In Ungnade - Band I
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In Ungnade - Band I

  1. 282 Seiten
  2. German
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In Ungnade - Band I

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Über dieses Buch

Aurel Heusch von Buchfeld kniet fassungslos vor der Leiche seines geliebten Stiefbruders Ortwin von Dahlen, des jüngsten Offiziers des Garde-Grenadier-Regiments. Erschossen, von eigener Hand. "Ich sterbe freiwillig, weil ich das Leben, das grausam vergiftete, nicht mehr ertragen kann" – das waren seine letzten Worte gewesen. Aber wer oder was hatte dem Bruder das Leben so grausam vergiftet? Feinde? Oder gar eine Frau? Immerhin lautete bereits die Devise des sterbenden Ahnherrn der Familie, des Junkers Kunibert von Dahlen: "Bin ich ein Schandbub, daß ich ein Weib verrate?" In Aurel verdichtet sich der Gedanke zur Gewissheit, dass Ortwin um einer ungenannten Frau willen sterben musste, und er schwört sich, sie zu suchen und zu finden, "er wird mit ihr abrechnen über diese Stunde, er wird rächen, was sie an dem Toten und an ihm verschuldet hat". Doch auf dieser Suche muss er erfahren, dass der Bruder, der vor ihm doch kein Geheimnis zu haben schien, ihm doch viel mehr verheimlicht hat, als das Aurel je für möglich gehalten hätte. Oder ist der unverdorbene junge Mensch gar "das Opfer der raffiniertesten und nichtswürdigsten aller Intriguen geworden"? Die Spur führt hin zur geheimnisvollen Gräfin Judith Vare, und es ergeben sich Rätsel über Rätsel...-

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Information

Jahr
2017
ISBN
9788711469941

VII.

Nein: ich halte Stand! Das Spiel wird ausgespielt!
(Der Spieltisch.)
Es war ein recht unwirtliches Wetter. Der Wind jagte die Schneemassen durch die Luft, und der Mond versteckte sich so eilig hinter den aufsteigenden Wolkenballen, als dächte er: Wer geht bei solchem Wetter vor die Thür? Heute braucht kein Mensch eine Leuchte zu abendlichen Promenaden! Aber er irrte sich. Quer durch die weiss verschneiten Parkpfade tanzt eine rötlich leuchtende Laterne wie ein abenteuerlich Irrlichtflämmchen. Ein Diener in langem Livreemantel trägt sie, und wie er ihre Strahlen sorglich auf den Pfad leitet, treffen sie gleicherzeit die hinter ihm schreitende, in einen grossen Mantel gehüllte Frauengestalt.
Gräfin Vare! Sie hält den Schirm tief nach vorn, gegen Wind und Hagelschauer anzukämpfen. Die Enden ihres weissen Spitzentuches wehen lang von ihrem Haupte zurück, und zeitweise entringt sich der Pelzmantel ihren zusammenhaltenden Händen, gleich wie die schwarzen Flügel eines bösen Engels leis rauschend aufzusteigen. Der Diener springt zu und ist seiner Herrin behilflich, die zierliche Gestalt wieder in die verbrämten Seidenfalten einzuwickeln, und derweil ist die Laterne am Verlöschen, und von den Parkbäumen bricht das morsche Reisig nieder und fegt bedrohlich durch die Luft. Es ist ein ungemütlich Wandern.
Wo sich die Säulenhallen nach dem grossen Schlossportal erheben, wo im Lichterglanz eine Menge von Passanten, grossherzoglichen Beamten, Dienerschaft und Leuten, die Pflicht oder Neugierde zum Schloss treibt, auf und nieder eilen, lässt es sich gut und bequem gehen, dennoch verschmäht die Legationsrätin diesen Weg. Durch Sturm und Dunkelheit, auf heimlichen Parkpfaden huscht sie wie ein Schatten dem alten Seitenflügel des mächtigen Herzogsbaues zu. Unter Epheu und Kletterrosen, deren entblätterte Ranken das alte Gemäuer peitschen, liegt eine dunkle, geschnitzte und spitzbogige Pforte! Breite Metallbeschläge schmücken die wuchtige Thür, welche sich einteilig in den rostigen Angeln dreht, ein in Steinen gesetztes Doppelwappen, ausgewaschen von Schnee und Regen und fast zur Unkenntlichkeit abgetreten, bildet in breitem Quader die Schwelle.
