Das rote Meer
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Das rote Meer

  1. 298 Seiten
  2. German
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Das rote Meer

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Deutschland steht mitten im Ersten Weltkrieg. Alle Menschen, alle Familien sind betroffen. Die Bertholdis, die in einem der schönen Vororte im Westen Berlins leben, beobachten voller MitgefĂŒhl die Menschen in ihrer Umgebung, die bereits Opfer an der Front zu betrauern haben. An ihnen und den Schwiegertöchtern ihrer beiden Söhne Rudolf und Heinz ist dieser Kelch bisher vorbeigegangen. Bis Vater Bertholdi eines Tages eine Depesche aus Frankreich erreicht: Sohn Rudolf ist bei Reims gefallen. Wie gehen die Eltern Bertholdi damit um, und wie Annemarie, die jetzt jung zur Witwe geworden ist? Und was ist mit Heinz, der als erfolgreicher Flieger im Feld steht? Es ist eine Zeit großer Herausforderungen und Entbehrungen, die einem Höhepunkt zuzustreben scheint, als im November 1918 ein Meer roter Fahnen Berlin zu ĂŒberflutet. EinfĂŒhlsam beschreibt die Autorin diese insbesondere fĂŒr die Frauen zu Hause unsagbar schwierige Zeit.-

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Information

Jahr
2017
ISBN
9788711466780

III

Sie hatten Rudolf heimbekommen. Seine junge Frau ging nun in Schwarz; ihr Witwenschleier wehte lang, auf dem vollen Haar sass der Schnebbenhut mit dem weissen Vorstoss. Annemaries rundes Gesicht war schmaler geworden; erst hatte sie kaum essen mögen, ĂŒberhaupt nichts sehen noch hören wollen. So jung noch und schon Witwe! Sie hatte ganz vergessen, was sie und Rudolf in ihrer ersten Verliebtheit sich anscheinend völlig klar gemacht hatten, was sie ihrer Mutter auf deren banges: ‚Wenn er nun fĂ€llt?‘ geantwortet hatte: „Wenn ich ihn nur habe, nur ein einziges Jahr!“ So schwer hatte sie sich das Witwesein doch nicht gedacht. Das Leben schien auf einmal aus.
Aber nun waren die ersten schwersten Wochen ĂŒberstanden. Noch fĂŒhrte ihr tĂ€glicher Spaziergang zum Kirchhof. Es trieben schon vereinzelte gelbe BlĂ€tter ĂŒber den HĂŒgel, den man, bevor ein Grabstein gesetzt werden konnte, mit einem Kreuz aus Holz goziert, mit Tannenreisig gedeckt und mit immer neuen frischen Blumen umstellt hatte. Sie fand ein gewisses GenĂŒgen daran, da zu ordnen und zu schmĂŒcken. „Da liegt dein armer Papa,“ sagte sie zu dem kleinen Jungen, der sie nicht verstand und ungeduldig an ihrer Hand zappelte.
„Warst du auch so lange unglĂŒcklich?“ fragte Annemarie ihre Freundin Lili.
Lili errötete und dann erblasste sie. War sie wirklich lange unglĂŒcklich gewesen? Lange genug? Das quĂ€lte sie. Auf Stunden, in denen sie voll liebender Sehnsucht an Heinz dachte, in denen ihr Herz in einer seligen GlĂŒckshoffnung klopfte, folgten andere Stunden. War sie nicht auch selig gewesen an dem Tage, der sie mit jenem anderen — ihrem ersten Mann — vereinigte? Sie hatte geglaubt, ihn fĂŒr immer zu lieben — und nun? Nein, Heinz sollte noch nicht fragen, er durfte noch nicht fragen! Noch nicht. Wenn er fragte, was sollte sie antworten? Es war etwas in ihr wie heisses Begehren und zugleich wie verzweifelte Abwehr. Noch immer war es zu frĂŒh, es durfte noch immer nicht sein.
