Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen
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Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

  1. 271 Seiten
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Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Ein schonungsloser und ehrlicher Roman über eine Frau, die trotz Widrigkeiten ihren Weg geht: Herrmann-Neiße, der aufgrund eines Unfalls kleinwüchsig blieb, stattet seine Protagonistin Paula Bernert mit denselben körperlichen Beeinträchtigungen aus, jedoch wurde Paulas Behinderung durch Schläge ihrer Mutter verursacht. Sie wird hier aber nicht (nur) als Opfer dargestellt, sondern auch als eine durchaus berechnende Frau, die es sehr wohl versteht, die Dinge zu ihrem Vorteil zu nutzen und dabei vor nichts zurückschreckt...-

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Information

Jahr
2020
ISBN
9788726614602

XV

Sogar dieser fromme, auf seinen guten Ruf bedachte Ort schien noch einmal außer Rand und Band zu geraten.
Wir wissen ja, daß auch vor dem Kriege sich, mehr oder weniger verborgen, hier allerlei Sündhaftes zutrug. Was die Stadt als willige Tochter der Kirche an sinnlicher Lust sich hatte versagen müssen, das holte sie damals als ebenso willige Wirtin der Garnison wieder ein. Es wimmelte von gröberen und feineren Animierlokalen, die stellungslosen Kellnerinnen des ganzen Regierungsbezirkes fanden in engagementsfreien Zwischenzeiten ein ergiebiges Betätigungsfeld, und für das Offizierskorps sorgten außerdem die Damen des Theaters. Das alles hatte eher geschäftlichen Charakter, war nicht die wahre Liebe.
Die wurde geschenkt von Dienstmädchen, Kantinenpächterund Konditortöchtern, Eisenbahner-, Feldwebel-, Drogisten-Frauen, und nachher blühte desto üppiger der Weizen sowohl der kirchlichen wie der ärztlichen Beichtväter. Daß die Dinge in einer halböffentlichen Heimlichkeit, mit dem prickelnden Schauder des Verbotenen getrieben werden mußten, schien ein Reiz mehr, doch als bei Kriegsausbruch der Liebesdienst an den Heldentod-Anwärtern gottwohlgefälliges Samariterwerk wurde, da hatte auch das seinen besondren Kitzel. Es folgte die karge, brenzliche, männerarme Zeit, belebt nur durch das erregende Fluidum von Blut, Marter, Verstümmelung, und nun durfte man sich wohl schadlos halten für die Ära des Ersatzes auch in der Sinnenlust. Wer die politische Änderung noch so sehr ablehnte, machte doch die erotische Revolution mit, freilich meist ebenso hündisch, schlechten Gewissens, wie die Mitläufer des staatlichen Umsturzes es taten. Dabei zeigte man gern auf das Beispiel Höherstehender: Elfriede Kausch etwa auf die Tochter des Kommerzienrates Hahn, die der sozialdemokratischen Partei beitrat, oder auf die Landrat-Lotte, die in München Kunstgewerblerin geworden war und einen Lautensänger geheiratet hatte.
Elfriede Kausch, eigentlich die Witwe Elfriede Goller, verließ nämlich in den ersten Wochen der Republik die ländlichen Verwandten und fand sich wieder in ihrer Vaterstadt ein. Hier dachte man längst nicht mehr an ihre Vergangenheit, man hatte mit dem eigenen Vergnügen zu tun, und Elfriede blieb nicht nur unbehelligt, sondern wurde bereitwillig in den allgemeinen Reigen der Lust aufgenommen.