Der Laternenschein flackert darüber hin, und der Diener empfängt aus den Händen der Legationsrätin den uralten, riesenhaften Schlüssel und öffnet. Judith schaut an dem winkligen Gemäuer mit den zahllos vorspringenden Ecken und Giebelchen, Holzaltanen und Türmchen empor. Dunkel und grabesstill. Nur am Himmel ein gelbdunstiger Schein, wo die Wolkenkolosse vor dem Mond vorüber jagen. Wie ein Geisterschloss hebt sich der alte Bau dagegen ab.
Die Thür öffnet sich, und ein Windstoss fährt heulend in den schmal gewölbten Gang hinein. Welkes Laub wirbelt auf, und über den gezausten Epheuranken schmettert eine Holzschalter gegen die Wand zurück.
Judith nimmt gleichmütig die Laterne und reicht dafür den Schirm. „Um elf Uhr erwarten Sie mich wieder hier!“ sagt sie, und dann knirscht die Wappenschwelle unter ihren schmalen Fusssohlen, und die Thür wuchtet unter dem Zwang eines alten Steingewichts hinter ihr zu.
Wie still, wie öde, wie unheimlich! Aber Judith fürchtet sich nicht. Sie ist nicht nervös und hat diesen Weg schon ungezählte Male zurückgelegt. Die Laterne in der Hand schreitet sie vorwärts. Ihr Kleidersaum, schwer seiden und etwas schleppend, ist jetzt hernieder gelassen und knirscht auf den Steinfliesen, das unsichere Licht malt lang zitternde Schatten an die grau getünchte, von Spinnweben verschleierte Wand.
Wo die Stufen emporführen und der Bogengang eine Wendung macht, steht ein weisses Steinbild, welches vor ungezählten Jahren den Park geschmückt. Judith hat es schon gar oft mit gleichgültigem Blick gestreift, wenn sie eilig vorüberhuschte; heute schrickt sie jäh auf, da es vor ihr aus dem Dunkel taucht. Ein sterbender Krieger. Just im Zusammenbrechen, da ihn die Kugel traf. Die eine Hand krampft sich auf der Brust, die andere tastet mit geballten Fingern in die Luft.
Die Legationsrätin taumelt zurück, als glaube sie, die Hand strecke sich nach ihr. Ihr Antlitz wird bleich, da sie emporschaut und der brechende Blick sie trifft. Sie hatte gerade an Ortwin gedacht. Narr, der er war, sich zu erschiessen, so ohne Grund und Ursache! Lebte er noch, hätte sie jetzt einen Feind weniger auf der Welt, vielleicht einen Freund mehr! Je nun, noch ist nicht aller Tage Abend, und wer weiss ... auch Buchfeld ist ein Mann von Fleisch und Blut — — und die, welche die Frauen zuvor hassten, küssen desto heisser, wenn sie dieselben endlich lieben!
Ein Windstoss prallt gegen ein Seitenfenster, dass es hell aufklirrt. Judith schrickt zusammen, dass die Laterne beinahe ihrer Hand entfällt. Voll Grauen huscht ihr Blick nach dem Fenster, als müsse sie ein totenbleiches, zorniges Angesicht dahinter schauen. War’s ein Faustschlag von Geisterhand? Die junge Witwe stürmt wie von Furien gepeitscht die Treppe zu dem oberen Stock empor. Sie zittert und fürchtet sich plötzlich wie ein Kind. Lächerlich! Sie will sich nicht fürchten! Und doch ... es summt ihr plötzlich vor den Ohren: „Die Toten reiten schnell!“ Sie beisst die Zähne zusammen und lacht leise auf. „Wenn sie es bei Lebzeiten gelernt haben!“ spottet sie in Gedanken. Aber sie fröstelt dabei. Wie lang ist heute der Weg! Und überall in den Ecken knistert, raschelt und huscht es! Gottlob, nun ist’s bald überstanden! Sie riegelt mit bebender Hand eine kleine Eisenthür auf und stösst sie zurück. Licht! menschenbelebte Räume! Sie hört sprechen und lachen!