Zur Beisetzung seines Bruders war Heinz Bertholdi gekommen, aber nur fĂŒr den einen Tag. Es war fast so, als hĂ€tten sie sich nicht gesehen. Sie standen sich am Sarge gegenĂŒber, tief erschĂŒttert. WĂ€re es nicht Roheit gewesen, an eigenes GlĂŒck zu denken? Er blickte mit einem steinernen Gesicht vor sich hin, die Augen immer starr auf die Erde gerichtet, vor ihm schluchzte die junge Witwe am Arm des Schwiegervaters, auf seinen Arm stĂŒtzte sich die arme Mutter. Lili hatte gar nicht gewagt, zu ihm hinzusehen, beharrlich blieben ihre Lider gesenkt. Nur als sie herantrat, um in die offene Gruft ihre drei Handvoll Erde zu streuen, noch immer mit gesenkten Lidern, fĂŒhlte sie es plötzlich: sie stand hinter ihm. Er wandte sich, trat zur Seite, liess sie heran. Und da sahen sie sich an. Rasch, wie verstohlen. In seinem Blick war bei allem Leid das Aufleuchten des GlĂŒcks, sie zu sehen, und eine innige Bitte. Er hatte sich dann ĂŒber ihre Hand gebeugt, sie gekĂŒsst. Ob sie etwas gemurmelt hatte von Beileid, von innigstem MitgefĂŒhl, das wusste sie nicht. Gesprochen hatte sie ihn nicht mehr; am Morgen war er gekommen, am Abend war er schon wieder fort. Sie war zurĂŒckgeblieben mit dem peinigenden GefĂŒhl: was hast du versĂ€umt! Und doch mit der Gewissheit: du konntest nicht anders.
Der Tod Rudolf Bertholdis hatte Lili tief erschĂŒttert. Alles, was sie ĂŒberwunden gewĂ€hnt, lebte wieder auf. Von dem kalten Entsetzen, das sie gelĂ€hmt, als die Trauerbotschaft eingetroffen, mitten im lustigen Spiel, blieb ihr ein Rest. Es kamen Stunden, die alle Gedanken an GlĂŒck wegfegten. Tot, tot — wer sagte ihr, dass nicht auch Heinz bald dem Bruder folgte? Jetzt war nicht die Zeit des Hoffens, jetzt war die Zeit des Entsagens. Aus seinem Grab am Monte Piano, in dem er ruhig geschlafen hatte, von AlpengrĂŒn bedeckt, stieg der tote Leutnant Rossi und suchte seine Witwe heim. Nachts trat er an ihr Bett, sprach Worte der Liebe und — Worte der Drohung. Sie warf sich rastlos hin und her, wand sich wie in körperlichen Qualen, und schlief sie endlich ein, trĂ€umte sie so lebhaft von ihm, dass sie, vom eigenen Schrei erschreckt, wieder erwachte. — —
Unten schalt Lilis Hauswirtin, die Witwe KrĂŒger: was gab die Frau Leutnant da oben denn an? Die weckte ihr noch den Jungen auf.
Des kleinen Gustav Bett stand neben dem Bett der Grossmutter. Der tat es so gut, seinen AtemzĂŒgen lauschen zu können. Wie ruhig das Kind schlief! Sie selber schlief nur wenig. Es ging ihr wie unendlich vielen anderen. Ruhig schlafen? Wer konnte das jetzt?! Die, die einen draussen hatten, bangten um den, und den anderen war es auch bang genug.
Jetzt, in diesen grauen Wintertagen, auf toter, kalter Erde, schien die Welt ganz freudenarm, die Zeit trostlos. Sollte auch das Jahr 1918 herankommen und noch immer kein Friede sein? Es ballte sich heimlich manche Faust — ‚Herrlichen Zeiten fĂŒhre ich euch entgegen‘ — ei, schöne, herrliche Zeiten! Den ganzen vergangenen Winter hatte man KohlrĂŒben fressen mĂŒssen, immer KohlrĂŒben; Kartoffeln gab’s nicht. Mittags KohlrĂŒben, abends KohlrĂŒben, morgens KohlrĂŒben wieder aufgewĂ€rmt; KohlrĂŒbensuppe, KohlrĂŒbengemĂŒse, KohlrĂŒbenmarmelade, KohlrĂŒben im Brot. Man wurde den KohlrĂŒbengeschmack ĂŒberhaupt nicht mehr los. Diesen Winter wĂŒrde es Kartoffeln geben, dafĂŒr aber gar kein GemĂŒse. Der heisse Sommer hatte alles verbrannt. Keinen Kopf Kohl, kein Pfund Spinat, kein BĂŒndchen Zwiebeln. Kartoffeln, nur Kartoffeln; ohne Fleisch und Fett wĂŒrgen sie in der Kehle. Fett! Wer hatte wohl Fett gesehen?! So wenig Fett man selber am Leibe hatte, so wenig schien auch das Vieh zu haben. Das Viertelpfund Fleisch, das man pro Kopf zweimal die Woche bekam, war zĂ€h wie Sohlenleder. Es gab nichts Fettes mehr auf der Welt. Ha, nur einmal wieder eine Schnitte Brot essen können mit Butter bestrichen oder mit Schmalz! Und womit sollte man kochen? Das Kleckschen Butter, das jeder auf seine Karte bekam, war so gut wie gar nichts, und das bisschen Margarine stank. Nach Fischtran, nach Petroleum, nach alten Knochen. — — —