Weniger entzückt von Elfriedes Rückkehr war ihre alte Freundin Paula Bernert. Denn der Zwang der ländlichen Gefangenschaft mit Erniedrigungen und Entbehrungen hatte Elfriede vollends aufgeputscht. Jetzt rückte sie an mit ungeheurem Appetit auf Abenteuer, hemmungs- und rücksichtslos, stürzte sich rasend in jede Gelegenheit, schien gradezu erpicht darauf, Ärgernis zu erregen, öffentlichen Skandal zu provozieren. Nun hatte sich zwar in dieser Stadt vieles geändert, die Menschen der alten Generation waren zum großen Teil im Kriege gefallen oder in der Heimat an Unterernährung gestorben, die Überlebenden hatten nicht mehr viel zu sagen, legten sich auch selbst weniger Zwang auf, suchten schnell noch zu erraffen, was zu erraffen war, und eine neue Generation von Kriegsjugend taumelte richtungslos herum, nahm sich vor, zuerst einmal von jedem Erlebnis zu kosten, doch hatte alles hier seine Grenzen, niemand wußte, wie lange der Spaß dauern würde, und keiner war gewillt, sich für immer unmöglich zu machen. So gab es auch in diesem Ort jetzt täglich zweimal Tanz, lärmte die Jazzband, war die Stadtkonditorei überfüllt, steckte da offenkundig der Bund der Halbwüchsigen beieinander, getrauten Backfische sich allein ins Lokal. Aber das sah nur verwegen aus, im Hinterstübchen hatten die zugehörigen Mütter ihre Zusammenkunft, der altbewährte Kaffeeklatsch machte sich dort mit »Jugend will austoben« und »Man muß mit der Zeit gehen« zur eigenen, unriskanten Modernität Mut, und die Mädchen, die sich draußen müde getanzt hatten, waren sowieso zu weitrem nicht mehr fähig.
Natürlich gab es außerdem eine gründlichere Entfesselung, ein großzügigeres Wüsten, doch grade das war sehr exklusiv, zog das Dunkel, die Namenlosigkeit vor, nützte allerdings die technische Erleichterung, die der schwankende Weltzustand ihm bot, wollte aber subtil behandelt sein. Bei diesen, sagen wir einmal: Orgien hatte Paula eine gewisse Rolle, an ihnen war sie grundsätzlich und geschäftlich beteiligt, und Elfriedes täppische Unbändigkeit konnte da nur Schaden anrichten. Gottseidank war ihrer Unvernunft eine massive Schranke gesetzt: die Witwe hatte kein Geld, Paula aber sich längst in eine bescheidene Wohlhabenheit hineinmanövriert. Rechtzeitig waren mit großem Geschick die Verbindungen zur Höhe und Tiefe von ihr verwertet worden. Oben genügten Andeutungen; man verstand in dieser Gesellschaftsschicht rasch und anerkannte, freier im Spiel, den strategischen Vorteil. Paula besaß bald eine zuverlässige Stammkundschaft. Mit den ehemaligen Arbeitskolleginnen aus der Munitionsfabrik war nach Fredys Verschwinden ein Vertrauensverhältnis leicht herzustellen, zumal Paula gewisse Vorteile bieten konnte, die meisten dieser Mädchen aber jetzt keinen andren Posten fanden. Paula war nun imstande, sich eine ganze Schneiderwerkstatt mit soundsoviel Hilfskräften zuzulegen, sie erbarmte sich ihrer früheren Leidensgefährtinnen, nicht ohne die Gehälter nach unten zu drücken. Dann ließ sie, da die Parterrestube nicht mehr ausreichte, die Witwe Finger, die allzu oft die Miete schuldig geblieben war, vom Hauswirt quittieren und etablierte in deren Wohnung das »Atelier Paula«. Es schien ihr das eine nachträgliche Rache an dem Untermieter der Witwe Finger, dem Militärhoboisten Kusche, der doch längst gefallen war und bedeutete zumindest ein gutes Geschäft: eine ebenso ertragreiche wie vergnügliche Mischung aus Modesalon, Konspiration, Kuppelei.
