMedialitĂ€tâ ist? Was hat das mit jener Kunst zu tun, deren Material Sprache ist: Literatur?
Der erste Schritt zur Lösung ist, sich von der Frage zu lösen, was ein Medium sei, denn wir können sie nicht beantworten. Wenn wir aber einer pragmatisch-performativen Bestimmung von MedialitÀt folgen, stellt sich uns die Frage, wie ein Medium funktioniert und wie es sich im Gebrauch transformiert.2 Diesen Zugang wiederum fokussiere ich hier auf die:
2 MedialitÀt der Literatur
Wie funktioniert Literatur als Medium? Wie transformiert sie sich im Gebrauch? Ich möchte dazu hier drei VorschlÀge machen und an Beispielen erlÀutern.
Literatur als Medium lÀsst sich von ihren RÀndern her beobachten und in ihrer Funktion beschreiben.
Zu diesen RĂ€ndern gehört die konkrete MaterialitĂ€t von Literatur, weshalb ich hier an das Konzept der âParatextualitĂ€tâ anknĂŒpfen möchte, das GĂ©rard Genette entworfen hat. âParatextualitĂ€tâ zielt just auf die RĂ€nder des Textes und auf die leserlenkende Funktion und Macht von Paratexten wie Autorname, Titel, Untertitel, Waschzettel, Widmung, Motto, Vorwort, Nachwort etc. Doch Paratexte können auch nicht-textuelle âMaterialienâ sein wie BuchumschlĂ€ge, Illustrationen, Fotos etc.3 Mit einem intermedialen, ĂŒber Genette hinausgehenden Konzept von Paratext, das âSchriftâ und âBildâ umfasst, lĂ€sst sich die MedialitĂ€t von Literatur als konkrete MaterialitĂ€t genauer beobachten. Die leserlenkende Macht von Paratexten (Genette 1993, 12) bietet uns die Möglichkeit, zur manipulativen Funktion von Medien vorzudringen. Paratexte setzen den Text in Szene, sie generieren beim Leser Vorannahmen und einen Erwartungshorizont.4 Sie spuren den Gebrauch von Literatur vor (Bosse 2010).
Literatur als Medium lÀsst sich da beobachten und in ihrer Funktion beschreiben, wo sie intramedial autoreferentiell agiert.
Dass wir Medien nicht âan sichâ wahrnehmen können, hat zu der Ansicht gefĂŒhrt, Medien könnten niemals selbst ĂŒber ihre eigene MedialitĂ€t Auskunft geben. Mit Bartz, JĂ€ger et al. halte ich dagegen, dass sie durchaus auch âvon innen herausâ erfasst werden können, nĂ€mlich da, wo sie sich âintramedial in rekursiven Schleifenâ auf sich selbst beziehen (Bartz et al. 2012, 10). Es handelt sich um intramediale âSchlĂŒsselstellenâ im Text, die sich autoreferentiell auf den Text selbst beziehen. Sie sind genau zu analysieren und auf ihre Funktion zu befragen â etwa als lesersteuernde Selbstinszenierungen des Textes.
Literatur als Medium lĂ€sst sich da beobachten und in ihrer Funktion beschreiben, wo sie ihre RĂ€nder ĂŒbertritt und zu anderen Medien in Beziehung tritt, z. B. durch intermediale BezĂŒge oder durch Medienwechsel.
Dies setzt voraus, dass die RĂ€nder zwischen Medien erkennbar sind. Allerdings sind Medien meist schon gemischt, insofern sie sich verschiedener semiotischer Systeme bedienen. Literatur z. B. nutzt die semiotischen Systeme der Schrift, des Bilds und des Tons. Zwischen Medien zu unterscheiden, ist eine bloĂe Konvention, die wir als Hilfsmittel brauchen, um IntermedialitĂ€t und Medienwechsel beschreiben zu können. Hier ist zu fragen, wie und zu welchem Zweck in einem Medium BezĂŒge auf andere Medien hergestellt, inszeniert werden, und welche lesersteuernde Funktion diese BezĂŒge haben. Und welche Konsequenzen hat in dieser Hinsicht ein Medienwechsel? Die fĂŒr Literatur und ihr Material Sprache wichtigste Unterscheidung verlĂ€uft zwischen Schriftlichkeit und MĂŒndlichkeit.5
Diese drei VorschlÀge werde ich im Folgenden an konkreten Beispielen veranschaulichen: an Goethe und an seinem West-östlichen Divan.