„Geh man einholen,“ sagte Frau MĂŒller, bei der die Dombrowskischen Kinder in Pflege waren, zu der kleinen Minna. „Ich kann heut nich selber gehn. Brot-, Fett-, Kartoffel- und da de Lebensmittelkarte. Auf die haste Heringe zu kriegen; wir sind unsre drei, also ein und einen halben. Pass auf, dass du de Karten nich verlierst. Verlierste se, kriegste Dresche. Un du weisst, denn haben wer bis nĂ€chste Woche kein Brot, keine Kartoffeln, jar nischt. Denn musste verhungern.“
Mit dem GefĂŒhl ungeheurer Wichtigkeit verliess Minna die Stube. Sie wohnten zu ebener Erde hinten heraus, nun tĂ€nzelte sie ĂŒber den Hof. Das war doch zu schön, dass sie einmal einholen durfte, und so alleine! Der Erich wĂŒrde staunen, wenn er aus der Schule kam. Zierlich ihr kurzes Röckchen hinten noch kĂŒrzer raffend, wie sie’s bei den Damen gesehen hatte, trippelte sie ĂŒber die Strasse.
Die Strasse war schmutzig, HerbstgĂŒsse hatten den Boden erweicht. Sie wurde auch jetzt lĂ€ngst nicht mehr alle Tage gefegt; die Strassenreiniger waren im Krieg, nur die alten, durch ein langes Leben ErmĂŒdeten und zu fördernder Arbeit nicht mehr Tauglichen, waren zurĂŒckgeblieben. Kot, Papier, Überreste, was lag, das lag. Durch die Regenlachen waren viele FĂŒsse gepatscht und hatten Brei gerĂŒhrt, ein paar Pferde waren durchgetrappelt; sie hatten ihre Äpfel fallen lassen.
Im offenen Körbchen, das Minna am Arme trug, lagen die gelbe, die grĂŒne, die weisse und die rosa Karte. Sie warf ab und zu einen besorgten Blick darauf: alle noch da. Nun war sie bald am Konsumverein. Ach, vielleicht kriegte sie da einen Bonbon zu! Der Erich hatte neulich mal einen gekriegt. Ihre kleine Nase schnupperte, sie leckte sich ĂŒber die Lippen. Da gab es Bonbons, die fĂ€rbten die Zunge rot; welche waren auch so hart, dass man sie nicht durchbeissen konnte, und welche schmeckten nach Farbe, aber es gab auch welche, die schmeckten schön sĂŒss. Vor ihrer Phantasie gaukelten die Bonbons, die die Mutter ihr in den Mund gesteckt hatte, ehe der garstige Krieg war. Sie hatte lange nichts SĂŒsses gegessen; den Zucker, den man fĂŒr den Monat bekam, den brauchte die MĂŒllern zum Kochen und tat ihn sich auch in den Kaffee.
Minna stand in Sehnsucht versunken, ihr Körbchen am Arm.
Ein Bollerwagen kam angerasselt, der Schmutz spritzte nach allen Seiten. Der Kutscher, ein halbwĂŒchsiger Bengel, peitschte unvernĂŒnftig auf die Pferde, die Hufe schlugen das Pflaster, dass Funken sprĂŒhten, FĂ€sser und Kisten hopsten und polterten, — da, ein Fass kollerte vom Wagen. Krach. Das Fass war morsch, es zerbrach, der Inhalt floss auf die Strasse.
Wo kamen nur so schnell auf einmal alle die Kinder her? Und auch die Erwachsenen? Das war ja Sirup, köstlicher Sirup! Wo Wasserlachen zwischen dem holprigen Pflaster gestanden hatten, standen jetzt Siruplachen. Was machte es, dass FĂŒsse gegangen, Wagen gefahren und PferdeĂ€pfel gefallen waren! Ein Junge kniete nieder, ein anderer stiess ihn weg: „Lass mir ooch mal!“ Bald war ein Gebalge im Gange, die Kinder stritten sich. Und wĂ€hrend die Kleinen noch zankten, waren die Grossen schon am Werk. GeschĂ€ftige Hausfrauen schöpften mit Löffeln in Töpfe und KrĂŒge. Zum Backen war’s noch ganz schön, und auch wenn man’s den Kindern aufs Brot strich; die assen noch ganz was anderes. Ein Alter besann sich nicht lange, Löffel und Topf hatte er nicht, er schöpfte, sich stöhnend bĂŒckend, mit seiner MĂŒtze, der alten SoldatenmĂŒtze, die der Enkelsohn auf den Grossvater vererbt.