Paula hatte mit Vorbedacht nicht ihre Gasse und ihr altes Haus verlassen, dieser Gegend verdankte sie ihr Leben und blieb ihr verbunden, hier war man unkontrolliert, fand alles ein menschliches Verständnis, Nachsicht, Duldung, auch verbürgten die beiden Ausgänge, nach der Gasse und übern Hof nach der Hauptstraße, ein ungeniertes Kommen und Gehen. Als Direktrice des Unternehmens wurde Elfriede engagiert. Und das zweideutige Geschäft florierte. Vormittags erschienen die Damen, machten ernsthaft ihre Bestellung. Die eine und die andere verschwand in der Anprobierkabine, mit Lene, Trude, Hede, oder der kleinen, mageren Hartel-Hilde. Nachmittags fanden die Herren sich ein. Es handelte sich zunächst um ein Geschenk für die Gattin, eine Überraschung, dann wurde das geeignete Mädchen gewählt, um die gekaufte Ware in die Wohnung des Kunden zu bringen. Was dort geschah, ging Paula nichts an, außer den Prozenten, die ihr von jeglicher Einnahme zukamen. Übrigens war man bei ihrer Firma gut bedient, sie hatte ihre Fräuleins fest im Zügel, wandte je nach Bedarf die burschikose Gemütlichkeit der Mitverschworenen oder den scharfen, keinen Widerspruch duldenden Ton der Kommandeuse an und hielt im entscheidenden Augenblick strenge Zucht, Chefin einer Räuberbande, die mit leidlich guten Manieren und auf lustvolle Weise geeigneten Opfern Überflüssiges abknöpfte. Bald erweiterte sich der Betrieb ins Unvorhergesehene, spielten die Kunden ganz selbständig mit. Die Vormittagsbesucherinnen und die Nachmittagsgäste kämpften über Kreuz miteinander an und verwandten Paulas Personal zu anregenden Hilfeleistungen. Paula ging, äußerst anpassungsfähig, mit der Entwicklung mit, führte bald auch das Regiment über Frau Stadtrat, Frau Bankier, Frau Direktor. Was sie einst mit Elfriede getrieben hatte, als der Mime versagte, galt nun als letzter Chic, und Paula stellte die vornehmen Damen mit Trude, Lene, Hede und der kleinen, mageren Hartei-Hilde zufrieden. Sie nutzte die Untertänigkeit lesbischer Freundinnen aus und konnte schließlich ganz Anspruchsvollen ein vielfältiges Theater arrangieren, dessen Akteure ihre gesamte weibliche Belegschaft und ihre gesamte Damen- und Herren-Stammkundschaft bildeten. Paula war unerschöpflich in Einfällen, jeder ließ sich verwirklichen, die Hautevolee und die Gassenmädchen kamen dabei auf ihre Kosten, und für die Verständigung und Verschmelzung der Gesellschaftsklassen wurde auf ergötzliche, abwechslungsreiche, unwiderstehliche Art viel getan.
Paulas Geschäft war durchaus nichts außergewöhnliches, vieles war möglich, ihr Gewerbe besaß kuriose Kollegen. Die Tillichs, drei alte Jungfern, denen ein kleiner Papierladen in der Kiesgasse gehörte, saßen nach Geschäftsschluß in ihrem Privatzimmer unter der Hängelampe und klebten obszöne Scherzkarten, »etwas für Herrenabende«, womit sie eine Firma in Dresden, Schließfach 119, belieferten. Oder der Photograph Pasche, geachtetes Mitglied des »Liederkranzes«, Stammtischzierde im soliden »Bürgergarten«, verfertigte außer den üblichen Konfirmanden-, Brautpaar-, Vereinsaufnahmen auch Lichtbilder mehr als intimer Natur, die an einen Händler der Berliner Passage gingen und von ihm in galanten Zeitschriften wie »Reigen«, »Faun«, »Junggeselle« angezeigt wurden: »Versand erfolgt diskret in verschlossenem Kuvert.« Paula aber hatte es schwieriger, setzte mehr aufs Spiel, weil sie diese Doppelrolle in ihrer Stadt durchführte, am gleichen Platz solide Schneidererzeugnisse und erotische Genüsse vertrieb. Mit knapper Not, nur durch Preisgabe der ohnehin lästigen Elfriede, kam sie schließlich mit einem blauen Auge und wenigstens für ihre Person ohne eine Gefängnisstrafe davon. Elfriede war ja auch hauptsächlich an der Katastrophe schuld, weil sie sich nie an Paulas striktes Verbot von Sonderabenteuern halten konnte, immerzu außerhalb der Firma noch auf Erlebnisse jagte und sich als Freibeuterin der Liebe selbständig zu machen versuchte. Aber dies Wildern bekam ihr schlecht und hätte beinahe auch Paula mit hinabgerissen.