Ein tiefes Aufatmen hebt ihre Brust. Sie presst momentan die Hände gegen die Schläfen. Es siedet und hämmert dahinter. Seltsam; seit eines Tages Wende hat Judith Vare kein kaltes Blut mehr.
Gas flammt an den Armleuchtern, zwischen den einzelnen Wandpfeilern, dicke Teppiche schmiegen sich um die Füsse, und ein feiner Hauch eleganten Parfüms weht durch die wohldurchwärmte Luft.
Hierher folgt keine Spukgestalt.
Das Sprechen tönt näher, zwei Lakaien biegen aus dem Hauptkorridor in diesen Nebengang ein. Sie haben die Köpfe zusammen geneigt und scheinen zu glossieren; beim Anblick der Legationsrätin fahren sie auseinander, und die beiden pomadisierten Häupter schiessen devot vornüber. Die Gräfin beachtet sie kaum. Ein Lächeln der Befriedigung spielt um ihre Lippen, als sie sich recht ostensibel an der eisernen Geheimthür zu schaffen macht, dieselbe wieder abzuschliessen. Obwohl sie den beiden den Rücken kehrt, sieht sie es doch ganz genau, welch einen bedeutsamen Blick sie wechseln, welch ein vielsagendes Lächeln diese Knechtsphysiognomien, die ewig lauernden und Skandal witternden, elektrisiert.
Nun weiss es morgen bereits die halbe, übermorgen die ganze Stadt, und ein Strom übelriechenden Wassers treibt die Klatschmühle der Basen und Gevattern. Gut so, je lauter der Spektakel, desto höher fliegt sein Schall, so hoch, dass er auch endlich Serenissimus Ohr erreichen wird. Vielleicht kann Judith Vare, an ihre Begegnung mit den Lakaien anknüpfend, heute abend noch selbst den ersten Hauch jenes misstönenden Echos zu ihm tragen. Sie hebt mit befriedigtem Lächeln das Haupt und schreitet gedankenvoll den stillen Korridor entlang. Glücklicher Zufall, sie hatte nicht gedacht, heute in ihrer eignen Angelegenheit wirken zu können, sie war ausschliesslich mit einem andern Gedanken beschäftigt gewesen, einem Gedanken, welcher momentan jedes Interesse, selbst das grösste und egoistischste ihres Lebens zurückdrängte.
Aurel von Buchfeld soll und muss in die Residenz kommen. Aber wie? Nur ein militärisches Kommando, eine eventuelle Versetzung kann es ermöglichen, und bis ihre — nur im geheimen arbeitenden Frauenhände so tief gewühlt haben, um einen völlig unbekannten, konnexions- und verdienstlosen Durchschnittsleutnant an das Licht zu graben, vergeht Zeit. Gräfin Vare aber ist ungeduldig und hat es völlig vergessen, dass gerade das Warten und Nichtmüdewerden ihre Haupterfolge im Leben gemacht haben. Schnell! es soll schnell gehn! Judith ist zum Falter geworden, den es magnetisch in sein Verderben, in die Lichtflamme lockt, zum Falter, der sich nicht mehr an die Dunkelheit gewöhnen will, seit er diese Flamme glühen sah!
Was aber nützte es, wenn Aurel auch ein umgehendes Kommando in die Residenz erhält? Er erachtet Gräfin Vare als seine Feindin und wird ihr Haus meiden. Also Mittel und Wege gefunden, ihn trotz seiner tiefen Trauer, trotz seiner Aversion gegen die geistvolle Freundin des Bruders in deren Gesichtskreis zu bannen! Wie?! wie?!