Minna war zur Seite gestossen worden, die Jungen waren stĂ€rker; nun hatte sie aber doch ein PlĂ€tzchen erwischt. Sie leckte und schleckte: oh, so schön sĂŒss! Ihr Mund war rundum beschmiert und verbreitert bis an die Ohren, ihre Nasenspitze braun, ihre SchĂŒrze zeigte vorn eine Traufe. Die blonden Haare hingen ihr tief ins Gesicht, als sie, auf den Hacken kauernd, sich noch tiefer bĂŒckte. Sie war heiss und rot — oh, plötzlich war’s alle! Wie sie auch tunkte, nichts mehr, nichts als das nackte Pflaster.
Wie aus einem Traum erwachend, stand Minna auf. Ihr Kleid war schmutzig geworden, ganz nass war’s, bis durch auf die Knie. Sie bekam plötzlich Angst: die MĂŒllern wĂŒrde schimpfen. Und nun fasste sie nach ihrem Körbchen; es war ihr lĂ€ngst vom Arm geglitten. Das Körbchen war noch da, umgestĂŒrzt lag’s auf der Seite, aber die Karten, die grĂŒne, die gelbe, die weisse, die rosa, die waren weg. ‚Wenn du se verlierst, denn musste verhungern —‘ „Mutter, Mutter!“ Minna erhob ein lautes Geschrei.
Warum weinte die Kleine denn so? Die Karten verloren? „Tröste dir man, Kleene,“ sagte eine Frau, deren hohlwangigem Gesicht der Jammer der Zeit seinen ganz besonderen Stempel aufgeprĂ€gt hatte: Verbissenheit, Trotz, Verzweiflung, stumpfe Ergebung. „Is ja janz ejal, ob du eene Woche frĂŒher verhungerst oder eene spĂ€ter. Krepieren duhn wer doch alle!“
Im Anzeiger wurde die Geschichte vom heruntergestĂŒrzten und aufgeschleckten Sirupfass humoristisch wiedergegeben — war das nicht sehr komisch? Aber Hermine von Voigt lachte nicht mit. So traurig waren die ErnĂ€hrungsverhĂ€ltnisse schon? Ein unheimliches GefĂŒhl ĂŒberkroch sie: was sollte werden, wenn der Krieg nun noch lĂ€nger dauerte? Ihr Mann schrieb, ein Ende sei nicht abzusehen. Was auch die Zeitungen posaunten von hoffnungsvollen Aussichten, vom Frieden, den man sich so heiss ersehnte, auf den man hoffte wie auf eine Seligkeit, ach, und den man so nötig hatte, ja, bitter nötig — man brauchte nur die Augen offen zu haben — vom Frieden redeten sie nicht mehr. Über beispiellose Siege in Italien wurde freilich gejubelt, an eine zugespitzte kritische Lage zwischen Japan und Amerika allerlei gĂŒnstige Kombinationen geknĂŒpft, ĂŒber die vergeblichen AnlĂ€ufe der EnglĂ€nder in Flandern und die unbesiegliche Abwehrkraft der Deutschen viele Worte gemacht. Der Waffenstillstand an der Ostfront hatte dem Zweifrontenkrieg ein Ende gemacht, alle ihre Kraft konnte die geniale Heeresleitung nun dem Westen zuwenden; die U-Boote fegten den Ozean rein, und doch noch kein Ende.
‚Zur Jahreswende 17!‘ Mit ernstem Blick sah Hermine von Voigt auf das Zeitungsblatt in ihrem Schoss. Wiederum eine Jahreswende! Ein kalter Schauer ĂŒberlief sie. Und doch war es um sie warm und behaglich.