3 âGoetheâ als Beispiel: West-östlicher Divan
3.1 MaterialitÀt und ParatextualitÀt
Mit 241 Gedichten ist der West-östliche Divan das weitaus gröĂte Gedichtensemble in Goethes Gesamtwerk. Der Name âDivanâ ist von arabisch-persisch dÄ«wÄn = âVersammlung von Gedichtenâ abgeleitet. Goethes Divan verdankt sich einer beispiellosen ProduktivitĂ€t, ausgelöst durch ein Buch: Im Mai 1814 erhielt der 64-JĂ€hrige von seinem Verleger Cotta den Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis, eine umfĂ€ngliche Sammlung persischer Gedichte, die der Wiener Orientalist Joseph von Hammer erstmals vollstĂ€ndig ins Deutsche ĂŒbersetzt hatte (Der Diwan ⊠1812/1813). Goethe war begeistert, trat mit HÌŁÄfizÌŁ in einen produktiven Wettstreit und dichtete in wenigen Wochen ĂŒber 50 herausragende Gedichte. Ende 1814 begann er, ĂŒber HÌŁÄfizÌŁ' Diwan hinauszugehen und intensive Studien zu orientalischen Literaturen und Kulturen zu betreiben. Er lieĂ sich inspirieren von ĂŒber hundert BĂŒchern in deutscher, lateinischer, französischer, englischer Ăbersetzung. Es handelte sich um poetische Werke, Epen, Beschreibungen von Reisen in den Orient, EnzyklopĂ€dien, wissenschaftliche AufsĂ€tze u.v.m. (Bosse 1999, 167 â 588) Goethes Orient ist also ein âBuchâ-Orient, ein in Ăbersetzungen âerlesenerâ Orient â mit undurchdringlicher Demarkation gegenĂŒber den originalen orientalischen Sprachen, Literaturen und Kulturen. Diese fĂŒr ihn unhintergehbare mediale Vermitteltheit hat Goethe daher versucht fĂŒr seinen Divan zu âdurchstoĂenâ. Er entsann sich eines Mittels, das er zeitlebens erfolgreich angewandt hatte â in seinen literarischen Werken, in seinen naturwissenschaftlichen Experimenten, in seinem Alltag. Dieses Mittel ist die sinnliche Anschauung.
Nun ist zur Goethezeit das Buch das erfolgreichste, aber auch entindividualisierteste Schriftmedium ĂŒberhaupt. Das gedruckte, immer wieder reproduzierbare Buch ist dem Autor und seiner individuellen Handschrift ent-fremdet. Der Buchdruck ist eine Technik der Entsinnlichung â doch unumgĂ€nglich. Denn erst mit der Buchpublikation wird eine literarische Schöpfung ĂŒberhaupt âWerkâ und tritt vor eine Leserschaft. Es ist daher bemerkenswert, welchen Aufwand Goethe betrieb, um den Lesern seines Divan-Buchs eine sinnliche Anschauung zu vermitteln, und zwar durch sinnliche MaterialitĂ€t.
Als er 1818/1819 den Erstdruck seines Divans vorbereitete, entsann er sich der originalen orientalischen Handschriften, die er fĂŒr die Weimarer Hofbibliothek hatte anschaffen lassen, weil sie ihn begeisterten.6 So schrieb er an Christian Gottlob Voigt im Januar 1815: â[M]an muĂ dergleichen Handschriften wenigstens sehen, wenn man sie auch nicht lesen kann, um sich einen Begriff von der orientalischen Poesie und Literatur zu machen.â(WA IV 25, 141; meine Hervorhebungen, A.B.) Der rein visuelle Zugang (âsehenâ) ist der primĂ€re und bleibende, denn Goethe konnte die arabische Schrift ânicht lesenâ. Die Unmöglichkeit einer LektĂŒre war aber gerade Voraussetzung dafĂŒr, eine unmittelbare Ă€sthetische Wahrnehmung zu ermöglichen. Die arabischen Schriftzeichen waren fĂŒr Goethe keine Zeichen, die auf einen Inhalt verweisen, sondern pure Zeichnung und damit Teil der wundervollen orientalischen Ornamentik. Nur so konnte ihn die pure Sinnlichkeit der Schrift betören. Dies wollte Goethe an die Leser seines West-östlichen Divans weitergeben.7 Im Erstdruck des Divans, der 1819 bei ...