Die Legationsrätin hat lautlos eine Thür geöffnet und schreitet auf schwellenden Teppichen wie ein schwebender Schatten ungehört dahin. Zwei Gasflammen, hinter rosig gedämpften Kuppeln werfen zarten Lichtschein über ihr sinnendes, tief zur Brust geneigtes Angesicht. Sie steht vor der Thür, welche direkten Eintritt in die Privatgemächer des Grossherzogs gewährt, sie braucht den Salon, in welchem am Tage die zur Audienz Befohlenen antichambrieren und in welchem sich zeitweise die dienstthuenden Adjutanten und Kammerherren aufhalten, nicht zu durchschreiten. Es würde sie auch niemand bemerkt haben, obwohl die Hälfte der Portiere zurückgeschlagen ist. Plötzlich steht Gräfin Vare und hebt jäh das Haupt.
Ihre Hand liegt schwer und regungslos auf dem Bronzegriff des Schlosses, löst sich und zuckt zurück. Sie hat einen schnellen Blick in das Nebenzimmer geworfen und gesehen, dass der Adjutant Major Graf Zellhoff in einem Sessel liegt und just mit wahrem Aufstöhnen eines Stossseufzers die Zeitung sinken lässt.
Er gähnt und gähnt, und es bedarf nicht der Menschenkenntnis einer Legationsrätin Vare, um aus diesem Lied ohne Worte die ganze Leidensgeschichte tödlichster Langerweile heraus zu hören!
Und wieder ein Gähnen, so recht von Grund des Herzens auf!
„Tiens que je m’amuse!!“ klingt es hinter ihm mit dem feinen Auflachen sarkastischen Humors.
Er schnellte herum wie von der Tarantel gestochen, springt empor und verneigt sich mehrere Male kurz hinter einander. „Gnädigste Gräfin ... welch charmante kleine Überraschung!“ .. stottert er, und dann lacht er mit, allerdings noch etwas verlegen.
Sie schreitet in ihrer langsam graziösen Weise näher und blickt auf die Zeitung nieder. „So verzweifelt still und langweilig ist es in der Welt? Die Posaune der Frau Fama flötet ein Schlummerlied, und das Schwert unsrer Helden steht in der Ecke und macht mit dem Regenschirm Brüderschaft!“
„Spotten Sie nur, gnädigste Gräfin! Selbst die wichtigsten Händel der Welt werden langweilig, wenn man sie im Wartezimmer liest!“
Judith nahm den Schleier vom Haupt, und Graf Zellhoff sprang galant hinzu, sie dabei zu unterstützen.
„Sehr wohl. Unser Arzt für Leib und Seele hat just einen armen Patienten empfangen, und nun empfinden Sie die Stühle des ‚Wartezimmers‘ auf die Dauer als hart?!“
Der Major warf einen Blick gen Himmel und faltete resigniert die Hände. „Seit acht Uhr dociert der Landstallmeister über das neue Gestüt!“
„Aha, also ‚Kreuzschmerzen!‘ Hoffen wir, dass Sie mit Eichenlaub und Schwertern kuriert werden!“
Zellhoff lachte laut auf. „Brillant! Diese Arznei dürfte in besagtem Falle Lebenselixier sein! Aber Frau Gräfin tragen noch den Mantel? Mein Gott, wie ist das möglich?! Wer war so unaufmerksam“ ...
Judith wandte voll etwas ostensibeler Betroffenheit das Haupt zur Seite. „Nein, nein!“ sagte sie kurz, „es hat mich niemand kommen sehen. Ich habe Serenissimus eine eilige Meldung zu machen und benutzte einen Zustreckeweg.“
Sie hatte die Wimpern gesenkt, und doch sah sie auch diesmal wieder die Wirkung ihrer Worte in dem glattrasierten Gesicht des Majors.
„Wichtige Meldung? So befehlen Frau Gräfin, dass ich ...“
„Bleiben Sie! Der alte Rathenbach wird schliesslich von selber das Feld räumen müssen. Solange kann ich warten!“ Sie warf den Pelzmantel auf einen Sessel und nahm Platz. „Plaudern wir! Ist es wahr, dass sie bei Lord Penilwood die Quadrille nicht mittanzen wollen? Wie soll das fröhliche Alt-England würdig vertreten sein, wenn Ihre Reckengestalt sich weigert, die schwarze Rüstung des Löwenherz zu tragen?“
Zellhoff stand vor ihr, stützte die Hand auf die Marmorplatte des Tisches und verneigte sich abermals in verbindlichster Weise. „Ich bin ausser mir, gnädigste Gräfin! Aber leider — leider!!“ und er zuckte trübselig die Achseln.