Dem langen Tanzverbot der Kriegsjahre entsprach jetzt eine Tanzwut, die ohne Beispiel war. Es schien, als begehrten die Beine, die bisher marschieren, im Dreck des Schützengrabens liegen, auf Posten oder um Lebensmittelersatz stehen mußten, sich endlich von allem Zwang zu befreien und in leichtren Rhythmen wieder zu lösen. Den Nutzen davon hatte zunächst die Tanzlehrerin Dora Klamm, deren Kurse plötzlich überfüllt waren und von niedrigen Beamten, Kaufleuten, Bücherwürmern, Lebemännern, Großvätern und Witwen besuchte wurden. Dora Klamm, bei Kriegsbeginn Ballettmeisterin des Stadttheaters, war dann hiergeblieben und hatte sich umgestellt, erst als Gymnastik- und Turnlehrerin, später sogar als eine Art orthopädischer Masseuse sich eine kümmerliche Existenz geschaffen. Jetzt erkannte sie ebenso rasch die Forderung des Tages, informierte sich schleunigst über die internationalen Modetänze, engagierte für billigen Lohn die anspruchslose, in der Kriegszeit halb verhungerte Klavierlehrerin Tschurka, mietete die freigewordene Turnhalle der Kriegsschule und gab dort von früh bis spät Tanzunterricht. Einmal wöchentlich veranstaltete sie abends für ihre Schüler und für eingeführte Gäste ein Tanzkränzchen. Fräulein Tschurka, im Sonntagsstaat, mußte erst an der Kasse sitzen, denn es wurde, zur Deckung der Unkosten, »ein nicht geringes Eintrittsgeld erhoben«. Dora hielt sich immer in unmittelbarer Nähe des Tischchens auf, das die Kasse darstellte, und achtete darauf, daß niemand umsonst durchschlüpfte. In der schlechten Gasbeleuchtung sah die ohnehin ungemütliche Turnhalle noch öder aus, ringsherum standen unbequeme Holzbänke, die die geschäftstüchtige Dora billig bei der Versteigerung der Heeresbestände erworben hatte, man saß sich da wund wie auf Anklagepritschen, wagte anfangs auch nur im Flüsterton zu reden – das ganze glich zunächst einer andächtigen Trauerversammlung. Auch hielt sich noch jede Teilnehmergruppe in hilfloser Unzugänglichkeit für sich, die meisten kannten sich wohl vom Sehen, die Stadt war ja nicht so weitläufig, aber keiner wollte sich etwas vergeben und den ersten Schritt zur Annäherung tun. Insgeheim fragte man sogar: »Was will denn der hier?«, die Gesichter blieben verschlossen, böse, die Haltung war linkisch, feindselig, und keine Alkoholspende lockerte die Hemmungen und schlug blühend Brücken zwischen argwöhnischen Gemütern. Vielmehr schlug, wenn ihr die Versammlung komplett erschien, Dora Klamm den Gong. Die Tür wurde geschlossen, die bedauernswerte Tschurka setzte sich ans verstimmte Klavier, und das Tanzvergnügen nahm planmäßig seinen Anfang. Merkwürdigerweise kam, was so trist begonnen hatte und eigentlich, von außen betrachtet, trist blieb, für die Mehrzahl der Teilnehmer doch jedesmal in Schwung, sie wurden allein von dem Wirbel des ungewohnten Tanzgenusses ins Kreisen gebracht, über ihre normale, leibliche wie seelische Beweglichkeit gesteigert, in Leidenschaften geschleudert, von denen das mechanische, berufsmäßige Geklimper der säuerlichen Tschurka nichts ahnte. Schenkel fand sich zu Schenkel, Brust gewöhnte sich an Brust, Bauch an Bauch, ein Frauenrücken empfand eine Männerhand als unwiderstehliche, virtuose Spielkraft, und, wenn die Musik abbrach, blieb alles im Banne dieses sinneumnebelnden