Es war etwas Altmodisches in diesen RĂ€umen, etwas von Eltern und Grosseltern Überkommenes. Vielleicht waren sie gerade darum schön. Der freihĂ€ngende Pendel der goldenen Pendule auf dem Kaminsims schwang sich so emsig, wie er vor hundert und mehr Jahren sich fĂŒr die Familie geschwungen hatte; noch immer war die zarte Glasglocke, die sich ĂŒber die kostbare Uhr stĂŒlpte, die gleiche, mit sorgsamer Hand hatte die jeweilige Besitzerin sie selber abgestĂ€ubt, nie hatten rauhe Dienstbotenfinger daran rĂŒhren dĂŒrfen. Ahnenbilder in breiten goldenen Rahmen sahen von den WĂ€nden herab auf den runden Tisch, das PlĂŒschsofa und die hochbeinigen Sessel. Der klug blickende Herr im hellblauen Frack, dem die weissen Haare lang auf den Kragen fielen, und die blonde Frau im tiefausgeschnittenen, hochgegĂŒrteten Seidenkleid, die den schmalen roten Schal anmutig um die weissen Schultern trug, hatten einst aus jenen zarten goldgerĂ€nderten Tassen getrunken, die die Generalin wie einen Schatz hinter dem Glas der Servante hĂŒtete. ‚Aus Freundschaft‘ — ‚Aus Liebe‘ — ‚Souvenir‘ — ach, sie waren glĂŒcklicher gewesen, der Urgrossvater, die Urgrossmutter! SiebenjĂ€hriger Krieg, Freiheitskriege, — zur freundlichen Sage waren sie geworden. Was waren vordem Kriege gewesen? Nichts gegen diesen.
Mit einem Seufzer sah die Generalin zu den Bildern hinĂŒber. Dann las sie:
‚Die letzte Jahreswende im Krieg.‘
Schon stutzte sie: war es wirklich die letzte Jahreswende? Wer bĂŒrgte dafĂŒr? Der Kaiser? Die Heeresleitung? Der Reichskanzler? Die Minister? Immer neue MĂ€nner, neue Namen. Nie war so viel gewechselt worden in den höchsten Ämtern. Unruhig sahen die klugen Augen der Frau umher: fand sich denn nicht endlich der rechte Mann? Der Eine, der Einzige? Ihr Geist liess sie alle an sich vorĂŒberziehen. Die anderen, die Feinde, hatten doch den Einen, den Einzigen, der ihr Schicksal lenkte — mochte sein zum Guten oder zum Bösen — es war eine Hand da, die am Steuer lag und das unentwegt festhielt. Haben wir denn keinen solchen Einen, Einzigen?
Sie zwang sich, weiter zu lesen:
‚Der zahlenmĂ€ssig stĂ€rkste unserer Feinde hat die Folgerungen der Kriegslage gezogen. Das Scheitern der englischen Angriffe in Flandern und der Zusammenbruch Italiens musste die Russen vollends ĂŒberzeugen, dass sie nicht darauf rechnen konnten, die eigene Niederlage durch den Sieg ihrer VerbĂŒndeten auszugleichen. Noch sind wir nicht auf der Höhe, noch ist der Trotz der EnglĂ€nder, der Hass der Franzosen, die Überhebung der Amerikaner ungebrochen, aber wir sehen schon den Gipfel im Sonnenglanz des Friedens strahlen. Die letzten hundert Meter sollen uns nicht schrecken. Das schwere GepĂ€ck auf dem RĂŒcken, den schmalen Proviant im Beutel, aber das Herz gesund, den Blick klar auf den FĂŒhrer gerichtet, der den rechten Weg weiss, so ĂŒberwinden wir auch sie noch.‘
Werden wir?! Wie in plötzlicher Erkenntnis schreckte die Lesende zusammen. War denn das Herz gesund, der Blick klar? Wusste der FĂŒhrer denn auch den rechten Weg? Mit einem verstörten Blick starrte Hermine von Voigt vor sich hin. Was hatte sie nicht alles sprechen hören! Selbst in den Kreisen, die frĂŒher voller Patriotismus waren. Waren das noch die VĂ€ter, die im Jahr vierzehn ihre Söhne selber zu den Waffen getrieben, die MĂŒtter, die klaglos sie zum Opfer gebracht hatten? Waren das noch die gleichen MĂ€nner, die, lĂ€ngst aus der Übung und nicht mehr jung, sich doch in Reih und Glied gestellt hatten? Nicht die ErmĂŒdung durch die lange Dauer des Krieges allein war es, die sie heute so anders gemacht hatte.