„Nun? warum leider?“ Sie hob graziöse drohend den Finger. „Will man sich rar machen?!“
Sein vorwurfsvoller und dabei doch sehr galanter Blick tauchte in ihr Auge. „Rar machen? Bei einer Gelegenheit, wo mir vielleicht die schönste Hand —“ abermals eine Verneigung vor Judith — „voll Huld und Gnaden applaudiert hätte? Nein, gnädigste Gräfin, wenn mich nicht die tiefe Trauer um meine einzige Schwester verhinderte —“
„Trauer?!“ sie zuckte jäh empor. „Sie haben Trauer?“ Wieder eine Verneigung.
„Wie lange schon? Wann verloren Sie Ihre Schwester?“ fragte sie atemlos.
Er war sehr ernst. „Die unglückliche Frau ist vor drei Wochen auf der Insel Lussin Piccolo gestorben, ehe es möglich war, ihr einziges Söhnchen mit Missis Ashby nachzuschicken!“ sagte er leise.
Judith hatte das Haupt tief gesenkt. „Arme, arme kleine Frau!“ nickte sie voll Wehmut und reichte dem Major die Hand. „Ich nehme den wärmsten Anteil, lieber Graf, und beklage Sie von ganzem Herzen.“ Zellhoff küsste den weissen Arm über dem Handschuhrand. Einen Augenblick herrschte Schweigen. „Ich habe die Anzeige in den Zeitungen völlig übersehen, ich war so sehr beschäftigt in letzter Zeit ... und ... mon Dieu — ich sah Sie stets heiter und guter Dinge bei Tafel — wer denkt da an solch einen Trauerfall!“
Und wieder senkte sie das Haupt und blickte starr auf das flockige Bärenfell zu ihren Füssen nieder, es lag plötzlich ein Ausdruck in ihrem Gesicht, welcher nichts von Trauer an sich hatte, wohl aber sehr nachdenklich war. Sie nickte zerstreut zu der langen Erzählung des Majors, und in ihrem Auge flimmerte es mehr und mehr, ähnlich wie bei einem Suchenden, der plötzlich die rechte Spur findet. Und plötzlich, nach ein paar kurz ableitenden Zwischenfragen, hob sie mit durchdringendem Blick das Haupt. „Sie wären gewiss gern nach Lussin gereist, wissen aber, dass Königliche Hoheit das Urlaubnehmen hasst!“
„Leider Gottes!“
„Es gibt wohl kaum eine abhängigere und gebundenere Stellung als die eines Adjutanten. Sie haben dieselbe nun bereits drei Jahre lang bekleidet, sind Sie des Hofdienstes nicht überdrüssig geworden?“
Zellhoff schrak förmlich aus seiner respektvoll lauschenden Stellung empor. „Gnädigste Gräfin!“ rief er fast vorwurfsvoll.
Judith drehte etwas nervös den goldenen Reif um ihr schlankes Handgelenk, ihr Auge bekam den inquisitorischen Blick, welchen man in der Gesellschaft an ihr fürchtete.