Zaubers Tanz, hatte der preußisch nüchterne, unangenehm lieblose Exerzierraum etwas von einer großen Liebeslaube, bebten die Gespräche, auch noch so harmlos ungelenkt, von dem Taumel, der alle vorher befallen hatte. Wurde dann auch nur dünner Tee und billiges Knuspergebäck herumgereicht, entwickelte sich doch eine animierte Stimmung, ein Flirten, Balzen, Schäkern, Augenverdrehen, mit belegter Stimme Sprechen, mit Zweideutigkeiten oder überholter Galanterie Werben, als ob klebrig süßer Likör, beizender Schnaps, Wein und Sekt nach Belieben zur Verfügung gestanden hätte. Und die Mehrzahl der Gäste schied mit einem praktischen Gewinst, einer Verabredung oder zumindest einem Versprechen. Man bestätigte zufrieden, daß der Abend sich gelohnt hätte, gelobte wiederzukommen, und nur, wer schon ganz bösen Willens als verstockter Einzelgänger sich eingefunden hatte oder überhaupt für gemeinsame Freuden nicht empfänglich war, blieb als allseits bedauerter Unglücksrabe außerhalb des allgemeinen Amüsements.
Zu diesen Ausnahmen gehörte Herr Franz Karker, ein stiller, bescheidener Mann, zweiunddreißig Jahre alt, da er von Kindheit an hinkte, kriegsdienstuntauglich, Buchhalter bei den »Vereinigten Tischlern«. Frühzeitig hatte er eigene geistige Neigungen gezeigt und, weil er wegen seines Leidens sich an den Spielen und Wanderungen der Gleichaltrigen nicht beteiligen konnte, viel gelesen. Auch als Angestellter hielt er sich anders als die Kollegen, blieb für sich, bastelte, sammelte Briefmarken, legte sich eine Topfblumenzucht an, las immer wieder. Vor einem Jahr hatte er geheiratet, ein Fräulein Magda Tritzke, eine Friseurstochter, acht Jahre jünger als er, rege, für alles Aparte empfänglich, von einer zierlichen, außergewöhnlichen Schönheit, die nicht dem robusten Geschmack des Durchschnitts entsprach. In der Buchhandlung am Ring hatten sie sich kennengelernt, als er sich den neuesten Paul Keller, sie einen als unsittlich verschrieenen alten d’Annunzio holen wollte. Dann trafen sie sich oft, Franz verliebte sich leidenschaftlich in das Mädchen, dessen Äußres und dessen verständnisvolles Interesse für alles, was über den Horizont des üblichen ging, ihn gleicherweise fesselten. Und Magda fand Gefallen an seinem inbrünstigen Werben, seiner glühenden Verehrung, seinem Kult, der mehr aus ihr machte, als sie in Wirklichkeit war. Insgeheim vermutete ihre lüsterne, immer auf neue Sensationen lauernde Reizbarkeit in dem ruhigen, seltsamen Mann eine klug versteckte Perversität. Und sie hatte sich schließlich nicht getäuscht. Denn als sie ihn endlich in seinem möblierten Zimmer besuchte, hatte er ihr erst Kaffee vorgesetzt, dann lange drumherumgeredet, sie dann doch für reif erachtet und ihr seine Sammlung erotischer Photos gezeigt. Sie selbst war durch diesen krassen Anschauungsunterricht in ziemliche Erregung gebracht worden, Franz aber schien das gar nicht zu merken; er sammelte derlei genau so sachlich, wie er Briefmarken sammelte. Freilich hatte er damit in jungen Jahren begonnen, als er glaubte, ihm als Krüppel könne kein reelles Liebesglück beschieden sein. Er hielt sich dann wenigstens an diesen, gleichsam unter einer Tarnkappe erhaschten Orgien schadlos und nahm an ihnen inkognito teil, ohne ein taktloses Wort oder eine