Die Frau sprang auf, wie von Angst gejagt eilte sie durch die Zimmer. Vom Wohnzimmer ins Esszimmer, von dort ins Arbeitszimmer ihres Mannes; da stand sie an seinem Schreibtisch und stĂŒtzte beide HĂ€nde schwer auf. Es war ihr, als ströme von dem Platz, an dem er so oft gesessen hatte, etwas auf sie ĂŒber. Gott sei Dank, er war nie verdrossen, nie kleinmĂŒtig!
Vom Osten war General von Voigt fort, es war dort kaum mehr zu tun. Russland trug sich selber zu Grabe, es frass seine LĂ€nder, seine StĂ€dte, seine Völker auf. Die Revolution war da. Russe gegen Russe, Bruder gegen Bruder, der Untergebene gegen den Vorgesetzten. Aus den GrĂ€ben waren sie gelaufen gekommen, hatten die HĂ€nde erhoben, hinĂŒber zum deutschen Graben gewinkt: ‚Komm, komm, gut Freund!‘ Hatten Brot mit dem deutschen LandstĂŒrmer getauscht, hatten aus einer Flasche Wodki mit ihm getrunken: ‚Gesundheit! Du sollst leben! Warum Feindschaft miteinander, ich bin Mensch, du bist Mensch, unsern Acker wollen wir bauen, Gottes Sonne sehen, nicht im dunklen Graben sitzen. Russland ist gross, VĂ€terchen ist weit, wir wollen nicht lĂ€nger schiessen mehr.‘ Und sie hatten ihre Tornister hingeschmissen, ihre Flinten — wie Kinder, die hinter die Schule laufen — und hatten den, der sie antreiben wollte so wie einst mit der Knute, gutmĂŒtig grinsend zu Boden geschlagen. Nein, Russland war nicht mehr zu fĂŒrchten, und doch — wenn das Feuer nun um sich frass? Über die Steppen, ĂŒber die Brachen, ĂŒber die flachen Grenzen fegte der Wind, Funken trieb er vor sich her. Die sind gefĂ€hrlicher als lodernde Flammen, denn unbemerkt kommen sie. Sie fallen aufs HĂŒttendach, sie nisten sich ein im Stroh; ehe man ihrer recht gewahr wird, lodert die Flamme schon im Nachbarhaus.
Eine heisse Röte stieg der Frau ins Gesicht. Nur keine Angst! Ihre hohe Gestalt richtete sich energisch auf. Nicht verzagen — vom Verzagen ist nur ein Schritt zum Versagen. Verzagte denn ihr Mann? Er hatte es schwer im Westen. Nein, er blieb immer derselbe. Doch konnte man die gleiche Ruhe, die gleiche UnerschĂŒtterlichkeit, die gleiche Geduld von denen hier verlangen, die wie Lasttiere ihre Tage hinschleppten, neben der Sorge um das Leben des Mannes gepeinigt wurden von den tausend Nadelstichen der Angst: wovon satt werden? Das Leben war so entsetzlich teuer, wurde es mit jedem Tag mehr. Auch kein Schuh mehr zu bekommen, kein Strumpf, kein wollenes Kleid. Und hatte der, der sich um des Lebens Notdurft nicht in gleich schwerer Weise abĂ€ngstigen musste, es nicht doch ebenso schwer, vielleicht noch schwerer? Ihm gehen nicht alle Gedanken unter in der Sorge ums tĂ€gliche Brot, ihm bleiben noch der Gedanken ĂŒbrig — ach, zu viele! Die HĂ€nde der Frau schlangen sich ineinander.
Horch, die Glocken! Wie sonst an jedem Wochenende den Sonntag, so lĂ€uteten sie heute abend den morgenden Neujahrstag ein. Ein dĂŒnnes, erbĂ€rmliches Gebimmel. Die grosse, feierliche Glocke, die alles ĂŒbertönende erzene Stimme, wo war sie?! Herminens Augen fĂŒllten sich mit TrĂ€nen, sie fĂŒhlte sich plötzlich hilflos und verlassen.
Das MĂ€dchen kam herein. „Verzeihen Exzellenz! ’s ist ’n Mann draussen in der KĂŒche, er muss ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Kapitel I
  3. Kapitel II
  4. Kapitel III
  5. Kapitel IV
  6. Kapitel V
  7. Kapitel VI
  8. Kapitel VII
  9. Kapitel VIII
  10. Kapitel IX
  11. Kapitel X
  12. Kapitel XI
  13. Kapitel XII
  14. Kapitel XIII
  15. Kapitel XIV
  16. Kapitel XV
  17. Über "Das rote Meer"
  18. Kolophon