„Als guter Soldat müssen Sie sich nach dem Frontdienst zurücksehnen!“
Der Major starrte sie einen Augenblick unschlüssig an. War dies eines jener geheimnisvollen Examina, welche die Allmächtige des Hofes zeitweise über die ahnungslosen Opfer ihrer kleinen und grossen Intriguen verhängte? Dunkle Glut stieg in sein blasses, glattes Gesicht, als er hastig stotterte: „Ich glaube Zeit meines Lebens ein ebenso passionierter wie talentierter Soldat gewesen zu sein, gnädigste Gräfin, aber ich habe mich auch in den drei Jahren meines hiesigen Aufenthalts im Schlosse überzeugt, dass man seine Leidenschaft für das Militärwesen mit der treuen Anhänglichkeit und Aufopferung im Dienst seines Fürsten trefflich verbinden kann! Ich — —“
„Einbildung!“ schnitt die Legationsrätin etwas kurz und ungeduldig ab, „trösten Sie sich nicht mit solchen schönen Redensarten, lieber Graf! Als ich kam, lagen Sie hier in dem Sessel als die gähnende Verkörperung eines thaten- und inhaltlosen Lebens —! Nein .. bitte unterbrechen Sie mich nicht, ich weiss genau, was Sie sagen wollen, und gebe Ihnen die Antwort auf ihren Einwurf, es gibt in jeder Lebensstellung solch öde Stunden! Wohl wahr, nur nicht so viele! Sehen Sie in den Spiegel, mein verehrtester Freund! Als ich Sie vor drei Jahren zuerst sah, waren Sie das Urbild aller Ritterlichkeit! Schlank, elastisch, eine tadellose Reiterfigur, die mir auf dem feurigen Vollblut einen unvergesslichen Eindruck machte.“
Zellhof war abermals dunkelrot, diesmal vor Entzücken, denn die Eitelkeit war seine Achillesferse; er verneigte sich voll geschmeichelter Hast, Judith aber fuhr scherzend fort: „Und nun? Noch drei Jahre — o was sage ich! ein Jahr noch, und der Richard Löwenherz ist ein Fallstaff geworden!“
„Oh! oh!! oh!!!“
„Dieser Stossseufzer ist Vorrecht der Lady Macbeth! Habe ich etwa nicht recht? Da hängt geschliffen Glas! Ganzes Bataillon kehrt! Nun? nennen Sie das Taille? Nennen Sie das noch „schlank wie die Palme des Morgenlandes?“ Und das Kinn? zählt man’s doppelt oder dreifach? Nein, Gräfchen“, Judith reichte ihm voll fascinierender Liebenswürdigkeit die Hand entgegen, „es ist schade um Sie! Seien Sie schon aus Eitelkeit mehr Soldat wie Hofmann! In den Sattel zurück, als Oberstleutnant unsern Dragonern hier gezeigt, was Schneid ist! Hm? wie wär’s?!“
„Als Oberstleutnant?!“
„Selbstredend!“
„Gnädigste Gräfin hatten soeben selber die freundliche Gnade meiner Figur als Konkurrentin mit einer Biertonne aufzustellen und halten mich trotzdem für einen solchen. Springer?!“
„Man braucht ja das „springen“ nicht nur gymnastisch aufzufassen!“
„Oh dii! Wie sollte ich Ärmster es in anderem Sinne fertig bringen?!“
Judith lächelte fein: „Es kommt darauf an, wer für Sie die Stange einlegt. Unbesorgt! Ich leide und dulde es nicht länger, dass Richard Löwenherz sich auf die Bärenhaut legt! Wer den Generalfeldmarschallstab in der Tasche trägt, darf ihn nicht um eines Spazierstocks willen aus der Hand werfen!“ Judith hatte sich hastig erhoben, sie neigte sich dicht zu Zellhoffs Schulter. „Ich kenne Sie ja so gut, lieber Graf, viel besser wie je ein anderer Mensch! Es ist Unsinn, wenn die Leute Ihnen vorreden, Ihr Element sei der Hofdienst, und noch grössere Thorheit, wenn Sie es sich selber einbilden. Sie sind ein Kernsoldat! Sie sollen der Welt noch ganz andere Dinge erzählen, als ein paar Kapitel aus Mister Brummels Memoiren! Sie haben genugsam Hofluft geatmet und ihre Brust mit Souvenirs an diese schöne Zeit gepanzert, legen Sie aber den Feldherrn nicht unter all den Brillant- und den Emaillekreuzen zu Grabe! Nicht wahr, die Hand zu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kolophon
  3. I. Kapitel
  4. II. Kapitel
  5. III. Kapitel
  6. IV. Kapitel
  7. V. Kapitel
  8. VI. Kapitel
  9. VII. Kapitel
  10. VIII. Kapitel
  11. IX. Kapitel
  12. X. Kapitel
  13. XI. Kapitel
  14. XII. Kapitel
  15. XIII. Kapitel
  16. XIV. Kapitel