Verspottung seines Körperschadens zu riskieren. Als ihm nun doch noch eine Erfüllung in Fleisch und Blut beschert ward, war er solcher Überraschung nicht gewachsen. Er wußte nicht, ob und wie er sich benehmen sollte, war sie gewillt oder nicht?, immerhin war eine Ohrfeige zu gewärtigen, überdies fühlte er, daß er dem allem grade jetzt ganz und gar nicht gewachsen war. Er schwitzte und wandte Seite um Seite seines Albums um, dozierte kulturgeschichtlich und medizinisch, bis Magda die Sache zu dumm wurde. Sie ergriff also wohl oder übel die Initiative, dem seltsamen Franz war es teils recht, teils peinlich; weil er aber immerzu daran dachte, daß er, der Hinkebein, jetzt also doch noch zu seinem Glück gekommen wäre, erlebte er gar kein so großes Glück, und auch Magda ging, in Erinnerung an den Friseurgehilfen Schmitt, den Oberprimaner Schade und den Dentisten Sache mit einer argen Enttäuschung aus dem Treffen hervor. Das Ergebnis war eine Liebesheirat. Für Franz war Magda die benedeite Frau, die ihn zuerst die Freuden der Liebe hatte wirklich erleben lassen. Für Magda war Franz der Mann, der sie geistig für voll nahm und von der kleinen Gefälligkeit des erotischen Entgegenkommens überschwenglich entzückt war. Bei Magdas Eltern wurde die Eheschließung durch ein Mißverständnis begünstigt: Magda hatte ihnen, mit dem lächerlichen Stolz eines modernen Mädchens, gesagt, daß sie bei Herrn Karker geschlafen hätte und der Fall nicht mehr zu reparieren wäre. Sie legten sich das so aus, daß sie in absehbarer Zeit Großeltern werden sollten, und waren sehr erstaunt, als nach entsprechender Monatszahl sich nichts dergleichen ereignete. Franz und Magda aber lebten im ersten Jahr ihrer Ehe sehr glücklich miteinander. Die allgemeine Lebenskargheit war die Atmosphäre, in der sie, beide Gefangene des gleichen Zwanges, sich trösteten. Im Schneesturm etwa begleitete sie ihn, wenn er morgens zum Dienst ging, ein Stück, um sich der Kette der Frauen anzureihen, die vor der Fleischerei anstanden. Dieses Jammerbild: Magda fröstelnd, armselig ausschauend in der Schlange der andren, die da wie verprügelte Hunde vor einem noch versperrten Laden auf ein Stück kümmerlicher Nahrung lauerten, verfolgte ihn während aller Bürostunden, die Tränen kamen ihm, wenn er daran dachte, und die abgebrühten Kollegen spöttelten: »Der Karker hat wieder mal zu lange geschmökert, das schadet den Augen« oder gar: »Ja, ja, Flitterwochen sind nicht so einfach!« Als endlich die teuflische Zeit solcher Menschenentwürdigung vorüber war, glaubte Franz, daß seine Magda berechtigten Anspruch hätte auf alle Früchte, Freuden, Genüsse der viel zu spät errungenen Lebensfreiheit. Magda begnügte sich anfangs mit dem fragwürdigen Spaß, den Dora Klamms Gesellschaftsabende boten. Natürlich begleitete Franz sie, saß dann geduldig auf der unbequemen Holzbank und langweilte sich sehr. Er dachte im Stillen, wie verloren diese Stunden doch für ihn wären, und daß er sie besser an eine lehrreiche Lektüre oder eine neue Bastelei gewandt hätte, trank den dünnen Tee, würgte das billige Knuspergebäck hinunter, und begleitete schließlich seine tüchtig aufgekratzte Ehehälfte wieder nach Hause. Natürlich litt er von Anbeginn, als alles noch harmlos war, schon unter dem ganzen Betrieb, und mühte er sich auch, eine verbindliche Miene zu machen, wenn seine Magda von einem Herrn zum Tanze geholt wurde, so schmerzte es ihn doch, daß er nicht selber ihr Partner sein und mit ihr herumhüpfen konnte. Und so sehr er ihr jedes Vergnügen gönnte, kränkte ihn doch mehr, als er sich selbst eingestehen wollte, daß sie durch das blödsinnige Schreiten, Springen, Gleiten, in enger Umschlingung mit einem fremden Kavalier auf Draht, einem eitel stolzierenden Fant, sichtlich animiert werden konnte. Ob auch sein Gerechtigkeitssinn ihm sagte, dies junge Frauchen, das zufällig seinen Namen trug und von ihm durchaus nicht nach Gebühr zufrieden gestellt worden war, hätte noch allerlei gut an Daseinsund Liebes-Erfahrungen, war sein altmodisches Herz beschwert und wund. Zumal Magdas Geschmack, was ihr Vergnügen an Tanzpartnern betraf, dem seinen völlig entgegengesetzt war. Je grüner, unbedeutender, arroganter so ein Fant aussah und sich gab, desto größere Chancen hatte er bei ihr. Der verfluchte Tanz schien alles, bisher unterirdisch in Schranken gehaltene, Ordinäre ihrer Natur freizumachen und auf die Spitze zu treiben. Franz parierte, fraß es in sich hinein, war Märtyrer, aus Prinzip, weil er nicht mehr zurück konnte. Duldete es, daß sie irgendeinen ungebildeten, flachen Chargenspieler angeschleppt brachte, ließ dessen Geschwätz über sich ergehen, nachher durfte Magda ihn einladen, er saß noch lange nachts in ihrer Wohnung, weiß der Teufel, ob sie ihn nicht abknutschte, wenn Franz in die Küche ging, einen Grog machen oder eine Flasche Bier holen. Jedenfalls benahm der Jüngling sich höchst flegelhaft gegen den Hausherrn, lachte Magda über jeden seiner peinlichen Kalauer, kam Franz sich belämmert vor, und wenn er den Jüngling endlich früh um vier hinuntergeleitete, war ihm nur noch klar, daß er wenige Stunden später unausgeschlafen, mit einem großen Zorn im Bauch, ins Büro der Vereinigten Tischler mußte.
Als jetzt, für eine Weile wenigstens, das Militärische selbst in dieser Stadt seine Vormachtstellung verloren hatte, siegte in der Neigung romantisch gestimmter, erlebnishungriger Mädchen und Frauen unbedingt wieder das Personal des Stadttheaters. Dora Klamm hatte als ehemaliges Mitglied noch Verbindung mit dem Kunstinstitut, und die Herren des Ensembles beehrten ihre Gesellschaftsabende mit ihrem Besuch. Nicht ohne Nutzen, denn zumeist ergab sich auf dem nicht reizlosen Umwege über eine noch knusprige Mama oder eine grad flügge Tochter die ersprießliche Verbindung mit einer einflußreichen Honoratiorenfamilie. Karkers waren gar keine Honoratioren, aber für knapp besoldete, nicht verwöhnte Provinzkomödianten im Anfangsstadium als kostenlose Quelle für Speise, Trank und erotische Kurzweil benutzbar. Grade weil es sich um sogenannte Künstler handelte, fühlte Franz sich erst recht verpflichtet, sich großzügig zu zeigen, ihnen zu beweisen, daß er kein Banause sei! Und im Grunde waren Magdas Extratouren, solange es bei den Gelagen mit dem kleinlich schmarotzenden Mimenvölkchen blieb, doch harmlos, berührten sie kaum Karkers Gatten- und Mannesehre, schädigten sie mehr seinen Geldbeutel und seine Arbeitsfähigkeit. Daß die Sache, weiter, ins wirklich Tragische, und zur Katastrophe getrieben wurde, das verursachte die Einmischung Elfriedes.
Auch sie hatte Dora Klamms Abendveranstaltungen besucht und sich dort eine drastische Orgie versprochen. Darin war sie allerdings enttäuscht worden, dieser dürftige Poussier-Stall konnte ihr nichts Befriedigendes bieten. Aber sie sah Magda, entdeckte in ihrem Gehaben etwas, was der eigenen Vergangenheit nahestand, ahnte das gleiche sinnliche Schicksal, halb geweckt und nur halb der Erfüllung nahe gekommen zu sein. Sie sah Herrn Franz Karker, hielt ihn für die zugehörige Null, die keinerlei Schwierigkeiten machen konnte und überhaupt nicht in Frage käme. Sie verstand es, mit dem Ehepaar bekannt und sogar vertraut zu werden. Franz wie Magda hatten doch Respekt vor der einst reichen Kaufmannsfrau und dem Legendenduft, der um ihr teils verruchtes, teils trauriges Schicksal war, Magda mehr lüstern schnuppernd, Franz mehr literarisch. Elfriede spürte sofort, wieviel sie hier galt, sonnte sich in dieser Hochachtung, es war ihr eine Genugtuung für die geringschätzige Art, mit der sie sich von Paula behandelt fühlte. Und bald überkam sie der Ehrgeiz, hier ganz überlegen Lebensregisseur zu spielen. Sie wurde nach den dürftigen Abenden bei Dora Klamm in Karkers Wohnung mitgenommen, sah, wie unzulänglich die schäbigen Mimen sich da benahmen, wurde an das blamable Jugenderlebnis mit dem Versager René Casati erinnert und erst recht in der Absicht bestärkt, Frau Magda bessere Genüsse zu vermitteln.
Ein guter Kunde von Paulas zweideutigem Geschäft war der Kommissionär Budisko. Man wußte nicht, woher er kam, welcher Landsmannschaft und Rasse er angehörte, welcher Art seine Geschäfte waren. Aber er hatte sichtlich Glück, was den finanziellen Ertrag betraf, und galt, ohne daß jemand triftige Gründe dafür beibringen konnte, als anrüchiger Händler. Es kam damals bei allen, die einen Sündenbock für die allgemeine Niederlage und die selbstverschuldete Erfolglosigkeit brauchten, das Schimpfwort »Schieber« auf. Budisko wurde so genannt von verbitterten Witwen, versoffenen Zahnärzten, unbegabten Ingenieuren, mindren Provinzhändlern, ehemaligen Leutnants, die sich im Fortgang ihres glanzvollen Faulenzertums gehindert sahen, und verantwortungslosen Schreibern, die jedes Klischee gierig aufgriffen. Paula aber fühlte sich zu den Beschimpften hingezogen, in gewissem Sinne mit ihnen solidarisch. Ihr imponierte es, wenn so ein Mann sich die Dummheit ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. I
  4. II
  5. III
  6. IV
  7. V
  8. VI
  9. VII
  10. VIII
  11. IX
  12. X
  13. XI
  14. XII
  15. XIII
  16. XIV
  17. XV
  18. XVI
  19. XVII
  20. XVIII
  21. XIX
  22. XX
  23. Über Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen